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Liebe Leserinnen und Leser, diese Ausgabe versucht eine Annäherung an das komplexe Thema Demokratie aus verschiedenen Perspektiven. Stefan Junker und Ewgeniy Kasakow beziehen sich in ihren Beiträgen auf die klassische Alternative zum Parlamentarismus, auf Räte und ihre historischen Ausformungen. Die Perspektive ist dabei durchaus unterschiedlich, unser Redakteur Stefan Junker möchte in der nächsten Ausgabe eine kritische Anmerkung zum Beitrag von Ewgeniy Kasakow veröffentlichen – selbstverständlich erhält Kasakow die Möglichkeit zur Erwiderung. Die Beiträge von Susan Zimmermann und G. M. Tamás haben gemeinsam, dass beide AutorInnen in Budapest arbeiten und daher mit den dortigen Verhältnissen bestens vertraut sind. Der Artikel von Zimmermann beschäftigt sich mit der aktuellen Debatte in Ungarn, ob und in welchem Ausmaß eine politische Intervention der EU gegen die autoritären Tendenzen der Regierung Viktor Orbán, die sich auch in einer Reihe von Gesetzen manifestieren, zu begrüßen oder abzulehnen sei. Die Beiträge von G. M. Tamás haben allgemeinen Charakter und versuchen das Phänomen Postfaschismus zu entschlüsseln. Auf ausdrücklichem Wunsch des Autors publizieren wir auch den bereits 2000 in englischer Sprache erschienenen Artikel Über Postfaschismus – wir danken an dieser Stelle Gerold Wallner für die Übersetzung dieser Texte. Robert Foltin nähert sich dem Thema Demokratie aus der Perspektive vergangener und zukünftig möglicher sozialen Bewegungen. Karl Reitter steuert kurze Thesen zum Begriff des Politischen – nach seiner Auffassung ein Fehlbegriff – bei. Nicht direkt zum Schwerpunkt findet ihr einen Text von Gerhard Hanloser, in dem der Autor die überhebliche und zugleich haltlose Polemik mancher linker Kreise an der Occupy Bewegung und an dem Buch von David Graeber mit dem Titel Schulden kritisiert...weiter Karl Reitter: Zwischenruf zum Thema „das Politische“ Wir befinden uns manches Mal in Situationen, die einerseits eine Intervention erfordern, zu der uns andererseits aber Zeit und Muse fehlt. Wir, die Redaktion der Zeitschrift „grundrisse“, haben unsere LeserInnen ersucht, uns Beiträge zum Thema „Demokratie“ zu senden. Wie zu erwarten gab es auch (angenommene wie abgelehnte) Beiträge, in denen über die Thematik „des Politischen“ gehandelt wurde. Die Zusendungen spiegeln nicht nur aktuelle Debatten in der Linken wieder, sondern auch jene Themen, die an Universitäten verhandelt werden. Wie zu erwarten, war auch der Begriff „des Politischen“, in scharfer Abgrenzung zum Feld der Politik, Thema. Die Hoffnung, jemand würde die Haltlosigkeit dieses Diskurses um „das Politische“ ausführlich aufzeigen, erfüllte sich nur sehr partiell. Nun stehe ich vor einem Dilemma. Für einen ausführlichen Artikel fehlt mir die Zeit, aber zum kommentarlosen passieren lassen dieses entleerten Wolkengebäudes, wiederum der Gleichmut. Es sei diesbezüglich auf die umfangreichen Ausführungen in meinem Buch „Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens“ hingewiesen. Was also tun?...weiter Susan Zimmermann: Demokratie als Exportartikel? Grenzüberschreitende Intervention im Dienste der „guten Sache“ und solidarischer Internationalismus Pressefreiheit als Imperialismus? Nationale Souveränität als Politik gegen die Demokratie? Ein Fallbeispiel, und sein welthistorischer Kontext Am 3. Jänner 2011, dem ersten Arbeitstag des neuen Jahres, erschienen wichtige ungarische Tageszeitungen, die der konservativen ungarischen Regierung kritisch oder ablehnend gegenüberstehen, mit weißem Titelblatt. Am Neujahrstag war das neue Mediengesetz in Kraft getreten, dessen Erlass wegen des antidemokratischen und autoritären Charakters der Neuregelung in Ungarn wie im Ausland einen Proteststurm ausgelöst hatte. Die linksliberale Népszabadság/Volksfreiheit stellte auf ihrem Titelblatt in allen Sprachen der EU fest: „Magyarországon megszűnt a sajtószabadság“ – „In Ungarn wurde die Pressefreiheit aufgehoben“. Die sozialdemokratische Népszava/Volksstimme erklärte in ungarischer und englischer Sprache, unterlegt von der klassisch in rot gehaltenen Darstellung eines hammerschwingenden proletarischen Kämpfers: „Pressefreiheit ist in einem Mitgliedsstaat der EU ein Grundrecht. Wir müssen unsere demokratischen Rechte in Ungarn verteidigen. Wir verlangen Pressefreiheit."