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(Redaktion):Kurze Geschichte des Widerstandes in den Gefängnissen seit 1980 Die Geschichte der Kämpfe der politischen Gefangenen in der Türkei und Kurdistan hat eine lange Tradition. Die Gefängnisse sind Orte unzähliger Widerstandsaktionen und Hungerstreiks gegen einen repressiven Staat, der gegen jegliche Art von Opposition vorgeht und dabei nicht vor Folter und Mord an den 10.000 politischen Gefangenen zurückschreckt. Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 werden die Militärgefängnisse in der gesamten Türkei wieder in Betrieb genommen. Insgesamt werden zur Zeit der Militärjunta (bis 1983) 650.000 Menschen aus politischen Gründen festgenommen. Die Türkei wird vom ausschließlich aus Militärs bestehenden Nationalen Sicherheitsrat (MGK – Milli Güvenlik Kurulu) regiert. Die Gefängnisse sind bis 1983 durch Befehle der Militärs und Richtlinien des Ministeriums für Justiz verwaltet. Die Gefangenen werden während der Junta mit Gewalt aus den Gefängnissen geholt und unter Folter auf Polizei- und Militärstationen verhört. Am 24. März 1981 wird dieses Vorgehen durch das Gesetz Nr. 2439 legalisiert. Kurz vorher, am 3. März 1981 beginnen 14 PKK-Gefangene im Gefängnis Diyarbakir den ersten Hungerstreik nach dem Militärputsch. Sie protestieren damit gegen die unmenschlichen Haftbedingungen und gegen die Folter. Neben der Folter, die alle Gefangene erleiden müssen, sind Frauen einer zusätzlichen Gewalt ausgesetzt. Die Gefängniswärter zielen bei der Folter von Frauen auf ihre sexuelle Integrität ab. Auch außerhalb der Gefängnisse geht die sexuelle Gewalt weiter. Während der Transporte zu Gerichts- oder ärztlichen Behandlungsterminen sind sie immer wieder Angriffen ausgesetzt. Es werden Behandlungen vorenthalten oder Soldaten bleiben während der Behandlung im Zimmer, weshalb kein Vertrauensverhältnis zur Ärztin entwickelt werden kann. Ärzt_innen werden Ermittlungs- oder Disziplinarverfahren wegen Unterstützung „krimineller“ oder „terroristischer“ Vereinigungen angedroht, falls sie z.B. Folter oder Vergewaltigungen attestieren. Am 19. Juni 1985 wird das Gesetz Nr. 3216 verabschiedet, das eine Kronzeug_innen-Regelung einführt. Gefangene, die bereit sind, in einem Verfahren auszusagen, meistens gegen die eigenen Genoss_innen, können hiernach mit einer Hafterleichterung bzw. einer Verkürzung der Haftzeit rechnen. Entgegen den Erwartungen des Staates machen jedoch zunächst nur wenige Gefangene von dieser Regelung Gebrauch. In der Öffentlichkeit wird immer mehr über die Folter diskutiert, was der Arbeit der Menschenrechtsvereine und der Organisationen außerhalb der Gefängnisse, aber auch dem Widerstand der Gefangenen selbst zu verdanken ist. Das Parlament ist gezwungen, eine Untersuchungskommission einzurichten. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass bis 1985 in türkischen Gefängnissen 149 Menschen zu Tode gefoltert worden sind. Im März 1988 fliehen aus dem Gefängnis Metris-Istanbul 29 Gefangene auf spektakuläre Weise durch einen von ihnen gegrabenen Tunnel, der von den Gefängniswärtern unbemerkt geblieben war. Als Reaktion darauf werden in einer Nacht- und Nebelaktion alle 2.500 Gefangenen in verschiedene Gefängnisse verlegt, unter anderem auch nach Sagmalcilar-II in Bayrampaşa. Dieses Gefängnis gilt als Vorläufer der Isolationsgefängnisse in der Türkei. In allen Gefängnissen boykottieren die Gefangenen den morgendlichen Zählappell, geben ihre Identität bei Verhören nicht preis und treten in den Hungerstreik. Sie schaffen es, ihre Forderungen durchzusetzen, u.a. die gemeinsame Unterbringung der im gleichen Prozess Angeklagten. Es gibt bereits in den 1980er Jahren so genannte E-Typ-Spezialgefängnisse[1], die mit Einzelzellen ausgestattet sind, die als Strafzellen dienen. Die Gefängnisse Bursa und Gaziantep haben Kleingruppenzellen (4-6 Personen), deren Türen