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Klaus Ronneberger: An den Himmel verschleuderte Schätze?
Zur Dialektik von (christlicher) Religion und Politik

Im April 1964 beginnt der Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini, bekennender Kommunist und Schwuler[1], in den kargen und steinigen Landschaften Süditaliens mit den Dreharbeiten zu einem Jesus-Film. Als Vorlage dient ihm das Matthäus-Evangelium, welches sich durch eine radikale Eschatologie (griech. ta eschata: die „Letzten“; „Lehre von den letzten Dingen“) auszeichnet: „Die Engel werden ausgehen und die Bösen von den Gerechten scheiden und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappern sein.“ (Mt. 13,49-50) Zentraler Bestandteil der Matthäusbotschaft ist die bekannte Bergpredigt: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ (Mt. 5,6-7) Doch der Heiland tritt hier nicht nur als sanftmütiges „Lamm Gottes“ auf, sondern auch als zorniger und unversöhnlicher Messias, der die Händler aus dem Tempel jagt und vehement die Macht der Schriftgelehrten in Frage stellt: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Mt. 10,34) Seine Zuwendung gilt den Mühseligen und Beladenen, nicht den Begüterten. Auf die Frage eines reichen Jünglings, wie er das „ewige Leben“ erlangen könne, gibt Jesus die Antwort: „Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach.“ (Mt. 19,21)

Pasolini – nach eigenem Bekunden Atheist mit einer starken Neigung zur Mystik – will den moralischen Rigorismus des Matthäusevangeliums mit der gesellschaftlichen Situation der kapitalistischen Moderne konfrontieren. Er nimmt die Durchsetzung des fordistischen Vergesellschaftungsmodells in Italien als einen Kolonialisierungs- und Nivelierungsprozess wahr, der durch den (individualisierenden) Massenkonsum die widerständigen Traditionen der ländlich-bäuerlichen und städtisch-proletarischen Subkulturen zersetzt. Auch die normativen Grundlagen der christlichen Religion, die auf Werten wie Enthaltsamkeit und Selbstaufopferung beruhen, sieht er in der Auflösung begriffen: Der italienische Katholizismus, denn darauf bezieht sich Pasolini hauptsächlich, habe in der Vergangenheit zum Kernbereich der ideologischen Staatsapparate gehört, doch nun verliere der Klerikalismus im Gefolge der neuen Konsumideologie seine vormaligen Homogenisierungs- und Kontrollfunktionen. Während der säkulare Hedonismus als neue Religion triumphiere, überlebe das institutionelle Christentum lediglich als Folklore. Die neuen Mächte, so glaubt er, seien nicht mehr auf die Kirche angewiesen, denn die post-sakrale Integrationspraxis des Spätkapitalismus bestehe „im Ritus des Konsums und im Fetisch der Ware.“ (Pasolini 1981: S. 65)

Der Jesus-Film, der 1964 unter dem Titel Il Vangelo secondo Matteo (Das Erste Evangelium – Mathäus) in die Kinos kam und im Vorspann dem Reformpapst Johannes XXIII. gewidmet ist, wird anlässlich eines römischen Konzils mehr als tausend Kardinälen gezeigt. Der Eindruck ist so überwältigend, dass sie Il Vangelo einen minutenlangen Applaus zollen. Die Linke hingegen artikuliert vehemente Kritik an dem Werk und wirft Pasolini eine hagiographische Version des Evangeliums vor: Eine weltlich-rationale Denkweise lasse sich nicht mit einer religiösen Mystik verknüpfen. Und – hatte sich die Religion nicht längst durch die Säkularisierung der Gesellschaft erledigt?   