...weiter Stefan Junker: Die Eroberung der Demokratie Die Diskussion über die politische Form der künftigen Gesellschaft spielte bei Kommunisten und Sozialisten, welche die Modelle der Sowjetunion, China usw. als Modelle sozialistischer Gesellschaften zurückwiesen, nur eine marginale Rolle. Häufig wurde hier Bezug auf Äußerungen von Marx und Engels genommen, welche fiktive Gesellschaftsentwürfe als utopisch zurückgewiesen haben, ohne zu bemerken, dass sich der Vorwurf der Utopie vorwiegend auf den aufklärerisch-elitären Charakter dieser Entwürfe bezog. Utopie meinte hier nicht das noch nicht wirklich gewordene, sondern das an sich Unverwirklichbare, das Unmögliche. Für unmöglich hielten Marx und Engels und nicht nur sie einen Kommunismus, der die Herrschaft einer mehr oder weniger aufgeklärten Minderheit zur Voraussetzung habe. Nichts falscher als Marx und Engels für die „letzten Aufklärer“ zu halten, gehören sie vielmehr zu den ersten, die die elitären Konzeptionen der Aufklärung grundsätzlich und materialistisch kritisierten. „Wer erzieht die Erzieher?“ lautete der Vorwurf an die Adresse der utopischen Sozialisten. Die Konzeption von Kommunismus als Wissenschaft von den Bedingungen der Emanzipation des Proletariats verstanden, verlangt die Untersuchung der Umstände und Prozesse dieser Befreiung. Die Konstruktion einer künftigen Gesellschaft, sei es als Phalanstères, als Ikarien usw. ist grundsätzlich zu unterscheiden von dem Bemühen aus dem Studium revolutionärer Erscheinungen auf die Struktur künftiger Gesellschaftsformen zu schließen. Dass sich Marx und Engels nur sehr kursorisch über eine kommunistische Gesellschaft ausließen hat nichts damit zu tun, dass sie Gedanken darüber für an sich unsinnig hielten, sondern erklärt sich aus dem Mangel kommunistischer Erhebungen und damit an Studienmaterial aus ihrer Zeit. Es verwundert darum nicht, dass gerade die Pariser Kommune Marx den reichsten Stoff lieferte, sich zu diesem Thema positiv zu äußern. Dagegen ist die Situation im 21. Jahrhundert eine völlig unterschiedliche, denn wir können heute auf mehr als zwei Dutzend kommunistische Erhebungen und Revolutionen zurückblicken, deren Erfahrungen zu verarbeiten wären. Es ist verwunderlich, dass dies bis heute nur marginal geschehen ist....weiter Ewgeniy Kasakow: Verklärt & Vergessen: Die Räte und ihre Macht Die linken Auseinandersetzungen mit der Demokratie, sind meist geprägt von Vorstellungen, es muss ja eine „echte“, „wirkliche“ Demokratie geben. Bei der Suche danach kommt die Rede immer wieder auf die Idee einer „Arbeiterdemokratie“ – und damit auf die historische Erfahrung der Räte. Seit im Frühling 1905 die streikenden russischen ArbeiterInnen zum ersten Mal die sog. „Sowety“ (Räte) zum Zweck der Streikkoordination bildeten, ranken sich bei der Linken zahlreiche Mythen um die Geschichte und das Potential dieser Institutionen. Im Folgenden sei nur zu den am häufigsten auftauchenden Themen der linken Diskussionen über die Räte kurz etwas gesagt....weiter G. M. Tamás: Über Postfaschismus Wie Staatsbürgerschaft ein exklusives Privileg wird Ich habe ein Interesse anzumelden. Die Regierung meines Landes, Ungarns, ist – zusammen mit der Bayrischen Landesregierung (ländlich in mehr als einem Sinne) – die stärkste ausländische Unterstützerin von Jörg Haiders Österreich. Das rechtsgerichtete Kabinett in Budapest versucht gerade, neben anderen Missetaten, die parlamentarische Herrschaft zu unterdrücken, indem sie lokale Behörden mit einer anderen politischen Ausrichtung als der eigenen unter Strafandrohung stellt und eifrig eine neue Staatsideologie schafft und durchsetzt, und zwar mit der Hilfe einer Anzahl von Lumpenintellektuellen[2], einige deklarierte Neonazis eingeschlossen. Sie steht in geheimer Verbindung mit einer offen und bösartig