jedoch ständig geöffnet sind. Die Gefangenen einer Zelle können sich mit anderen einen Hof teilen und es gibt gemeinsame Küchen und Gemeinschafträume. Daher lassen sich die frühen E-Typ-Spezialgefängnisse nicht als Isolationsgefängnisse bezeichnen. Sie dienen allerdings schon dazu, die Gefangenenkollektive, die die Stärke der Gefangenen ausmachen, zu zerschlagen. Später erhalten auch die E-Typ-Spezialgefängnisse Isolationszellen und die Gemeinschafträume werden voneinander isoliert. Der Aufbau der Gefängnisse in den 1980er Jahren ermöglicht es den Gefangenen, in großen Kollektiven zu leben, in denen man sich gegenseitig helfen, unterstützen und stärken kann. In einer Zelle sind mehrere Dutzend Gefangene untergebracht, teilweise sogar nach politischen Organisationen eingeteilt. Dies ist dem Widerstand der Gefangenen zu verdanken. Die Gefangenen kochen zusammen, haben eigene Büchereien (auch wenn diese später verboten werden) und können gemeinsam Sport machen. Der türkische Staat versucht von nun an, diese Kollektive und damit die Identität der Gefangenen und ihr Leben zu zerstören. Im Jahre 1989 versuchen erneut Gefangene eine Flucht, diesmal in Eskişehir. Ihr Tunnel wird jedoch entdeckt, woraufhin die Haftbedingungen verschärft werden. Die Gefangenen treten in den Hungerstreik, in anderen Gefängnissen schließen sich Gefangene an. Nach 52tägigem Hungerstreik sterben zwei PKK-Gefangene bei der Verlegung ins Gefängnis Aydin. Allerdings haben die Gefangenen diesmal einen großen Erfolg zu verzeichnen. Das Gefängnis Eskişehir, extra für die politischen Gefangenen gebaut und mit einem Isolationstrakt ausgestattet, wird aufgrund der Proteste geschlossen. Am 16. Mai 1990 besucht eine Delegation türkischer Beamter die Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim, um die Isolationshaft made in Germany zu besichtigen. Im Jahre 1991 wird das „Anti-Terror-Gesetz“ eingeführt. Dieses Gesetz schafft den Begriff der politischen Straftaten ab und bezeichnet alle politisch motivierten Taten als „Terrorismus“. Die Amnestiedebatten, die von Seiten der türkischen Regierung geführt werden, gelten nicht für politische Gefangene. In den türkischen Gefängnissen sitzen etwa 60.000 Gefangene. Davon sind 10.000 politische Gefangene. Diese sind aufgrund der Runderlässe, aufgrund des Anti-Terror-Gesetzes und aufgrund der türkischen Verfassung von der Amnestie ausgeschlossen. Die Artikel 14 und 87 schließen Amnestie für Staatsschutzdelikte wie Separatismus, Aufstachelung durch Förderung von Unterschieden in Sprache, Rasse, Religion u.a. aus. Vielmehr erhalten die sozialen Gefangenen Amnestie. Im Sommer 1991 wird das Gefängnis Eskişehir als erstes Hochsicherheitsgefängnis mit Einzelzellentrakt eröffnet. Nachdem 2 Gefangene der Organisation Devrimci-Sol erfolgreich aus dem Gefängnis Ankara geflohen waren, werden im Herbst 1991 unter Folter 206 Gefangene aus verschiedenen Knästen nach Eskişehir verlegt. Die beiden kurdischen Gefangenen Hüsnü Eroğlu und Mehmet Yalçinkaya werden dabei ermordet. Unter der Parole „Wir werden in diese Särge nicht hineingehen!“ treten die Gefangenen von Eskişehir in den Hungerstreik und bauen Barrikaden. Nach 30 Tagen und vielen Demonstrationen außerhalb des Gefängnisses werden alle Gefangenen in ihre ursprünglichen Gefängnisse zurückverlegt und Eskişehir wieder geschlossen. Am 21. September 1995 werden 3 Gefangene beim Angriff auf das Gefängnis Buca ermordet. Im Ümraniye-Gefängnis protestieren die Gefangenen gegen diese Angriffe sowie gegen die ständigen Provokationen durch Polizei und Militär und verweigern am 4. Januar 1996 den morgendlichen Zählappell. Daraufhin stürmt eine paramilitärische Sondereinheit das Gefängnis und prügelt drei Gefangene mit Eisenstangen zu Tode, 65 werden schwer verletzt. Im ganzen Land beginnen Proteste und Solidaritätshungerstreiks. Gefängnishöfe wurden besetzt, in Bayrampaşa und Izmir-Buca