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Liebe Leserinnen und Leser! Die Auseinandersetzung mit Religion hat (wieder) Konjunktur. Dir seinerzeitigen vollmundigen Aussagen aus dem Umkreis der TheoretikerInnen der sogenannten Moderne, die offenbar als unaufhaltsam gedachte Entzauberung der Welt (zumeist in Überblendung der Thesen von Jürgen Habermas und Max Weber vorgetragen) würde notwendiger Weise das Erlöschen des Religiösen bewirken, sind verstummt. Ebenso dürfte das Mantra von der Religion als das Opium des Volkes seine Erklärungskapazität offenbar eingebüßt haben. Eine differenzierte Auseinandersetzung ist somit angesagt....weiter Martin Birkner: Zur Kritik der Religionskritik, oder: Der Glaube an den Kommunismus Es gehört zum guten Ton in der (radikalen) Linken, atheistisch zu sein. Zum einen fußt dieser Atheismus auf einer Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen, zum anderen ist er durch die Kritik an religiösen Institutionen, in unseren Breiten meist christliche Kirchen, motiviert. Ob Kreuzzüge, die herrschaftliche Rolle der katholischen Kirche über hunderte von Jahren, Hexenverbrennungen, die Rechtfertigung von Kolonialismus und Sklaverei, aber auch die Verstrickung in die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus, die Aufrechterhaltung einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung durch die Propagierung einer antiaufklärerischen, patriarchalen Moral, die Ablehnung von Empfängnisverhütung und des Rechts von Frauen auf Abtreibung: Es gibt wahrlich genug Gründe, gegen die Institution Kirche zu opponieren – und sie sind mannigfaltig und gut belegt....weiter Anne Steckner: Antonio Gramscis Auseinandersetzung mit Religion im Spannungsfeld zwischen Unterwerfung und Widerständigkeit Gramscis Religionsverständnis ist eine schillernde Kategorie. Sie berührt unterschiedliche Dimensionen, die sich über die gesamten Gefängnishefte verteilen. An verschiedenen Stellen finden sich kulturhistorische, analytische und politisch-strategische Aspekte mit jeweils unterschiedlichen Bezügen zueinander. In Gramscis Begriff von Religion finden sich Elemente von Rationalität ebenso wie irrationaler Aberglaube, Opium und Rebellion, Fatalismus und Utopie, widersprüchlich gelebte Alltagspraxis und allumfassendes Glaubenssystem. Seine religionskritischen Passagen erstrecken sich nicht nur auf Religion im konfessionellen Sinne, sondern ebenso auf quasi-religiöse, säkulare Formen fatalistischen oder herrschaftsaffirmativen Glaubens. Gramsci führt nämlich keine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen der biblischen (oder anderer) Religionen, sondern primär eine Form-orientierte, die sich in den Kontext seiner hegemonietheoretischen Ausführungen stellt (Schirmer 1995: 16). Im Fokus seiner religionsbezogenen Überlegungen steht die Rolle von Religion in den Kämpfen um Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen und Epochen. Insbesondere interessiert ihn Religion als ideologischer Bestandteil des Alltagsverstandes....weiter
Klaus Ronneberger: An
den Himmel verschleuderte Schätze? Im April 1964 beginnt der Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini, bekennender Kommunist und Schwuler, in den kargen und steinigen Landschaften Süditaliens mit den Dreharbeiten zu einem Jesus-Film. Als Vorlage dient ihm das Matthäus-Evangelium, welches sich durch eine radikale Eschatologie (griech. ta eschata: die „Letzten“; „Lehre von den letzten Dingen“) auszeichnet: „Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappern sein.“ (Mt. 13,49-50) Zentraler Bestandteil der Matthäusbotschaft ist die bekannte Bergpredigt: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ (Mt. 5,6-7) Doch der Heiland tritt hier nicht nur als sanftmütiges „Lamm Gottes“ auf, sondern auch als zorniger und unversöhnlicher Messias, der die Händler aus dem Tempel jagt und vehement die Macht der Schriftgelehrten in Frage stellt: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Mt. 10,34) Seine Zuwendung gilt den Mühseligen und Beladenen, nicht den Begüterten. Auf die Frage eines reichen Jünglings, wie er das „ewige Leben“ erlangen könne, gibt Jesus die Antwort: „Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach.“ (Mt. 19,21)...weiter
Sebastian Kalicha: Anarchismus
und Christentum Über einen Anarchismus zu diskutieren, der christlich ist, scheint für viele ebenso ungewohnt zu sein, wie über ein Christentum, das anarchistisch ist. Dennoch gibt es seit langer Zeit die in unterschiedlichen Ausformungen auftretende politisch-religiöse Strömung des christlichen Anarchismus. Es lassen sich viele Bewegungen und Persönlichkeiten in Geschichte und Gegenwart ausfindig machen, die die Idee eines libertären Christentums verfolgen und mit Nachdruck darauf hinweisen, dass Anarchismus und Christentum keine sich gegenseitig ausschließende Ideenlehren sein müssen sondern ganz im Gegenteil – einmal einen bestimmten Zugang gefunden – sich inhaltlich eher treffen als sich von einander entfernen. Was kann man sich aber unter der Bezeichnung „christlicher Anarchismus“ genau vorstellen? Wie sieht ein Christentum, das von sich behauptet (oder von dem andere behaupten) anarchistisch zu sein, aus? Wie verträgt es sich mit dem „klassischen“ Anarchismus, von dem gemeinhin die Vorstellung vorherrscht, er sei nicht- beziehungsweise anti-religiös? Und wie mit einem Christentum, das im Ruf steht, mit Sozialismen jeglicher Art inkompatibel zu sein?...weiter
Harald Wolf (Hg.): Das Imaginäre im Sozialen. Göttingen: Wallstein Verlag 2012, 136 Seiten, Euro 24,90 Rezensionsessay von Karl Reitter Dem aus Griechenland stammenden und ab dem Endes des II. Weltkriegs in Paris lebenden Philosophen und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis (1922 – 1997) blieb der große Durchbruch bis dato versagt. Ursprünglich Trotzkist wandte er sich in den 50er und 60er Jahren immer stärker vom Marxismus ab um seine eigene, höchst eigenständige und originelle Philosophie zu entwickeln. Als Mitherausgeber der einflussreichen Zeitschrift Sozialismus oder Barbarei (socialisme ou barbarie), bei der auch unter anderem Claude Lefort, Jean-François Lyotard sowie Edgar Morin mitwirken, entwickelte Castoriadis Ideen, die er zusammenfassend in seinem Hauptwerk Gesellschaft als imaginäre Institution publizierte. Das Buch erschien 1975 auf Französisch, 1984 erfolgte endlich die deutschsprachige Ausgabe. Während etwa sein deutscher Philosophenkollege Jürgen Habermas stets die Anschlussfähigkeit der eigenen Philosophie an dominierende Strömungen in der akademischen Welt forderte und dies auch in seinen Texten realisierte, ging Castoriadis sozusagen den gegenteileigen Weg. ...weiter |
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