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Susan Zimmermann: Demokratie als Exportartikel? Grenzüberschreitende Intervention im Dienste der „guten Sache“ und solidarischer Internationalismus

Pressefreiheit als Imperialismus? Nationale Souveränität als Politik gegen die Demokratie? Ein Fallbeispiel, und sein welthistorischer Kontext

Am 3. Jänner 2011, dem ersten Arbeitstag des neuen Jahres, erschienen wichtige ungarische Tageszeitungen, die der konservativen ungarischen Regierung kritisch oder ablehnend gegenüberstehen, mit weißem Titelblatt. Am Neujahrstag war das neue Mediengesetz in Kraft getreten, dessen Erlass wegen des antidemokratischen und autoritären Charakters der Neuregelung in Ungarn wie im Ausland einen Proteststurm ausgelöst hatte.[1] Die linksliberale Népszabadság/Volksfreiheit stellte auf ihrem Titelblatt in allen Sprachen der EU fest: „Magyarországon megszűnt a sajtószabadság“ – „In Ungarn wurde die Pressefreiheit aufgehoben“. Die sozialdemokratische Népszava/Volksstimme erklärte in ungarischer und englischer Sprache, unterlegt von der klassisch in rot gehaltenen Darstellung eines hammerschwingenden proletarischen Kämpfers: „Pressefreiheit ist in einem Mitgliedsstaat der EU ein Grundrecht. Wir müssen unsere demokratischen Rechte in Ungarn verteidigen. Wir verlangen Pressefreiheit.“[2]

Tatsächlich waren in Ungarn von Seiten liberaler und kritisch-demokratischer Intellektueller, Medien und Politiker, angesichts der schier unbegrenzten Machtfülle der konservativ-autoritären Regierung Viktor Orbán, schon vor Inkrafttreten des Gesetzes Rufe nach grenzüberschreitender Intervention laut geworden. In der ungarischen Öffentlichkeit wurden die Proteste des Auslands, so namentlich die Kritik von Seiten gewichtiger internationaler NGO’s und Medienorganisationen und durch Vertreter der EU und gewichtiger Länder in der EU, schon vor Inkrafttreten des Gesetzes immer wieder in die Medien gebracht und warnend zitiert.[3] Die libertäre „politisch-kulturelle“ Wochenzeitschrift Magyar Narancs erschien schon am 2. Dezember 2010 mit blankem Titelblatt und titelte mit Blick auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Schlagzeile: „Es bleibt nur Straßburg“.[4]

Tatsächlich wurde die EU als Institution bald aktiv. Die Europäische Kommission verlangte eine Prüfung des neuen Gesetzes und schließlich die Abänderung einiger Bestimmungen. Im Europaparlament wurde das ungarische Mediengesetz wiederholt zum Anlass heftiger Debatten. In einer Sitzung im Jänner 2011 demonstrierten grüne Abgeordnete mit verklebtem Mund und hielten ihre eigene Variante der ungarischen Zeitungen mit blankem Titelblatt in die Höhe.[5] Im März wurde in Straßburg eine durch die sozialistische, grüne, freiheitliche und linke Fraktion unterstützte Entschließung angenommen, die herbe Kritik nicht nur an der ungarischen Regierung, sondern auch an der zu laschen Haltung der Europäischen Kommission übte. Verlangt wurden darin die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Medien und der Redefreiheit sowie die Aufhebung des neuen Mediengesetzes. Außerdem forderte die Entschließung die Europäische Kommission auf, die „Vereinbarkeit des ungarischen Mediengesetzes in der geänderten Fassung mit den europäischen Rechtsvorschriften, insbesondere mit der Charta der Grundrechte“, weiterhin zu überwachen.[6]

Die ungarische Regierung reagierte auf diese transnationale Opposition gegen ihre autoritäre Medienpolitik mit massiven Angriffen auf die Gegner und mit antiimperial eingefärbtem rechten Nationalpopulismus. Schon in der Jännersitzung des Europäischen Parlaments erklärte der aufgebrachte Ministerpräsident Viktor Orbán, dass Kritik in Ordnung sei, „ein Land, ein Volk aber nicht beleidigt“ werden dürften.[7] Vizeministerpräsident Tibor Navracsics erklärte im Interview mit der polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita, dass sich die Kritik am ungarischen Mediengesetz aus einem generellem Misstrauen westlicher Länder gegen die neuen osteuropäischen Demokratien speise. Außerdem beschrieb die Regierung das Mediengesetz immer wieder als „zusammengestelltes EU-Gesetz“, das ausschließlich aus Verfügungen bestehe, die es auch in anderen EU-Ländern gebe. Ungarn sei daher nur dann zu Änderungen bereit, wenn die entsprechenden Bestimmungen zeitgleich auch in jenen EU-Ländern geändert werden würden, aus dessen Gesetzen diese übernommen worden seien. Ministerpräsident Orbán ließ außerdem – unverkennbar in Reaktion auf Kritik speziell aus Deutschland und Frankreich – verlautbaren, dass er selbst niemals irgendeinen Passus des französischen Mediengesetzes kritisieren würde, nur weil sich dieser von den ungarischen Bestimmungen unterscheide.