werden Wärter als Geiseln genommen. Nach der erfolgreichen Flucht von vier Gefangenen aus Izmir-Buca erlässt die Gefängnisleitung eine weitere Verschärfung der Haftbedingungen, plündert deren Zellen, verprügelt die Gefangenen und schafft das Besuchsrecht von Verwandten und Anwälten ab. Das führt zu weiteren Kämpfen. Auch außerhalb des Knastes gibt es Hungerstreiks und Demonstrationen. Ugur Sariaslan, Turan Kiliç und Yusuf Bag verlieren ihr Leben. Der Hungerstreik wird nach 44 Tagen beendet, die Forderungen der Gefangenen erfüllt und das Gefängnis Ümraniye für kurze Zeit geschlossen. Nach der Wiedereröffnung am 6. Mai 1996 greift der Staat die Gefangenen im Militärgefängnis Ümraniye an, während sie von ihren Angehörigen besucht werden. 30 Gefangene sollten in das Gefängnis Gaziantep verlegt werden. Die Gefangenen wehren sich dagegen und leisten entschlossenen Widerstand. Doch die Gendarmerie und Gefängnisbeamte ermorden bei diesem Angriff 10 Gefangene. Ebenfalls am 6. Mai 1996 wird das 1991 aufgrund des Widerstandes der Gefangenen geschlossene Isolationsgefängnis Eskişehir wieder in Betrieb genommen. Die Gefängnisse Sagmalcilar (Bayrampaşa), Buca, Ümraniye und Diyarbakir sollen geräumt und die Gefangenen in andere F-Typ-Gefängnisse[2] (Isolationshaft) verlegt werden. Für die Gefangenen ist nun klar, dass der Staat vor nichts mehr zurückschrecken und die F-Typ-Gefängnisse unbedingt einführen will. Deshalb schließen sich die Gefangenen in einer Zentralen Gefängnis-Koordination (CMK) zusammen, um zentral Aktionen und Hungerstreiks organisieren zu können. Am 20. Mai 1996 treten etwa 2000 Gefangene in über 50 Gefängnissen in einen unbefristeten Hungerstreik, der ab Juli von 269 Gefangenen in Todesfasten[3] umgewandelt wird. Am 25. Juli schließen sich rund 10.000 kurdische Gefangene an. Auch soziale Gefangene führen Solidaritätshungerstreiks durch. Fünf von ihnen werden im Gefängnis Usak von faschistisch-mafiösen Gefangenen unter Duldung der Gefängnisleitung ermordet. Zwischen dem 63. und 69. Tag sterben 12 Gefangene. Nach 69 Tagen, am 28. Juli 1996, gibt der Staat bekannt, die Forderungen der Gefangenen zu erfüllen und sie nicht in Einzelhaft unterzubringen sowie das Gefängnis in Eskişehir für politische Gefangene zu schließen. Diesen Erfolg der Gefangenen kann der Staat nicht akzeptieren. Als Reaktion ermorden und verstümmeln Sondereinheiten am 24. September 10 Gefangene im Gefängnis von Diyarbakir. Den Gefangenen gelingt es also, die Einführung der Isolationshaft in der Türkei verhindern und damit weiter in Gefangenenkollektiven zu „leben“. Jedoch ist ihr Erfolg nicht von langer Dauer. 1997 beschließt der Nationale Sicherheitsrat den Bau weiterer Isolations- und Einzelhaftzellen. Der Justizminister Selçuk Oztek gibt bekannt, dass mit dem Bau von 11 F-Typ-Gefängnissen zu beginnen sei und für 6 weitere finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen. Diese stehen unter der Kontrolle der Gendarmerie und stellen militärische Sicherheitszonen dar. Am 22. Juli 1998 erlässt Justizminister Oltan Sungurlu, dass der Kontakt zwischen den Gemeinschaftszellen und der direkte Kontakt mit den Wärtern verboten sei. Es folgen Angriffe auf die Gefangenen seitens der Gefängniswärter und durch Militäreinheiten. Die Gefangenen antworten mit Barrikaden und nehmen Wärter als Geiseln. Ihre Forderungen werden erfüllt und der Runderlass zurückgenommen. Gleichzeitig wird versucht, Gefangene zu Abschwörer_innen zu machen. Dafür werden ihnen „Resozialisierungsmaßnahmen“ versprochen, d.h. keine Unterbringung in Isolationshaft. Am 26. September 1999 verübt der türkische Staat eines der größten Massaker der Gefängnisgeschichte. In Ankara-Ulucanlar werden 10 Gefangene bei einem nächtlichen Angriff von den mit Flammenwerfern, Gasbomben, Granaten, Panzern und Baggern bewaffneten Militärs ermordet und in ihren Zellen ertränkt. Die rechtliche Grundlage