antisemitischen, faschistischen Partei, die leider auch im Parlament vertreten ist. Leute, die für das Büro des Premierministers arbeiten, betreiben mehr oder weniger vorsichtig Geschichtsleugnung im Hinblick auf den Holocaust. Das von der Regierung kontrollierte Staatsfernsehen tobt sich mit Krudem gegen Zigeuner gerichtetem Rassismus aus. Die Fans des im Land populärsten Fußballklubs, dessen Präsident ein Minister und Parteiführer ist, singen im Chor über den Zug, der bald nach Auschwitz fährt....weiter G. M. Tamás: Vorläufige Thesen zu einem System der Angst Kapital rennt rund um den Globus auf der Suche nach billigen Löhnen. Es rennt auch in die Gegenrichtung auf der Jagd nach konkurrierender Konsumentennachfrage. Es rennt Gelegenheiten für lukrative Investitionen nach. Es rennt zu Plätzen mit niedrigen Steuern. Es rennt, um stabile Regierungen oder Bürgerkriege zu finden, die nach Waffen und Waren verlangen. Außer es stolpert über nationale Grenzen, also Gesetze, rennt es mit solcher Geschwindigkeit, dass es ortsungebunden erscheint, unmöglich, lokalisiert zu werden. Es ist so schnell, dass es überall zu sein scheint, was es nicht ist. Gesetze, also nationale Grenzen, bringen nicht wirklich seine in alle Richtungen gehende, multidimensionale Bewegung zum Stillstand, seine Geschwindigkeit verschärft sich durch die fast völlige Leere des verdünnten Mediums, durch das es lautlos zischt....weiter Robert Foltin: Zur Demokratie sozialer Bewegungen Immer wieder wurde durch emanzipatorische soziale Bewegungen mehr Demokratie gefordert. In den revolutionären Phasen war es die direkte Demokratie der Räte, in den 1970ers tauchte das Schlagwort „Basisdemokratie“ auf. Die sozialen Bewegungen der letzten Jahre von unibrennt bis hin zu den Indignados zeigten sowohl eine Kritik an der Verfasstheit der demokratischen und parlamentarischen Strukturen wie auch „neue“ Formen der Demokratie. So forderten die spanischen Besetzer_innen der Plaza del Sol in Madrid (die „Empörten“,Indignados) „Demokratie jetzt“. Sie experimentierten mit Organisationsformen, die eine Beteiligung der Vielen gewährleisten sollte. Ähnliches gilt für die Strukturen, wie sie 2011 in vielen Städten durch die Occupy-Bewegung entwickelt wurden. In Österreich / Wien entwickelten sich in der unibrennt-Bewegung 2009 ebenfalls Strukturen, die das gewöhnliche Verständnis von Wahlen in Frage stellten. Anfangs konnten die Medien damit kaum umgehen, dass es keine Ansprechpersonen gab und die Pressesprecher_innen dauernd wechselten. Außerdem wurde versucht, zu gewährleisten, dass sich nicht die übliche Männerdominanz durchsetze. „Besonders faszinierend finde ich halt, dass Menschen, die sich noch nie mit basisdemokratischer Entscheidungsfindung auseinandergesetzt haben, hier plötzlich basisdemokratisch handeln und zum Teil hab’ ich auch das Gefühl, dass das auch von einem Impuls ausgeht und nicht unbedingt von einem theoretischen Hintergrund.“ (Asenbaum et.al. 2010, S. 7)...weiter
Gerhard Hanloser: Bewegung und Kritik Die Occupy-Bewegung ist sicherlich als eine der größten und breitesten sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte zu bewerten. Sie hatte internationale Resonanz hervorgerufen – bis nach China und nach Nigeria, wo sich auch eine gleichnamige Bewegung konstituierte, und sie wirkt noch jenseits des großen medialen Hypes weiter in Demokratie- und Anti-Repressionsbewegungen und in Kämpfen gegen Hausenteignungen verschuldeter Hausbesitzer. Ihr Bewegungszentrum liegt in den USA, ihren Ausgangspunkt nahm sie mit der Besetzung des New Yorker Zuccotti Parks. Wo sich viele Menschen im bestehenden Falschen auftun, ist anzunehmen, dass dieser Aufbruch noch von falschen Vorstellungen geprägt ist. Kritik ist also notwendig. Eine Kritik dieser sozialen Bewegung und ihrer prominenten SprecherInnen sollte allerdings folgendes leisten: Sie sollte die tatsächlichen Inhalte, Logiken und Grammatiken der Bewegung zum Ausgangspunkt nehmen, sowie die Auffassungen ihrer SprecherInnen adäquat darstellen....weiter
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