Alles in allem hat die Auseinandersetzung um das neue Mediengesetz in Ungarn gewiss zu weiterer Verhärtung der Fronten zwischen liberal-freiheitlicher und zum Teil auch linker politischer Gesinnung einerseits, und nationaler bis rechtsextremer Weltsicht andererseits beigetragen. Dies hängt mit drei politischen Faktoren zusammen. Erstens hat Ungarn als kleines und wirtschaftlich und politisch schwächeres Land nicht erst zu EU-Zeiten die Erfahrung machen müssen, dass die Souveränität des Landes in vieler Hinsicht, bzw. wenn es hart auf hart geht, so manches Mal und in mancher Hinsicht nur auf dem Papier besteht. Zweitens hat insbesondere bei den liberal-freiheitlichen Kräften im Lande der Ruf danach, dass internationale Organisationen oder Regierungen Druck auf Ungarn ausüben bzw. sich in die ungarische Politik einmischen sollen, durchaus Tradition. Immer wieder haben insbesondere liberale, und sonstige sich als progressiv verstehende, Kräfte den Blick nach außen gerichtet, wenn sie sich daran abarbeiteten, wie die hehren Werte und Institutionen der Demokratie, die Menschenrechte, etc., im Lande durchgesetzt oder verteidigt werden können. Hinter den Rufen nach Hilfe von außen steht unverkennbar der Wunsch, auf diese Weise die eigene innenpolitische Schwäche auszugleichen bzw. der eigenen politischen Ohnmacht zu entkommen. Und drittens nutzen, umgekehrt, nationale und rechtsextreme Kräfte den Ruf ihrer politischen Gegner nach derartiger Hilfe von außen immer wieder dazu, die eigenen Angriffe auf die freiheitlich gesonnenen politischen Gegner im Land als Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung der ungarischen Nation darzustellen, die sich gegen eine internationale Verschwörung von Liberalen, Bolschewiken und Juden wehren könne und müsse.

Auf den ersten Blick mag die so umschreibbare politische Konstellation in Ungarn in Sachen Mediengesetz ‚speziell‘ erscheinen. Ich möchte jedoch im Folgenden argumentieren, dass die ungarischen Verhältnisse zugleich Züge einer historisch ebenso wirkungsmächtigen wie dominanten, globalen Konstellation und Auseinandersetzung tragen. Gemeint ist damit die lange Geschichte der grenzüberschreitenden Interventionen, die in einer Welt ungleicher internationaler Beziehungen stattgefunden haben, und die, ein wenig ironisch, als Interventionen im Dienste der „guten Sache“ bezeichnet werden könnten. In den verschiedenen Zeitabschnitten der Moderne wurden diese Interventionen – die sich, von politischem Druck über ungleiche Verträge bis zum „humanitären“ militärischen Eingreifen, der unterschiedlichsten Mittel bedienten – durch ein breites Spektrum an Zielen gerechtfertigt. Historisch am weitesten zurück reichten dabei die Aktivitäten der christlichen Mission, der es um die Rettung der „verlorenen Seelen“ und um die „Zivilisierung“ der „Barbaren“ ging. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zog man gegen den Sklavenhandel und die Sklaverei zu Felde. Im 19. Jahrhundert kamen verschiedene weitere Erscheinungen hinzu, die als Mangel an Zivilisation gedeutet wurden, darunter die Polygamie oder das Menschenopfer. Der Aufstieg einer sich verallgemeinernden Doktrin der „Menschenrechte“ begann in der Zwischenkriegszeit. Nun wurden nicht mehr die europäischen „Mächte“, sondern die „Völkerfamilie“ bzw. heute die „internationale Gemeinschaft“ als jene Akteure angerufen, die – in erster Linie – die Verantwortung dafür wahrzunehmen hatten, sich überall auf der Welt um die Einhaltung der jeweiligen Doktrin zu kümmern.

Seit den 1990er Jahren spielt nun, gemeinsam mit den Menschenrechten, die Durchsetzung von Werten und Institutionen der „Demokratie“ bei der Begründung von grenzüberschreitenden Interventionen eine immer wichtigere Rolle. Die hegemoniale Argumentation hat sich seitdem in bedeutsamer Weise weiterentwickelt. In der Blütezeit der „humanitären Intervention“ der 1990er Jahre wurde stets diskutiert, ob, unter welchen Bedingungen, und unter Bezugnahme auf welche Menschenrechtsverletzungen eine Verletzung der Souveränität des betreffenden Staates durch Intervention von außen zu rechtfertigen sei bzw. völkerrechtlich gerechtfertigt werden könne. Heute hat dem gegenüber das Konzept der „Responsibility to Protect“, kurz R2P, nach dem die „internationale Gemeinschaft“ in bestimmten Fällen von Menschenrechtsverletzungen vor Ort zum Eingreifen nicht nur aufgerufen, sondern unmittelbar verpflichtet ist, den Status einer hegemonialen Doktrin erlangt. Der Problemkreis der Rechtfertigung von Einmischungen in innere Angelegenheiten von Staaten, und der Verletzung des Souveränitätspinzips, wird damit gleichsam ausgeklammert.[8]

Es gibt gute Gründe, all die hier aufgezählten Politikvarianten unter einem nur scheinbar schwammigen Begriff wie dem der grenzüberschreitenden Intervention der „guten Sache“ (die ihrerseits, wie gesagt, formal viele Spielarten kannte und kennt) zusammenzufassen. Denn diese Politiken beziehen sich tatsächlich auf ein geradezu unglaublich wandlungsfähiges Spektrum zu bekämpfender Phänomene bzw. zu befördernder Werte und Institutionen. Zusammengehalten werden diese Politiken (hinsichtlich der Werte, die sie vertreten) nur durch zweierlei. Erstens statten sie sich selbst stets mit dem Nimbus der moralischen, zivilisatorischen oder humanitären Überlegenheit aus.[9] Und zweitens würden sich (würden sie danach befragt) tatsächlich vergleichsweise wenige Menschen, Institutionen, Organisationen oder Regierungen klar gegen jene „guten“ Werte aussprechen, die in einer bestimmten Epoche dominant sind; und wenige würden sich, umgekehrt, direkt und lautstark für die entsprechenden „schlechten“ Praktiken, gegen die es gehen soll, stark machen.