für die Einführung der F-Typ-Gefängnisse wird mit dem so genannten „Dreier-Protokoll“ geschaffen, unterzeichnet von den Ministern für Justiz, Gesundheit und Inneres. Alle faktisch erkämpften Rechte werden aufgehoben. Es werden Zellendurchsuchungen angeordnet, die Besuchsrechte von Angehörigen und Anwälten massiv eingeschränkt – die Anwälte müssen Durchsuchungen über sich ergehen lassen. Bei Hungerstreiks sollen Hungerstreikende von ihren „Anführern“ sofort getrennt werden. Hungerstreikende in einem kritischen Zustand sollen in ein Krankenhaus verlegt und dort zwangsernährt werden, was ab einem bestimmten Stadium des Hungerstreiks zu Verkrüppelungen und ernsthaften, irreparablen Gehirnschädigungen führt. Es sollen keine Informationen aus den Gefängnissen nach außen dringen und alle Arten von Öffentlichkeitsaktionen sind in dieser Zeit vor dem Gefängnis verboten. Es beginnt eine umfangreiche Kampagne gegen das Dreier-Protokoll und die F-Typ-Gefängnisse. Es werden Demonstrationen und Diskussionsveranstaltungen, Unterschriftensammlungen und Menschenrechtsdelegationen von Ärzt_innen, Architekt_innen, Rechtsanwält_innen und Intellektuellen organisiert. Im Jänner 2000 kündigt der türkische Staat den baldigen Beginn der Verlegungen in die insgesamt 11 F-Typ-Gefängnisse an – die Hochsicherheitsgefängnisse für Verurteilte nach dem Anti-Terror-Gesetz. Zusätzlich werden Einzelzellen in E-Typ-Gefängnissen errichtet. Daraufhin kommt es zu Protesten innerhalb und außerhalb der Gefängnisse. Hungergestreikt wird in den Gefängnissen Ümraniye, Bursa, Cankiri und Aydin. Als die Forderungen nicht erfüllt werden, schließen sich am 19. bzw. 25. November viele Gefangene in den Gefängnissen Bayrampaşa, Buca, Uçak, Ceyhan und Ankara-Ulucanlar dem Hungerstreik an, der von einigen in Todesfasten umgewandelt wird. Am 19. Dezember 2000 stürmen zeitgleich um 4.00 Uhr 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Gendarmen, darunter auch speziell ausgebildete Spezialbataillone und Eliteeinheiten der Geheimdienste, unter dem Namen „Operation Rückkehr ins Leben“ 20 Gefängnisse. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich etwa 1.150 Gefangene in 48 Gefängnissen im Hungerstreik, 300 von ihnen bereits im Todesfasten. Am Tag zuvor werden die Journalist_innen vor den Gefängnissen vertrieben und die Gefängnisse hermetisch abgeriegelt. Die Krankenhäuser werden angewiesen, Betten freizuhalten. Um Mitternacht werden sogar die Mobilfunkverbindungen von Türkcell und Telsim außer Betrieb genommen. Bewaffnet sind die Angreifer mit Präzisionsgewehren, Nachtsichtgeräten, Flammenwerfern, Panzern, Hubschraubern, Nerven-, Rauch- und Gasbomben, Bulldozern, Baggern, Vorschlaghämmern, Schweiß- und Bohrmaschinen. Über 20.000 Tränengas-, Nerven-, Pfeffer- und Rauchbomben werden in die Gefängnisse geworfen – in einem Gefängnis, in Çanakkale, alleine über 5.000. Bei diesem Angriff kommen 32 Gefangene ums Leben. In den Gefängnissen Ümraniye und Çanakkale schaffen es die Angreifer erst Tage später, zu den Gefangenen vorzudringen, die sich mit Barrikaden wehren. Mehrere hundert Gefangene werden schwerverletzt in Krankenhäuser eingeliefert oder verschleppt. 34 Menschen gelten bis heute als offiziell „verschwunden“. Zeitgleich findet eine Repressionswelle gegen Angehörige und Menschenrechtsaktivist_innen statt. Nach der Erstürmung wird der Großteil der Gefangenen in F-Typ-Gefängnisse verlegt, wo sie ihren Hungerstreik fortsetzen. Im Dezember 2001 unterbreiten die Anwaltskammern aus Istanbul, Izmir und Ankara dem türkischen Justizminister Hikmet Sami Türk einen Vorschlag mit dem Namen „3 Türen, 3 Schlösser“. Dieser besagt, dass jeweils drei Dreipersonenzellen miteinander verbunden werden sollen, sodass jeweils 9 Gefangene sich gegenseitig besuchen könnten. Für den Fall, dass Türk diesen Vorschlag angenommen hätte, wären die Gefangenen bereit gewesen, das Todesfasten