Radikalisierung der Religionskritik

Bereits im 18 Jahrhundert propagieren französische Aufklärer wie Paul Thiry d’Holbach oder Voltaire die Unvereinbarkeit von menschlicher Vernunft und Religion. Georg Friedrich Wilhelm Hegel wiederum verhandelt in seinem Frühwerk Die Positivität der christlichen Religion (1795/96) das religiöse Bewusstsein als eine „Selbstproduktion des Geistes“: In der Vergangenheit hätten die Menschen ein himmlisches Jenseits entworfen, wo sie reichliche Entschädigung für das Unglück auf Erden zu finden hofften. Eine Kluft, die nach den Spekulationen des Philosophen im Gefolge eines dialektisch verlaufenden Geschichtsprozesses schrittweise aufgehoben wird: „Außer früheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen wenigstens in der Theorie zu vindicieren, aber welches Zeitalter wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen, um sich in den Besitz zu setzen?“ (Hegel 1986: S. 209). In der Auseinandersetzung mit der Hegel’schen Religionsphilosophie kommt dann Ludwig Feuerbach in Das Wesen des Christentums (1841) zu dem Schluss, dass Philosophie für das „Denken“ stehe, Religion hingegen fürs „Gemüt“. Während Hegel die religiösen Vorstellungen als eine berechtigte und geschichtlich notwendige Form ansieht, die in einem Prozess der „Selbsterkenntnis des Geistes“ letztendlich zu einer Versöhnung von Philosophie und Religion führt, betont Feuerbach den illusionären Charakter dieser Projektion und identifiziert Gott als „Traum des menschlichen Geistes“ (Feuerbach 2006 [1849]: S. 26). Eine imaginäre Rückspiegelung des (endlichen) Wesens, die ihm als höheres (unendliches) Wesen entfremdet gegenübertrítt.

Karl Marx erklärt schließlich die Auseinandersetzung um die Religionsphilosophie Hegels in Deutschland für beendet. Jetzt gilt die Kritik der Religion als Voraussetzung jeglicher (Gesellschafts-)Kritik. „Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. (…) Sie ist das Opium des Volks.“ ( MEW Bd. 1: S. 378) Nun muss die „Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung“ in „ihren unheiligen Gestalten“ entlarvt werden. „Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. (a. a. O.: S. 379).

Im Gegensatz zu einer vulgär-materialistischen Lesart, die die Marx’sche Religionskritik auf den Aspekt der ideologischen „Vernebelung“ reduziert, besteht der Philosoph Ernst Bloch darauf, dass Marx die Religion nicht nur als „Einschläferungs-Opiat“ verhandelt, sondern auch als eine Quelle der Revolte (Bloch 1977: S. 295). Er verweist dabei auf eine Stelle in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend.“ (MEW Bd. 1: S. 378). Bloch unterstellt, dass für Marx eine Verbindung zwischen den eschatologischen Bewegungen des Christentums und den Emanzipationsbestrebungen des Proletariats besteht.

Religions- und Geisteswissenschaftler wie Karl Löwith, Jacob Taubes oder Eric Voeglin ziehen daraus den Umkehrschluss, dass die marxistische Geschichtsphilosophie nicht frei von „theologischen Mucken“ sei: Sie interpretiere die Weltgeschichte als sinnvolles Geschehen, das letztlich zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen werde. Mit der Vision von der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft habe Marx die vormaligen Vorstellungen einer „messianischen Zeit“ lediglich säkularisiert.[2] Dem Manifest der Kommunistischen Partei (1848), im Jahr der großen europäischen Revolutionen von Karl Marx und Friedrich Engels als Kampfschrift verfasst, kann man eine triumphalistische Endzeit-Rhetorik nicht absprechen: „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweg gezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ (MEW 4: S. 473f.) Der Bezug auf Hegels Geschichtsphilosophie ist unverkennbar, allerdings nicht im Sinne einer mit sich selbst versöhnenden (göttlichen) Vernunft, sondern im Sinne einer Theorie der Aktion geschichtlicher Subjekte. Hegel liefert der Marx’schen Emanzipationstheorie eine Begrifflichkeit, in der die Menschen als Träger der „Aufhebung“ erscheinen. Darauf insistiert u. a. der Philosoph Hans Blumenberg, der die Unterstellung zurückweist, es handle sich bei dem Kommunistischen Manifest um säkularisierte Eschatologie: „So ist es gleichgültig, ob ein paradiesisch befriedeter Zustand weltlich oder unweltlich ist; entscheidend bleibt, ob dieser Zustand leistungsimmanent oder leistungstranszendent ist, ob der Mensch ihn durch die Anstrengung seiner eigenen Kraft erreichen kann oder ob er dazu auf die nicht verdiente Gnade eines über ihn hereinbrechenden Ereignisses angewiesen ist.“ (Blumberg 1974: S. 101) Ungeachtet dessen lässt sich in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine Reihe von programmatisch-ideologischen Aussagen finden, die von einer irischen Erlösungsgewissheit zeugen.