Im folgenden diskutiere ich zunächst die grundsätzliche politische Logik und die argumentativen Fallen der Auseinandersetzungen um das pro und contra grenzüberschreitender Interventionen im Dienste der guten Sache. Sodann beschreibe ich bestimmte Kennzeichen dominanter Formen der grenzüberschreitenden Intervention im Dienste der guten Sache in Vergangenheit und Gegenwart. Ich argumentiere, dass die Tatsache, dass es so schwer fällt, sich im Dickicht der  politischen Auseinandersetzungen um die grenzüberschreitende Intervention im Namen der guten Sache zu positionieren, mit diesen Merkmalen zusammenhängt. Abschließend beschäftige ich mich – und dabei komme ich wiederum auf das ungarische Beispiel zurück – mit linken Traditionen und Perspektiven im Umgang mit der Problematik der grenzüberschreitenden Intervention.

Demokratisierung und grenzüberschreitende Ungleichheit und Machtbeziehungen …

Argumentativ und politisch ging und geht es bei der Auseinandersetzung um die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache im Kern um die Beziehung zwischen der Selbstpositionierung der unterschiedlichen Akteure bezüglich des Problems ungleicher internationaler Machtverteilung einerseits, und bezüglich des jeweiligen Reformanliegens – also der guten Sache – vor Ort andererseits. Vereinfacht und schematisch zugespitzt treffen in der Auseinandersetzung um diese beiden Achsen der Ungleichheit vier mögliche Positionen aufeinander. Hinsichtlich der Achse globale Ungleichheit geht es dabei um pro- versus antiimperialistische Positionen, hinsichtlich der Achse Politik vor Ort geht es um Vertretung bzw. Ablehnung der guten Sache. Drei Faktoren haben Einfluss auf die Gestaltung der entsprechenden Auseinandersetzungen.

Erstens kommt keiner der beteiligten Akteure umhin, sich bzgl. beider Achsen zu positionieren. Da ein Durchspielen aller möglichen sich dabei ergebenden Kombinationen zu viel Platz in Anspruch nehmen würde, beschränke ich mich im folgenden zunächst auf die Einordnung der im ungarischen Beispiel bereits genannten Positionen. Der Ruf nach Intervention der EU zum Zwecke der Redemokratisierung des Mediengesetzes etwa kann verstanden werden als eine Selbstpositionierung, die grenzüberschreitende Machtstrukturen innerhalb der EU dazu nutzen will, die gute Sache in Ungarn durchzusetzen. Die ungarische Regierung ihrerseits kombiniert (moderate) Kritik an diesen Machtstrukturen mit ihrer Politik der schlechten Sache zuhause in Ungarn.

Zweitens müssen sich alle Akteure, wie aus den genannten Beispielen bereits hervorgeht, der Frage stellen, ob und welche Priorität sie dem Handeln im Dienste der gewählten Position entlang der einen Achse im Vergleich zur anderen Achse einräumen. Verfechter der EU-Intervention etwa räumen, ganz egal ob sie imperialistisch oder antiimperialistisch gesonnen sind (oder ob ihnen die Problematik der globalen Ungleichheit nichts bedeutet oder nicht bewusst ist), der Durchsetzung der guten Sache vor Ort auf jeden Fall Priorität ein.

Zum dritten schließlich bieten sich in der Auseinandersetzung um die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache zahlreiche Möglichkeiten, Vertreter*innen abweichender Positionen diskursiv auszumanövrieren. Hier wird in aller Regel versucht, die Position politischer Gegner zur einen Achse gegen deren vermeintliche oder tatsächliche Haltung bezüglich der anderen Achse auszuspielen – etwa indem man ihnen, wenn sie ihre Position bezüglich der einen Achse darlegen, eine bestimmte Position zur anderen Achse unterstellt. Als ich Anfang 2011 gegenüber dem ehemaligen leitenden Redakteur einer großen linksliberalen Tageszeitung meine – in einer Reihe konkreter Überlegungen begründeten – Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Rufes nach EU-Intervention äußern wollte, konnte ich nicht einmal den ersten Satz zu Ende bringen. „Möchtest Du, dass die Verhältnisse in der Welt der Medien hier in Ungarn noch schlimmer werden als unter Berlusconi in Italien?“, fuhr er mir über den Mund. Ich war ‚baff‘, und wenn sich mein 2010 erschienenes Buch (siehe Anm. 1) nicht mit den argumentativen Fallen und Tricks der Diskussion um grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache beschäftigen würde, hätte ich gewiss länger gebraucht, um eine Antwort zu finden, die den Eintritt in eine ernsthafte Diskussion dann doch ermöglichte. So aber stellte ich nach einer ersten Schrecksekunde meinem alten Freund schlicht die Frage, ob er denn überhaupt wissen wolle, was eigentlich meine Position zum neuen ungarischen Mediengesetz sei? Und ob er tatsächlich glaube, dass ich eine Medienpolitik wie die des Silvio Berlusconi für sympathisch oder auch nur akzeptabel erachte? Natürlich nicht, war die Antwort. Und so konnte ich dann klarmachen, dass eine konstruktive Diskussion über die Ungleichheitsbeziehungen und Machtverhältnisse, die grenzüberschreitender Intervention im Dienste der guten Sache so oft eingeschrieben sind, unmöglich ist, solange Kritiker*innen dieser Machtverhältnisse unterstellt wird, dass sie damit – motiviert durch ihre antiimperialistische Haltung – ungleiche Machtverhältnisse und antidemokratische Zustände vor Ort (in diesem Fall in Ungarn) rechtfertigen oder wenigsten passiv hinnehmen wollen. Die Einsicht, dass sich die ungarische Regierung, die jede Kritik an ihrer antidemokratischen Medienpolitik mit dem Verweis auf die immerwährende imperialistische Verschwörung gegen das arme Ungarnland abzuwürgen versucht, einer sehr ähnlichen Strategie des Gegeneinanderausspielens politischer Positionen zu beiden Achsen befleißigt, war meinem Freund sehr viel geläufiger – und diese Einseitigkeit teilt er, so meine Erfahrung, mit vielen anderen Liberalen überall auf der Welt.