zu beenden. Jedoch geht Türk nie auf diesen Vorschlag ein und hält weiter am Vorhaben fest, die Gefangenen voneinander vollständig zu isolieren. Im März 2002 veröffentlichte das „Komitee für die Verhinderung von Folter und unmenschlicher oder herabwürdigender Behandlung oder Bestrafung“ beim Europarat „vorläufige Beobachtungen“ über die türkischen Gefängnisse, die bei einem Besuch im September 2001 gemacht wurden. Unter anderem besuchten sie die F-Typ-Gefängnisse in Sincan und Tekirdağ. Entgegen den Äußerungen des Justizministers Türk stellt das Komitee fest, dass den Gefangenen weder Bibliotheken noch Werkstätten zur Verfügung stünden. Sportplatz und Studienraum dürften nur von Dreiergruppen genutzt werden, das sei keine Gemeinschaftsaktivität. Danach wird es still um die türkischen Gefangenen. Die Medien berichten immer weniger über das Todesfasten – mit Ausnahme von einzelnen kurzen Meldungen über weitere Tote. Auch die Unterstützungsaktionen außerhalb der Gefängnisse werden immer seltener. Am 28. Mai 2002 erklärt ein großer Teil der Gefangenenvertreter_innen verschiedener linker Organisationen die Beendigung des Todesfastens. Andere Gefangene setzen das Todesfasten jedoch fort. Seit dem Jahr 2004 ersetzt das Verbüßen der lebenslangen Freiheitsstrafe in Isolationshaft die abgeschaffte Todesstrafe. Diese dauert nach Art. 47 des türkischen Strafgesetzbuches grundsätzlich bis zum Tod des Verurteilten an und erfolgt im Gegensatz zur normalen lebenslangen Haftstrafe immer in Typ-F-Gefängnissen. Im Jahr 2006 wird das Gebäude der Nachrichtenagentur Associated Press in Ankara besetzt, um gegen die Isolationshaft in Typ-F-Gefängnissen zu protestieren. Der Istanbuler Rechtsanwalt Behiç Aşçı schließt sich ebenfalls dem Todesfasten an und erreicht so, dass das Todesfasten wieder in den Medien diskutiert wird. Bülent Arınç, damaliger Parlamentspräsident, trifft sich Ende 2006 mit den Familienangehörigen Aşçıs und Repräsentanten nichtstaatlicher Organisationen. Die knapp sieben Jahre anhaltende Widerstandsaktion der Gefangenen, die von behördlichen Interventionen wie Zwangsernährung begleitet wird, wird schließlich im Januar 2007 eingestellt, nachdem das Justizministerium per Erlass eine Lockerung der Haftbedingungen angeordnet hatte. In und außerhalb der Gefängnisse kommen durch das Todesfasten insgesamt 122 Menschen ums Leben und ein Großteil leidet an Dauer- oder Folgeschäden, wie etwa dem Korsakow-Syndrom[4]. Nach insgesamt 293 Tagen beendet auch Behiç Aşçı sein Todesfasten. In den Berichten des türkischen Menschenrechtsvereins İHD[5] konzentrieren sich Wahrnehmungen über Rechtsverletzungen in türkischen Haftanstalten auch im Jahre 2008 besonders auf die Typ-F-Gefängnisse. Der Erlass des Justizministeriums aus dem Jahre 2007, der den Häftlingen Kontakt untereinander im Umfang von zehn Stunden pro Woche in Zehnergruppen ermöglicht, wird demnach in keiner der Haftanstalten vollständig umgesetzt. Im Jahresbericht der İHD 2007 wird ferner über Zellenhaft, Beschränkung von Gemeinschaftsaktivitäten, Beschränkung sportlicher und kultureller Aktivitäten, mangelnde Gesundheitsfürsorge, Besuchsverbote, mehrmonatige Telefon- und Briefverbote, Verbot der kurdischen Sprache bei Telefongesprächen, Beschlagnahmung kurdischsprachiger Zeitungen, Zensur, Behinderung des Wahlrechts, Diskriminierung, Willkür, Übergriffe und vielfältige und nach Ansicht des İHD ungerechtfertigte Disziplinarmaßnahmen in den Haftanstalten berichtet. Amnesty International berichtet ebenfalls über „harte und willkürliche Disziplinarstrafen“ und über Isolation von Häftlingen in Typ-F-Gefängnissen. Im Jahr 2008 starben laut İHD insgesamt fünf Insassen. [1] Die türkischen „Typ“-Gefängnisse (A, A1, A2, A3, B, C, D, E, F, H, K1, K2, L, L1, M, T) sind genormt und werden im Gegensatz zu typlosen Strafvollzugsanstalten nach einem bestimmten, einheitlichen Bauplan gebaut.
