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Karl Reitter: Zwischenruf zum Thema „das Politische“

Wir befinden uns manches Mal in Situationen, die einerseits eine Intervention erfordern, zu der uns andererseits aber Zeit und Muse fehlt. Wir, die Redaktion der Zeitschrift „grundrisse“, haben unsere LeserInnen ersucht, uns Beiträge zum Thema „Demokratie“ zu senden. Wie zu erwarten gab es auch (angenommene wie abgelehnte) Beiträge, in denen über die Thematik „des Politischen“ gehandelt wurde. Die Zusendungen spiegeln nicht nur aktuelle Debatten in der Linken wieder, sondern auch jene Themen, die an Universitäten verhandelt werden. Wie zu erwarten, war auch der Begriff „des Politischen“, in scharfer Abgrenzung zum Feld der Politik, Thema.

Die Hoffnung, jemand würde die Haltlosigkeit dieses Diskurses um „das Politische“ ausführlich aufzeigen, erfüllte sich nur sehr partiell. Nun stehe ich vor einem Dilemma. Für einen ausführlichen Artikel fehlt mir die Zeit, aber zum kommentarlosen passieren lassen dieses entleerten Wolkengebäudes, wiederum der Gleichmut. Es sei diesbezüglich auf  die umfangreichen Ausführungen in meinem Buch „Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens“ hingewiesen. Was also tun?

Zwischen nichts sagen und ausführlich Stellung nehmen habe ich den Weg knapper Thesen gewählt. Ausführliche Belege, Begründungen und Illustrationen fehlen daher. Ich ersuche, diese Thesen bloß als Vorschlag zu lesen, wie denn die Dinge betrachtet werden könnten. Wenn es mir gelingt, meine Sichtwiese annähernd zu verdeutlichen, wäre schon viel gewonnen.

1. These: Marx hat in „Zur Judenfrage“ die institutionellen Gegebenheiten des entwickelten und gesitteten Parlamentarismus zureichend analysiert. Die bürgerliche Revolution spaltete die Verwobenheit von politischer und sozialer Herrschaft auf, der Staat (die Sphäre der politischen Herrschaft) separierte sich von der Gesellschaft (die Sphäre der sozialen Herrschaft). Beide Dimensionen sind als Herrschaftsverhältnisse für sich zu begreifen, woraus die Doppelaufgabe der emanzipatorischen Umwälzung resultiert: „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch.“ (MEW 1; 409)

2. These: Die Spaltung und Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft vollzieht sich als Spaltung und Entgegensetzung am Individuum: „Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat [durch die bürgerliche Revolution], führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist… Die Differenz zwischen dem religiösen Menschen und dem Staatsbürger ist die Differenz zwischen dem Kaufmann und dem Staatsbürger, zwischen dem Taglöhner und dem Staatsbürger, zwischen dem Grundbesitzer und dem Staatsbürger, zwischen dem lebendigen Individuum und dem Staatsbürger.“ (MEW 1; 354ff)

3. These: Die Luftsphäre des himmlischen, politischen Lebens ist insofern eine Realsphäre, als wir bei Wahlen und vor dem Gesetz tatsächlich gleich und gleichwertig handeln und behandelt werden, zumindest tendenziell, dort, wo die Trennung von Staat und Gesellschaft ihre maximal emanzipatorische Ausbildung erreicht hat. Sie ist insofern eine fiktive Sphäre, als sie die realen gesellschaftlichen Unterschiede von Geschlecht, Einkommen, Besitz, Bildung, Hautfarbe, Religion, Kultur keinesfalls aufhebt, sondern als gegeben und formbestimmend voraussetzt. 

4. These: Der Diskurs um „das Politische“ idealisiert und verabsolutiert das „himmlische“ Leben der als gleiche und gleichwertig gesetzten Akteure. Die Realabstraktion von der konkreten Lebensbasis verdoppelt der Diskurs um „das Politische“ in der Theorie. Gereinigt von allen Makeln des realen Lebensvollzuges treten dann vernunftbegabte Akteure in die politische Sphäre, die zumeist auch als Sphäre der Öffentlichkeit gefasst wird. Die Liquidation des Essentialismus ist dann eine leichte Sache. Tatsächlich ist das Luftleben der politischen, staatsbürgerlichen Sphäre von substanziellen Bezügen zu Interesse und Ökonomie, Geschlecht und Bedürfnis, Lebensnot und Lebenswirklichkeit befreit.

5. These: Als ProtagonistInnen dieses Diskurses sind wohl Hannah Arendt, Claude Lefort, Chantal Mouffe und Ernesto Laclau zu nennen. Methodisch kreisen ihre theoretischen Bemühungen um die Aufgabe, das Politische von Bezügen zur realen Lebenspraxis abzugrenzen. Bei Arendt ist die Sphäre des Handelns durch Worte und Werke strikt von der Sphäre der vorpolitischen und a-humanen Arbeit getrennt, bei Laclau und Mouffe die Sphäre der Politik von der Sphäre der Ökonomie. Bei Lefort verbinden sich politische AktivistInnen ohne Klasse und Geschlecht zur Zivilgesellschaft.

6. These: Anstatt die historisch gewordene Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft zu reflektieren, die ihrerseits so etwas wie eine fiktiv-reale Autonomie der politischen Sphäre ermöglicht, verhimmelt der Diskurs unbegriffen die institutionellen Bedingungen unserer Existenz als bloße Vernunft- und Rechtswesen. Der Poststrukturalismus kann insofern an diesen Diskurs anknüpfen und ihn weiterführen, als seine obsessive Auflösung von analytischen Trennungen und Unterscheidungen ihm den Blick auf die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft versperrt. Eine mehr republikanische Variante finden wir in der Nachfolge von Habermas, indem dem kommunikativ aufgelösten Vernunft- und Moralatom das System entgegengestellt wird.

7. These: Nicht durchgehend im Diskurs um „das Politische“, aber oftmals, kippt der Diskurs in unmittelbare Affirmation des Staates, indem die Sphäre des Politischen an die Existenz eines konstituierten politischen Gemeinwesens geknüpft wird (ohne „Gemeinwesen“, vulgo Staat, kein Politisches). Jenseits von Staat und dem Politischen gäbe es nur die Gewalt, bzw. die Hobb`schen Wölfe, die sich verwunderlicherweise auch schon mal wechselseitig vernichten. Solidarität und Empathie wird hier zur marginalen Restgröße.

Nachbemerkung: Wer von der Wiederkehr des Idealismus sprechen will, findet im Diskurs um „das Politische“ geeignete Kandidaten. Aber natürlich nimmt dort, wo die Widersprüche drängender werden auch das Bedürfnis nach „idealen Lösungen“ zu.

Literatur und Sigel:

MEW 1 = Marx Engels werke Band 1, Berlin 1965

Marx, Karl (MEW 1) „Zur Judenfrage“, Seite 347-376

- (MEW 1) „Kritische Randglossen zu dem Artikel »Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen«, Seite 392-409

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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