Doch auch wenn es in diesem Fall gelang, über politische Grenzen hinweg argumentativ in Kontakt zu treten, bleibt festzuhalten: Innerhalb jenes politischen und diskursiven Feldes, das ich bis hierher beschrieben habe, bleibt für eine links-solidarische und womöglich internationalistische Kritik der problematischen Seiten grenzüberschreitender Intervention im Dienste der guten Sache oft wenig Raum. Linke Kräfte, die dem Antiimperialismus Priorität einräumen, sehen sich immer wieder damit konfrontiert, dass ihnen unterstellt wird, sie seien gegen jede Beförderung von Demokratie, Menschenrechten, oder Gleichstellung der Frauen, etc., durch grenzüberschreitende Politik, oder gar gegen Menschen- und Frauenrechte überhaupt. Linke Kräfte, die der Beförderung der Politik der guten Sache vor Ort Priorität einräumen, sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie sich bewusst oder unbewusst zu Söldnern des Imperialismus machten.

… als weltpolitische Konstellation in Vergangenheit und Gegenwart

Die Tatsache, dass sich links-solidarische Kräfte den bis hierher diskutierten Problemen gegenübersehen, wenn sie zu Fragen der grenzüberschreitenden Intervention im Dienste der guten Sache Stellung beziehen, ist einer Reihe von grundsätzlichen Merkmalen geschuldet, die das Feld der diskursiven und politischen Auseinandersetzung um grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache kennzeichnen. Umgekehrt können grenzüberschreitende politische Positionen und Strategien einer solidarischen Linken genau dann argumentative Stärke und politisches Gewicht erlangen, wenn sie sich gegenüber spezifischen Merkmalen der dominanten Auseinandersetzung um grenzüberschreitende Intervention offensiv kritisch positionieren. Auf diese Weise können sie das diskursive und politische Feld der Auseinandersetzung um grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache öffnen bzw. anders besetzen und verschieben.

Welches also sind die Merkmale dominanter Politiken grenzüberschreitender Intervention im Dienste der guten Sache, denen sich die Probleme einer solidarisch-internationalistischen Linken mit derartigen Politiken verdanken? Zunächst einmal können diese Politiken auf eine lange und dominante imperialistische Tradition zurückblicken. In einem brillanten Essay mit dem Titel „Whose Right to Intervene? Universal Values Against Barbarism“ hat Immanuel Wallerstein die lange Geschichte der Auseinandersetzung um diese Frage ausgehend von der berühmten Kontroverse des 16. Jahrhunderts zwischen Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda analysiert. In dieser Debatte ging es um die Rechtfertigung der spanischen Herrschaft in Südamerika als Kampf gegen die „barbarischen“ Bräuche der Indios und die Durchsetzung des Rechts auf christliche Missionierung. Wallerstein kommt zu dem Schluss, dass „seitdem nichts gesagt“ wurde, was der Debatte um die Durchsetzung universeller Werte durch grenzüberschreitende Intervention „irgendetwas wesentliches hinzugefügt hat“.[10] Das Gewicht von Politiken der grenzüberschreitenden Intervention in der globalen Auseinandersetzung allerdings hat gerade in den letzten Jahrzehnten (neuerlich?) massiv zugenommen, und die sich wandelnden Argumentationsmuster spiegeln die (wieder einmal?) zunehmende Aggressivität und Selbstherrlichkeit der Proponent*innen dieser Politiken deutlich wieder. So sehen beispielweise Vertreter*innen der herrschenden Politiken der humanitären Intervention, der „Responsibility to Protect“, und der internationalen Menschenrechts- und Demokratiepolitik, immer weniger Anlass dazu, die Verwicklung dieser Politiken in die Traditionen imperialer Intervention unsichtbar zu machen oder herunterzuspielen, im Gegenteil. Es ist deutlich zu beobachten, dass in immer offensiverer Form positiv auf die die Machtverhältnisse im internationalen System Bezug genommen wird, wenn es darum geht, die Expansion massiver Varianten der grenzüberschreitenden Politik der guten Sache argumentativ abzusichern.