[2] Beim Typ-F-Gefängnis gibt es 162 Zellen, wobei 59 davon Einzelzellen und 103 Zellen für drei Inhaftierte sind. Die Einzelzellen haben eine Größe zwischen 10 und 11 m² und für je zwei beziehungsweise drei Einzelzellen existiert ein Hof mit 42 oder 50 m² für den Hofgang. Die Zellen für drei Insass_innen bestehen aus 50 m². Für den Hofgang steht den Insass_innen dieser Zelle ein 50 m² großer Hof zur Verfügung.
[3] Selçuk Kozağaçlı, Anwalt von todesfastenden politischen Gefangene zum Unterschied zwischen Hungerstreik und Todesfasten: „Praktisch gibt es keinen Unterschied, sondern in dem politischen Ausdruck. Während die Hungerstreikenden jederzeit unterbrechen oder aufgeben können, setzen die Todesfastenden die Aktion so lange fort, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Das kann unter Umständen ihr Leben kosten.“ http://www.kurdistan-rundbrief.de/2001a/kr010801.htm
[4] Das Korsakow-Syndrom ist eine Form der Amnesie. Dabei kommt sowohl das Vergessen alter Gedächtnisinhalte vor als auch die Unfähigkeit sich neu Erlebtes zu merken. Die Merkfähigkeitsstörung kann so ausgeprägt sein, dass es den Patient_innen nicht möglich ist, sich Sachverhalte selbst für Sekunden einzuprägen. In ihrer Summe führen die Beeinträchtigungen des Gedächtnisses oft dazu, dass sich die Patient_innen in ihrer örtlichen und zeitlichen Umgebung nicht mehr zurechtfinden. Neben den Gedächtnisstörungen kann eine Reihe weiterer psychiatrischer Symptome auftreten. So sind Antriebsarmut, erhöhte Müdigkeit und starke Ermüdbarkeit, Euphorie und starke Gefühlsschwankungen beschrieben. Es kann auch zu Störungen der Motorik und der Sensibilität kommen, sowie zu Symptomen wie Blässe der Haut oder verstärkten Kälteempfindungen.
[5] İnsan Hakları Derneği (İHD) ist ein türkischer Menschenrechtsverein, der am 17. Juli 1986 von 98 Personen gegründet wurde. Dazu gehörten Anwält_innen, Journalist_innen, Intellektuelle, aber vor allem Angehörige von politischen Gefangenen. Er setzt sich für die Einhaltung der Menschenrechte in allen Bereichen ein. Nach eigenen Angaben hat der İHD 34 Zweigstellen und ca. 16.000 Mitglieder_innen. Sowohl die Zentrale in Ankara als auch die Zweigstellen haben je nach Bedarf Kommissionen zu bestimmten Themen wie Kurdenfrage, Frauen, Kinder, Gefängnisse und Folter eingerichtet. Seit der Gründung hat der İHD sowohl mit rechtlichen Eingriffen in seine Arbeit als auch mit direkter Gewalt von Einzelpersonen oder nationalistisch motivierten Kreisen zu kämpfen. Dazu führt der Verein auf seiner Internetseite an, dass mehr als 400 Verfahren gegen Vorstandsmitglieder_innen des Vereins eröffnet wurden. Die Gouverneure einzelner Provinzen ließen die Zweigstellen insgesamt 30 Mal schließen.
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