Eschatologie und Apokalypse 

Während für die Marxisten die fortschreitende Emanzipation des Menschen im öffentlichen Raum der Geschichte stattfindet, erwarten die Christen die Erlösung in der Innerlichkeit der Seele. Aber auch für sie vollzieht sich die Geschichte nicht in einem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen (so die Vorstellung der „heidnischen“ Antike), sondern es gibt eine eschatologische Chronologie, die auf ein Ende hinsteuert. Die ersten Christen lebten in der Vorstellung einer unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft des Messias. Regelmäßig kam es zu großen spirituellen Erschütterungen in den Gemeinden, wo die Gläubigen all ihre materiellen Güter fahren ließen und in der Wüste oder auf Bergspitzen die Parusie (griech. = Ankunft) entgegenfieberten.

Auch der Apostel Paulus (dem eigentlichen Gründer der christlichen Kirche) rechnet zu seiner Lebenszeit mit diesem Ereignis. Indes warnt er in dem Zweiten Brief an die Thessalonicher (wahrscheinlich um 50 n. Chr. verfasst) vor falschen Propheten, die behaupten, der „Tag des Herrn“ sei schon da. Paulus versucht die Gemeinde darauf einzustimmen, dass der Parusie schwerwiegende Ereignisse vorausgehen: „Lasst euch von niemandem verführen, in keinerlei Weise; denn zuvor muss der Abfall kommen und der Mensch der Bosheit offenbart werden, der Sohn der Verderbens.“  (Th. 2,3) Es wird ein Mensch sein, der all jene mit „lügenhaftern Zeichen und Wundern“  (Th 2,7) verführen wird, die „die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben“ (Th. 2,10). Erst dann erscheint Jesus und bringt den Widersacher „mit dem Hauch seines Mundes“ um (Th. 2,8). 

Die Vorstellung vom „Letzten Gericht“ ist bereits im Alten Testament anzutreffen. Hier geht es oft um Prophetien, die die Ankunft des Messias-Königs auch mit einer innerweltlichen Erneuerung verbinden. Während die alttestamentliche Tradition vom Wirken Gottes in dem Volk Israel ausgeht, vertritt die Apokalyptik (griech. = Enthüllung, Offenbarung) im Neuen Testament eine universale Sichtweise: Jetzt geht es um die Zukunft der ganzen Welt. Durch einen Aufruhr der Naturkräfte kündigt sich das Weltgericht an; das Korn wird von der Spreu geschieden und damit ein endgültiges Urteil für das Jenseits (Paradies oder Hölle) gefällt.  

Was die Dramatik anbetrifft, erweist sich die Offenbarung des Johannes (letztes Kapitel im Neuen Testament) als wahrer „Donnerschlag“. Sie wurde gegen Ende des 1. Jahrhunderts aufgezeichnet, eine Zeit, in der sich die Christen verstärkten Repressionen ausgesetzt sahen. In grellen Bildern des Schreckens malt Johannes das Ringen zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis aus. Breiten Platz nimmt dabei die Schilderung des „Antichristen“ ein. Er ist der Diener Satans und repräsentiert das römische Imperium und den Kaiser. Zunächst triumphiert „das große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden“, die trunken ist „von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu.“ (Off. 15,5-6) Doch dann kommt es zur Apokalypse: Engel gießen „die sieben Schalen des Zornes Gottes auf die Erde“ aus (Off. 16,1) und löschen die „Hure Babylon“ aus. Der „König der Könige“ erscheint mit seinen himmlischen Heerscharen, vernichtet die Truppen der Finsternis und lässt den „falschen Propheten“ lebendig in den „feurigen Pfuhl“ werfen. Seine Mitstreiter werden samt und sonders erschlagen. „Und alle Vögel wurden satt von ihrem Fleisch.“ (Off. 19,15-21). Nun stürzt ein Engel vom Himmel herab, der den Teufel fesselt und in den Abgrund wirft. Der Messias gründet ein Friedensreich, das er gemeinsam mit den wiedererweckten christlichen Märtyrern für tausend Jahre regiert. Nach Vollendung dieser Epoche („Millennium“) wird der Satan aus seinem Gefängnis losgelassen und in einer letzten Schlacht endgültig besiegt. Jetzt erfolgen die allgemeine Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht. Vom Himmel schwebt das „neue Jerusalem“ herab, dessen Tore sich nur für die „Gerechten“ öffnen (Off. 20-21).