Die Argumentation von Fred Abrahams von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, der spezialisiert ist auf die Durchsetzung von Menschenrechtne in bewaffneten Konflikten, ist dafür ein gutes Beispiel. In einem Interview im März 2011 begrüßte er die Resolution des UN-Sicherheitsrats zu Libyen als „Signal, dass die Grenzen schmelzen, wenn es zu Kriegsverbrechen oder anderen schweren Menschenrechtsverbrechen kommt.“[11] Die ungleichen globalen Machtbeziehungen, die Interventionsentscheidungen und vor allem deren praktische Umsetzung gegenüber ganz bestimmten Ländern ermöglichen, werden in Äußerungen wie dieser gleichzeitig ausgeblendet, vorausgesetzt und gutgeheißen; spezifische Grenzüberschreitungen werden in aggressiver Weise als Verschwinden aller Grenzen und ein Vorgang präsentiert, der im Dienste der guten Sache erstrebenswert sei. Damit ist auch schon eine zweite zentrale Problematik dominanter Muster der internationalen Politik im Dienste der guten Sache angesprochen, nämlich die Frage der Akteure bzw. der diskursiv und politisch herbeigerufenen Akteure. Viele Proponent*innen derartiger Interventionen neigen dazu, ihre Hoffnungen auf die Durchsetzung der guten Sache auf jene Kräfte zu richten, die unmittelbar in der Lage sind, eine selbstgewählte Variante grenzüberschreitender Politik im globalen Machtsystem auch durchzusetzen. Doch gerade dann, wenn die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache von Akteuren betrieben oder beeinflusst wird, die die Zentren globaler Macht repräsentieren, tendiert sie sie immer wieder zu problematischen Verwicklungen in globale Ungleichheit und lokale Sozialbeziehungen. Was die globale Ungleichheit betrifft, so schmiegte und schmiegt sich solche Politik häufig gleichsam an dominante Kernstrukturen des internationalen Systems an. Dazu zählen Kolonialismus und Imperialismus, kooperative bzw. internationalisierte Kolonialpolitik, sowie ungleiche Machtverhältnisse, abgestufte Souveränität und ungleiche Wirtschaftsbeziehungen in der „internationalen Gemeinschaft“ oder der Europäischen Union, etc. Zugleich hat sich die von diesen Kräften betriebene grenzüberschreitende Politik im Dienste der guten Sache historisch immer wieder mit Bestrebungen verbunden, durch Eingriff in die örtlichen Sozialverhältnisse die Expansion des globalen kapitalistischen Systems voranzutreiben oder sicherzustellen. Dies galt im Zeitalter der europäischen kolonial-imperialen Expansion ebenso wie in der Epoche des Neoliberalismus. In den 1990er Jahren etwa war es unübersehbar, dass internationale Organisationen und Stiftungen in ihrer Osteuropapolitik ein Junktim zwischen fortschrittlicher Geschlechterpolitik und Wirtschaftsliberalisierung vor Ort herzustellen suchten. Zumindest kapitalismuskritische Internationalist*innen sind sich darin einig, dass diese Wirtschaftsliberalisierung zu vermehrter sozialer Ungleichheit und auch zur absoluten Verarmung bestimmter Bevölkerungsschichten beigetragen hat.[12]

Schließlich gilt es noch eine weitere und letzte Gruppe zentraler Merkmale dominanter Politiken der grenzüberschreitenden Interventionen in Vergangenheit und Gegenwart zu erwähnen. Dabei geht es um die Art der Begründungen dieser Politik, die Definition jener Erscheinungen, gegen die sich die Intervention richtet, und die Alternativen zu diesen Erscheinungen, die die Interventionist*innen gerne durchgesetzt sehen möchten. Dominante grenzüberschreitende Interventionspolitiken werden meist in philosophischen Universalien, unhintergehbaren Grundsätzen mit Allgemeingültigkeit, und letztlich in moralischen oder vorrechtlichen Setzungen begründet – in der „guten Sache“ eben. So geht es etwa, in abstracto und im allgemeinen, um die Durchsetzung der Menschenrechte oder das Prinzip Demokratie, um die Sklaverei, das Menschenopfer, oder an Frauen verübte Gewalt. Es sind außerdem nicht irgendwelche, sondern ganz bestimmte derartige Universalien, die sich unter den gegebenen weltpolitischen Verhältnissen am ehesten als unhintergehbare „gute Sache“ darstellen lassen und die daher am ehesten hegemoniale Wirkungskraft entfalten können. Grenzüberschreitende Intervention zur Durchsetzung etwa eines abstrakt-universell formulierten Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ stellt heute wohl kaum eine ernstzunehmende weltpolitische Option dar. Last but not least lässt sich historisch unzweifelhaft beobachten, dass grenzüberschreitende Interventionspolitik in aller Regel mit dem Vorgehen gegen Einzelelemente eines breiteren Systems gesellschaftlicher Beziehungen vor Ort gerechtfertigt wird. Durch einen etwas genaueren Blick auf einige der oben genannten Beispiele für die Ziele solcher Interventionspolitik lässt sich dies eindringlich illustrieren.  So wurde von (den Hauptströmungen) der Antisklavereibewegung nicht die Ausbeutung von Arbeit, sondern die Sklaverei ins Visier genommen. Nicht der komplexe gesellschaftliche Zusammenhang, als dessen Teil die Verstümmelung weiblicher Genitalien auf den Plan tritt, sondern die Genitalverstümmelung steht im Zentrum der Agenda dominanter internationaler Menschenrechtspolitiken.[13] Derartige Strategien der Abtrennung etwa von „Gewalt gegen Frauen“ oder „Pressefreiheit“ von anderen Problemen und größeren Zusammenhängen – anders gesagt: der punktgenaue Fokus auf zumeist besonders verabscheuungswürdiges oder scheinbar klar definierbares und abgrenzbares Unrecht – machte und macht die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache besonders konsensfähig. Der Verzicht auf die Berücksichtigung komplexer Ursachen und Kontexte ermöglicht es außerdem, unangenehme Fragen, die bei mangelndem Erfolg der Intervention gestellt werden könnten, beiseite zu schieben. Stattdessen kann, mit Blick auf das aus allen Zusammenhängen scheinbar herausgelöste, zu bekämpfende Übel, unbeirrt am Bekenntnis zur Notwendigkeit fortgesetzter Intervention festgehalten werden.

Gemeinsam tragen also die Selektivität bei der Auswahl der Ziele grenzüberschreitender Intervention im Dienste der guten Sache, die Dekontextualisierung der Phänomene, die auf diese Weise in den Vordergrund gestellt werden, und die universellen Werte, auf die sich die Intervention beruft, entscheidend dazu bei, dass es oftmals fast unmöglich erscheint, die Legitimität oder Sinnhaftigkeit der Interventionen in Frage zu stellen. Zuguterletzt ist die Tatsache, dass sich die Intervention gegen selektiv ausgewählte Übel richtet – so etwa im Fall Abschaffung der Sklaverei statt Kampf gegen die Ausbeutung der Arbeit, oder Geschlechtergleichheit statt Gleichheit aller Menschen – eine Voraussetzung dafür, dass die Intervention kompatibel ist und bleibt mit den oben erwähnten Politiken kapitalistischer Expansion.

