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Editorial Vor euch liegt die 30. Ausgabe der grundrisse. Bereits im Frühherbst 2008 gab es erste Überlegungen, unser Jubiläum als Sondernummer zur Türkei zu feiern. Dass dies ein dreiviertel Jahr später zu einem 150seitigen Wälzer geworden ist, hätten wir damals nicht zu denken gewagt. Die Redaktion jedenfalls freut sich, dass das Heft schließlich doch noch fertig geworden ist. Sowohl aus der Türkei stammende Menschen aus unserem Umfeld als auch ein besonderes Interesse von Redaktionsmitgliedern und MitarbeiterInnen der grundrisse an den politischen Verhältnissen dort, ließen uns letztes Jahr auf die Suche nach Texten für die Sondernummer gehen. Das Ergebnis haltet ihr in Händen und wir hoffen, ihr seid damit ähnlich zufrieden wie wir. Einige wichtige Aspekte hätten wir gerne im Heft drinnen gehabt, konnten aber keine AutorInnen dafür finden bzw. reichten unsere äußerst beschränkten Ressourcen in Sachen Übersetzung nicht. Diese Leerstellen sollen in der Folge kurz aufgezählt werden werden, bevor wir euch jene Artikel kurz vorstellen werden, die schließlich den Weg ins Heft gefunden haben:...weiter dose: Gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Pınar Selek Wieder einmal ist in der Türkei eine Kampagne für die feministische Soziologin Pınar Selek angelaufen, die letzte Kampagne fand im Jahr 2006 statt. Anlass der Kampagne ist, dass das seit nunmehr 11 Jahren laufende Verfahren wiedereinmal aufgenommen wurde. Die Vorgeschichte ist eine Explosion am 9.6. 1998 im Mısır Çarşı in Istanbul, bei der 7 Menschen ums Leben kamen und 127 Menschen verletzt wurden. Vier Personen wurden daraufhin festgenommen:Alaattin Öget, İsa Kaya, Kadriye Kubra Sevgi und Pınar Selek, angeklagt wegen Mithilfe bei dem vorgeblichen Bombenanschlag und Mitgliedschaft bei der verbotenen Organisation PKK. Pınar Selek wurde von der Antiterrorabteilung der Polizei nach Namen von PKK-Mitgliedern, die sie im Rahmen ihrer Arbeit an einem Buch über Militarismus und Frieden in der Türkei und Kurdistan interviewt hatte, befragt....weiter Redebeitrag, der auf der großen Demonstration am 28. März gehalten wurde:Warum wir auf dieser Demonstration einen antikapitalistischen Block bildenRedebeitrag von autonomen Feministinnen und Lesben, FrauenLesbenBlock bei der Demo am 28.März (Redaktion): Kurze Geschichte der Republik Türkei
Fuat Ercan und
Sebnem Oguz: Anti-Neoliberale
Strategien neu denken. In jüngster Zeit wird die Debatte um anti-neoliberale Strategien verstärkt geführt, vor allem seit der letzten Welle von Massenprotesten nach ökonomischen Krisen in einer Reihe von sich entwickelnden kapitalistischen Ländern. Auch das Wiedererstarken der lateinamerikanischen Linken hat zur Intensivierung dieser Debatte beigetragen. Die aktuellen anti-neoliberalen Strategien nehmen jedoch meist eher die Form von linkem Populismus und nationalem Developmentalismus an, anstelle von Alternativen, die auf einer Klassenanalyse beruhen...weiter Ilker Ataç: Die „Konservativ-liberale“ Politik der AKP in der Türkei im historischen Zusammenhang Liberale und konservative Sichtweisen interpretieren die Politik der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) als historischen Bruch mit dem Kemalismus. Nach dieser Auffassung treibt die AKP die Demokratisierung im Gegensatz zum kemalistischen Establishment voran. Die Auseinandersetzungen zwischen dem kemalistischen Machtblock und der AKP in den letzten Jahren wird aus dieser Perspektive interpretiert. In diesem Text hingegen wird argumentiert, dass die AKP eine konservative und neoliberale Politik verfolgt und insofern die repressiven und autoritären Züge in der Türkei seit 1980 reproduziert. Obwohl ihr Wahlsieg im Jahre 2002 einen Bruch markierte, steht sie doch für Kontinuität in der Staatstradition. Ihre Entwicklung wird im Folgenden aus einer historischen Perspektive analysiert....weiter
Özlem Onaran: Die Türkei in den Krisen 1994 und 2001: die
Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse Der vorliegende Text diskutiert das Wachstumsschema in der Türkei in der Post-1980er Periode mit besonderem Augenmerk auf Arbeitsverhältnisse und die Lohnentwicklung. Die Einkommens- und Lohnpolitik spielte eine entscheidende Rolle dabei, den Druck auf die Profitrate auszugleichen, der sich durch den Integrationsprozess der Türkei in die globale Ökonomie erhöht hatte. Das Wachstum der Türkei wurde zunehmend abhängig von Kapitalflüssen, die zugleich Aufschwung und Krisen – so genannte „boom-and-bust“ Zyklen – generierten, die insbesondere durch die Krisen von 1994 und 2001 in Umverteilungsschocks auf Kosten von Lohn- und Arbeitseinkommen mündeten....weiter Güneş Koç:Ein Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart Die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei lässt sich ins 19. Jahrhundert zurückführen. Die Frauen innerhalb der Istanbuler Eliten fanden in der Suffragettenbewegung nach dem englischen Modell ein Vorbild, waren aber auch auf der Suche nach einer selbstbestimmten Identität, nach einem „eigenen Weg“. Die Suche nach „einem selbstbestimmten Weg“ setzte sich in den als „zweite und dritte Welle der Frauenbewegung“ bezeichneten Frauenbewegungen in der Türkei fort. Osmanische Frauen verstanden Frauenbewegung als Rechtebewegung und als Aktivismus für Gleichheitsfeminismus, aber auch für Differenzfeminismus. Die Herausgabe unterschiedlicher Frauenzeitungen in mehreren Sprachen (osmanisch, französisch, griechisch), ihre Teilnahme an der „Jungtürkenbewegung“, an der konstitutionellen Bewegung, der Kampf um die Öffentlichkeit für Frauen, die Gründung unterschiedlicher Frauenorganisationen sowie die aktive Organisation einer Frauenbewegung waren wichtige Meilensteine für die Entwicklung der Frauenbewegung als moderne soziale Bewegung (z.B. Cakir 1996; Yaraman 2001)....weiter
Hülya Osmanağaoğlu:
Ohne Feminismus kein Sozialismus Sozialistischer Feminismus beruft sich auf die Kapitalismuskritik des Marxismus, Frauenunterdrückung kann jedoch nicht auf Klassenunterdrückung reduziert werden, sondern es muss ein eigenes Herrschaftssystem Patriarchat angenommen werden, das als ebenso grundlegend wie der Kapitalismus angesehen wird....weiter Güney Işıkara:Schulausbildung und MilitarismusDie türkischen Streitkräfte, ein wesentlicher Akteur der türkischen Politik, sowie ihre nationalistische Ideologie nehmen im Lehrplan der Gymnasien einen wichtigen Platz ein und werden im Fach „Nationale Sicherheit" unterrichtet. Alle Studierenden müssen diesen Unterricht im zweiten Jahr der Gymnasiumsausbildung zwingend besuchen. Aber nicht nur im Fach „Nationale Sicherheit“ kommen die Themen „Die Prinzipien von Atatürk“ und „Die Bedeutung der Streitkräfte“ zu Sprache. In einem weiteren Unterrichtsfach, „Die Prinzipien von Atatürk und Geschichte der türkischen Revolution“, geht es um den Verlauf des Befreiungskrieges von 1919 bis 1922, das Leben von Atatürk und die von ihm initiierten Reformen. Die Lehrpläne dieser Unterrichtsfächer werden vom militärischen Generalstab vorbereitet und von Offizieren in Uniform unterrichtet. Militarismus und Schulausbildung sind so eng miteinander verstrickt. Im Folgenden soll die Entwicklung des Unterrichtsfaches „Nationale Sicherheit“ dargestellt werden....weiter (Redaktion):Kurze Geschichte des Widerstandes in den Gefängnissen seit 1980
Emilio Modena: Politisches Asyl. In den 70er Jahren entwickelte sich in der Türkei eine revolutionäre Situation. Es gab zwischen vierzig und fünfzig marxistisch-leninistische und maoistische Gruppierungen und Organisationen, die mit verschiedenen Taktiken und Strategien gegen die sozialdemokratisch geführte Regierungskoalition unter Präsident Eçevit kämpften. Die größeren hießen „Partizan“, „Halkin-Kurtulusu“, „Dev-Yol“, „Tisip“ etc. Gleichzeitig gab es eine starke, paramilitärisch organisierte faschistische Bewegung, die „Grauen Wölfe“, die ihrerseits mit Attentaten und Terroranschlägen gegen die Revolutionäre vorgingen. Diese mussten sich zur Selbstverteidigung bewaffnen. Mit der Zeit war das Land in verfeindete Lager aufgeteilt und glich einem Leopardenfell: In einzelnen Schulen, Fakultäten, Dörfern und Stadtteilen herrschten die Linken, in anderen die Rechten....weiter dose: Frontex - nicht in der Türkei? Im Rahmen der Vorbereitungen des no-border camps in Dikili 2008 in der Türkei erhielt ich auf Fragen nach den Aktivitäten von Frontex in der Türkei stets abweisende Antworten. Diese liefen darauf hinaus, dass es, weil die Verhandlungen zwischen derEU und der Türkei stockten, hier kein Frontex gäbe. Angesichts der ortsungebundenen Einsätze dieser Europäischen Grenzschutztruppe stimmte mich das allerdings misstrauisch. Auf dem Camp änderte sich dieser Zugang durch den engagierten Beitrags der beiden polnischen AktivistInnen und der Beobachtungen der AktivistInnen aus Mitilini (Lesbos). Das im Hafen von Mitilini stationierte Frontexschiff läuft abends aus und kehrt in der Früh zurück, ohne jemals gerettete GrenzüberquererInnen mitzubringen – was die Besatzung als ihre Aufgabe ausgibt....weiter
Ebru Işikli:Die
Massenmigration in der Türkei der 1950er-Jahre vom Land in die Städte
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