Und die Linke?

In der – wie auch immer vielgestaltigen – marxistischen Tradition spielt die systematische Auseinandersetzung mit dominanten internationalen Institutionen und Organisationen sowie zwischenstaatlichen Beziehungen und geopolitischen Dynamiken eine eher untergeordnete und vor allem abgeleitete Rolle. Das internationale System erscheint oft als eine Art Wurmfortsatz der Staaten. Für jede wirkliche Veränderung dieses Systems braucht es zentral die (Klassen-)Bewegung von unten, die die unterdrückerischen Staaten und damit letztlich das Staatensystem, das diese überwölbt, revolutionär verändern oder beseitigen wird.[14] Dementsprechend wird der internationalen Intervention im Dienste der guten Sache – wenn sie nicht einfach als imperialistisch abgelehnt, oder aber die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen als allzu vielschichtige und komplexe Frage erst einmal beiseitegeschoben wird – gerne die Notwendigkeit der Selbstorganisation und der Klassenbewegung von unten gegenüber gestellt.

Ich habe demgegenüber in diesem Artikel versucht, eine Lanze dafür zu brechen, die Politik der internationalen Intervention im Dienste der guten Sache als eigenes, zunehmend an Bedeutung gewinnendes, Feld der politischen Auseinandersetzung, einschließlich der ganz praktischen politischen Auseinandersetzung vor Ort, ernstzunehmen. Dahinter steckt nicht die Idee, die soziale Bewegung vor Ort und von unten abzuwerten, im Gegenteil. Dieser Artikel will einen Beitrag dazu leisten, dass die Bewegung und jene, die sich mit ihr verbunden fühlen, sich nicht in den argumentativen Fallen verheddern, die ich oben beschrieben habe, und eigene Positionen entwickeln, die über die sinnlose Frage hinausweisen, ob solche Interventionen nun in abstracto abzulehnen oder (in Einzelfällen) doch zu rechtfertigen oder zu unterstützen seien. Ich behaupte außerdem, dass die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache sozusagen immer schon da, immer schon vor Ort ist, wenn sich Aktivist*innen vor Ort aufmachen, etwas zu verändern. Die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen gehört also, anders gesagt, immer schon zu den unmittelbaren Agenden der Bewegung, ganz egal ob sie dies nun will, oder nicht.

Die angesprochenen alternativen Argumentationsstrategien und Argumentationsmuster können auf einigen Grundüberlegungen aufbauen. Zunächst und zum ersten gilt es dabei, die eigene Position zu beiden oben diskutierten Achsen der Ungleichheit, also zum Problem der globalen Macht und Ungleichheit einerseits, und den Unrechtsverhältnissen, der Ungleichheit, Marginalisierung oder Ausbeutung vor Ort andererseits, stets, und gemeinsam, explizit zum Ausdruck zu bringen. Nur so wird es möglich, den oben beschriebenen argumentativen Strategien des gegeneinander Ausspielens beider Achsen erfolgreich entgegenzutreten. Nur wenn ich – beispielsweise – deutlich mache, dass ich beides, das neue ungarische Mediengesetz von 2011,und die Machtverhältnisse, die der Intervention der EU und anderer internationaler Akteure eingeschrieben sind, ablehne, und wenn ich explizit darlege, ob und wieso ich bereit oder nicht bereit bin, einer der beiden Achsen strategischen Vorrang einzuräumen, kann eine sinnvolle Diskussion entstehen. Wann immer ich hingegen über meine Haltung zu einer der beiden Achsen schweige, wird mir unweigerlich unterstellt werden, ich sei entweder ein*e Befürworter*in grenzüberschreitender Machtpolitik oder bereit Unrechtsverhältnisse vor Ort zu tolerieren. Die Strategie, sich selbst stets und im Tandem zu beiden Achsen explizit zu positionieren, lässt außerdem einen diskursiven Raum entstehen, in dem sich – zumindest grundsätzlich – auch der Diskussionspartner oder die politische Gegnerin die Frage gefallen lassen müssen, wie sie selbst es denn, grundsätzlich und strategisch, mit jeder der beiden Achsen halten.

Zweitens gilt es, jedes Argument, das die an der Diskussion Beteiligten vorbringen, Schritt für Schritt darauf abzuklopfen, wie es sich, ausgesprochen oder unausgesprochen, zu beiden Achsen der Ungleichheit verhält. Wichtig ist dabei auch, zu unterscheiden zwischen dem, was die Akteure, deren Haltung erwogen wird, tatsächlich sagen, und jenen Positionen, die ihnen in der politischen Auseinandersetzung um grenzüberschreitende Intervention, globale Ungleichheit, und problematische Verhältnisse vor Ort jeweils zugeschrieben werden. Auf diese Weise wird es zum Beispiel möglich, zwischen verschiedenen Formen und Absichten internationaler Frauenmenschenrechts- oder Demokratiepolitik und unterschiedlichen Politiken gegen (beispielsweise) autoritäre Verhältnisse vor Ort zu unterscheiden. Dieselbe Strategie kann sich zum Beispiel auch dann als hilfreich erweisen, wenn es vor Ort darum geht, die Argumentationsmuster der Teilnehmer*innen an der politischen Auseinandersetzung ins rechte Licht zu rücken. Manche örtlichen Akteure setzen etwa die Kritik an Politiken der globalen Ungleichheit zur Rechtfertigung bestehender Unrechtsverhältnisse vor Ort ein („Wer unser politisches System kritisiert, macht sich zum Lakaien des westlichen Imperalismus“), andere bemühen sich, die Arbeit von Kritiker*innen solcher Unrechtsverhältnisse zu delegitimieren (Im Süden: „Die Frauengruppen bei uns sind vom Westen gesteuert, und haben gar kein wirkliches Interesse, unseren ausgebeuteten Frauen zu helfen“. Im Norden: „Unsere Feministinnen reden zwar über das Elend der Frauen in der Dritten Welt, betreiben aber in Wirklichkeit das Spiel der NATO“). Gerade die letzten Beispiele zeigen, dass es, wie oben erwähnt, in vielen Fällen gar keine Bewegung von unten gibt, die sich nicht zugleich und immer schon im Spannungsfeld grenzüberschreitender Interventionspolitik im Dienste der guten Sache bewegt. Aus diesem Grund, so mein Argument, lohnt es sich gerade auch für Aktivist*innen vor Ort, sich in diesem Spannungsfeld bewusst und nachdrücklich zu positionieren.

Drittens können erfolgversprechende Konzepte und Strategien solidarischen grenzüberschreitenden Handelns dann entstehen, wenn dabei bestimmte zusätzliche Bezugspunkte systematisch berücksichtigt bzw. einbezogen werden, die in der langen Tradition dominanter grenzüberschreitender Interventionen im Dienste der guten Sache systematisch ausgeblendet worden sind. Dabei geht es unter anderem darum, sich mit Fragen der möglichen mittelbaren und unmittelbaren, auch negativen oder kontraproduktiven Begleiterscheinungen oder Konsequenzen grenzüberschreitender Intervention, sowie der Chancen auf Erfolg, die der angestrebten Reform unter den gegebenen Verhältnissen tatsächlich zukommen, eingehend zu beschäftigen. Hinsichtlich der Akteure etwa gilt es dabei – ganz mit Sepúlveda, der im 16. Jahrhundert seine Stimme erhob – abzuwägen, ob Jene, die sich als Akteure der Intervention anbieten, auch tatsächlich geeignet sind, erfolgreich zu intervenieren, ob es nicht Andere gibt, die besser geeignet sind, die (wie auch immer beschränkte) gute Sache vor Ort tatsächlich voranzutreiben, und wen man sich als mögliche Kooperationspartner*innen aussuchen sollte, und wen nicht.

Die Auseinandersetzung der ungarischen Linken mit der Intervention der EU im Jahre 2011 trägt demgegenüber zum Teil unverkennbar die Züge der klassisch-linken Position, nämlich dass die Bewegung eben von unten kommen müsse. Auf dem Höhepunkt des Konfliktes zwischen „Europa“ und ungarischer Regierung etwa antwortete der kritische ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás in einem Interview des österreichischen Radiosenders Ö1 auf die Frage, ob die EU eingreifen solle oder nicht, ganz schlicht: „Es ist Sache des ungarischen Volkes, den Kampf für die ungarische Pressefreiheit auszufechten.“ Tamás brachte damit ein Argument vor, das ansonsten in der überbordenden Debatte jener Monate nicht von ungefähr nahezu komplett ausgeblendet wurde. Das Titelblatt der Népszava vom 3. Jänner 2011 wiederum verband die positive Bezugnahme auf die internationale Dimension des Problems indirekt durchaus mit der Frage nach der Legitimität der unterschiedlichen Akteure, der gesellschaftlichen Selbstorganisation, und den Erfolgsaussichten konkreter Formen einer grenzüberschreitenden Politik der guten Sache. Dies ging aus der eingangs zitierten Schlagzeile ebenso hervor, wie auch daraus, dass dieses Titelblatt eben nicht weiß und leer gehalten war, wie die Titelseiten der übrigen Blätter, sondern den hammerschwingenden proletarischen Kämpfer zeigte, der die klassisch linke Position der gesellschaftlichen Selbstorganisation symbolisierte. Die Népszava identifizierte sich unverkennbar nicht mit der internationalen Gemeinschaft der liberalen Medien-NGO’s. Ebenso deutlich brachte die Zeitung zum Ausdruck, dass sie die verschiedenen EU-Gremien und Repräsentant*innen internationaler Interessensgruppen gewiss nicht als die einzigen oder idealen Akteure betrachtet, wenn der guten Sache in Ungarn tatsächlich gedient sein soll.

Andere Stimmen auf Seiten der Linken unterzogen bestimmte zusätzliche Zusammenhänge zwischen den internationalen Entwicklungen und den Entwicklungen vor Ort, die ich in diesem Artikel diskutiert habe, zumindest teilweise einer ausgesprochenen Kritik. So wandten sich bekannte Intellektuelle inmitten der hitzigen Debatte um die ‚Einmischung‘ der EU in ungarische Angelegenheiten in einem offenen Brief mit dem Titel „Pressefreiheit?“ an die Öffentlichkeit. Sie stellten dabei die Frage nach den Erfolgsaussichten einer grenzüberschreitenden Intervention auf eine Weise, die die konkreten gesellschaftlichen und politischen Kontexte der (nur scheinbar isoliert behandelbaren) schlechten Sache (Einschränkung der Pressefreiheit) analytisch-politisch einzublenden, statt auszublenden, suchte: „Auch wenn sich Orbán und seine Leute  auf westlichen Druck hin von der Aneignung der Presse durch eine einzige Partei abbringen lassen würden: die sozialen Anomalien des Systems würden trotzdem bleiben – und in einer Epoche, in der keine reale linke … Bewegung des gesellschaftlichen Selbstschutzes  … existiert, können diese Anomalien geradezu zu Faktoren werden, die gegen ein demokratisches politisches System arbeiten. … Eine erfolgreiche Widerstandsbewegung zum Schutz der Pressefreiheit ist nur dann vorstellbar, wenn sich diese mit dem Schutz der sozialen Rechte verbindet …“[15] Zwar ließ diese Analyse den Beitrag ungleicher grenzüberschreitender Wirtschaftsbeziehungen, zum Beispiel innerhalb der EU, zur fortwährenden Polarisierung der ungarischen Gesellschaft, und zur Verarmung weiter Bevölkerungsschichten, außer Acht. Aber sie machte doch darauf aufmerksam, dass es konkrete Gründe dafür gibt, warum die Interventionspolitik, die von der EU und der liberalen Öffentlichkeit in Ungarn und international betrieben bzw. eingefordert wurde, bestimmte politische und gesellschaftliche Erscheinungen, die Ungarn heute kennzeichnen, einblendet und warum sie andere ausblendet. Sie wies außerdem darauf hin, dass gerade bestimmte Interessen, denen sich die dominante Interventionspolitik verpflichtet fühlte – so das Interesse an jenen Formen der ökonomischen Integration in der EU, die in Ländern wie Ungarn die soziale Polarisierung und Verarmung vorantreiben – dazu beitragen, die Erfolgsaussichten einer Politik der Pressefreiheit für und in Ungarn gering zu halten.

* * *

Ich hoffe, in diesem Beitrag zweierlei klar gemacht zu haben. Erstens stehen die Vorgänge rund um das ungarische Mediengesetz, die ich hier als Beispiel diskutiert habe, in einer langen Tradition: der Tradition einer Politik der globalen Ungleichheit, die die Geschichte der grenzüberschreitenden Intervention im Dienste der guten Sache in nahezu erdrückender Weise bestimmt hat. Grenzüberschreitende Menschenrechts- und Demokratisierungsbestrebungen stellen nicht nur die jüngste und heute dominante Ausprägung dieser Tradition dar, sondern auch eine bedeutende Verallgemeinerung älterer Politikmuster. Zudem kommt diesen Politiken im globalen System unserer Tage zunehmende Bedeutung zu. Zweitens kann die grenzüberschreitende Politik der guten Sache nur dann als solidarischer Internationalismus neu geboren werden, wenn sich deren Charakter und Ziele grundsätzlich verändern: namentlich dann, wenn grenzüberschreitende Politik systematisch mit dem Anliegen verbunden wird, globale Ungleichheit abzubauen, wenn sie sich darauf richtet, Ungleichheit vor Ort im übergreifenden Sinne zu hinterfragen, und wenn die Bevölkerungen vor Ort bei der Gestaltung dieser Politiken eine Stimme haben. 


[1]  Wo (hier und) im folgenden nicht anders angegeben, beruhen die Ausführungen zur Auseinandersetzung um das ungarische Mediengesetz auf Artikeln, die in der Tageszeitung Neues Deutschland erschienen sind. Ein Teil der übrigen Ausführungen beruht auf meinem Buch Grenzüberschreitungen. Internationale Netzwerke, Organisationen, Bewegungen und die Politik der globalen Ungleichheit vom 17. Bis zum 21. Jahrhundert, Wien 2010. Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen von mir.

[2]  “Freedom of the press is a fundamental right in a EU member state. We must defend our democratic rights in Hungary. We demand freedom of the press.“

[3]  Vgl. etwa die Berichterstattung in Népszabadság im Monat Dezember 2010, abrufbar online in der Suchfunktion unter den Titelwörtern „médiatörvény Europai Unió“.

[4]  Magyar Narancs, 2. Dezember 2010.

[5]  Népszabadság online 19.01.2011.

[6]  Népszabadság online 11.03.2011, 12.03.2011.

[7]  Zitiert in Népszabadság online 19.01.2011.

[8]  Die beste Analyse der R2P Konzepts ist jene von Anne Orford, International Authority and the Responsiblity to Protect, Cambridge etc., 2011.

[9]  Diese Tradition hat Geritt Gong als Bezugnahme auf einen „standard of ‚civilization‘“ gekennzeichnet, dessen Einhaltung im Völkerrecht ursprünglich nur im Zusammenhang mit dem Umgang mit Europäer*Innen, die sich in „unzivilisierten“ Gebieten aufhielten, gefordert wurde. Gerrit Gong, The Standard of "Civilization" in International Society, Oxford etc., 1984. 

[10]  Immanuel Wallerstein, European Universalism. The Rhetoric of Power, New York 2006, Kapitel 1, sowie 72ff. (Deutsche Übersetzung: Die Barbarei der Anderen. Europäischer Universalismus, Berlin 2007.)

[11]  Der Standard, 19./20. März 2011.

[12]  Am Beispiel Osttimor diskutiert Anne Orford den Zusammenhang zwischen Intervention und neoliberaler Reform. Anne Orford, Reading Humanitarian Intervention. Human Rights and the Use of Force in International Law, Cambridge etc., 2003, Kap. 1.

[13]  Eine sorgfältige Analyse dieser Zusammenhänge und alternative Herangehensweisen entwickelt, am Beispiel der Genitalverstümmelung, Isabella R. Gunning, Arrogant Perception, World-Travelling and Multicultural Feminism: The Case of Female Genital Surgeries, in: Columbia Human Rights Law Review 23 (1992) 2, 189-248.

[14]  Vgl. Clive Archer, International Organizations, 3. Aufl., London, New York, 2001, 152-158. Eine anregende weiterführende Analyse bietet Benno Teschke, Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems, Münster, 2007.

[15]  Offener Brief vom 17. Jänner 2010. http://mebal.hu/sajtonyilatkozatok/sajtoszabadsag-nyilt-level, 05/09/2011.

 

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