Doch je länger die Parusie auf sich warten ließ, desto stärker versuchten Theologen eine Umdeutung vorzunehmen. An die Stelle der Hoffnung auf das kommende Reich traten zunehmend innerseelische Gleichnisse. Nachdem das Christentum vom römischen Kaiser Constantin (Reg. 312-337) zur offiziellen Staatsreligion erklärt wurde, verdammten die mächtig gewordenen Kirchenväter die Millenniumsvorstellungen als häretische Irrlehre. Die Gläubigen sollten vielmehr für den Erhalt des Staates beten, der vor den Barbaren und dem Chaos schützte. Galt Rom zuvor noch als die „Hure Babylon“, so rückte es nun in die Nähe des „himmlischen Jerusalems“. Im Gottesstaat, ein umfangreiches Oeuvre von 22 Büchern, legte der Kirchenlehrer Augustin (354-430) schließlich die geistigen Fundamente für das mittelalterliche Heilige Römische Reich. Die Stoßrichtung der chiliastischen (griech. = tausend) Hoffnung wurde von ihm völlig umgekehrt: Das „Tausendjährige Reich“ im Sinn der Offenbarung des Johannes liege nicht in der Zukunft, sondern sei bereits durch die Herrschaft der Kirche verwirklicht (Taubes 1991: S. 79).

Allerdings konnte die mobilisierende Kraft der apokalyptischen Überlieferung nie gänzlich unterdrückt werden. Über die Figur des Antichristen, der weiterhin zum Standardrepertoire der kirchlichen Doxa gehörte, wurde das Wissen um die „Enthüllung des Seins“ am Leben gehalten. Gerade in der Krisenepoche der beginnenden Neuzeit erschütterten chiliastische Erweckungsbewegungen die feudale Ordnung.[3] Man denke nur an die böhmischen Hussiten oder an Thomas Münzer und die Wiedertäufer, die im Verständnis von Friedrich Engels die „urkommunistische Linke“ der Reformation bildeten. Martin Luther (1483-1546), dem alle Schwärmereien über ein geschichtliches Endreich suspekt waren, geißelte deshalb die Offenbarung des Johannes auch als „aller Rottenmeister Gaukelsack“ und predigte den aufrührerischen Bauern: „Leid, Leid, Kreuz, Kreuz als des Christen Teil“. (zit. nach Bloch 1977: S. 11) Marx wiederum sah in der Reformation die erste Stufe einer „deutschen Revolution“, die den Glauben an die Autorität der Amtskirche zerbrechen ließ. Allerdings zu dem Preis, dass Luther die „äußere Religiosität“ in das Innere des Menschen verlagert und damit „die Laien in Paffen“ verwandelt habe (MEW 1: S. 386). Ernst Bloch argumentiert in Atheismus im Christentum (1977) grundsätzlicher: Für ihn stellt die Bibel einen großen „murrenden“  Text dar, dessen eschatologische Botschaft auch eine verheißungsvolle irdische Bedeutung in sich birgt. Die immer wieder auftauchende Verschränkung von Chiliasmus und sozialen Kämpfen gilt dem Philosophen als Beleg dafür, dass im Geschichtsprozess irrationale, metaphysische und religiöse Momente eine wichtige Rolle bei dem Ausbrechen von Revolten und Aufständen spielen.

Durch die lutherische und calvinistische[4] Reformation wurde der Niedergang der Universalkirche und ihre Zersplitterung in eine Vielzahl miteinander konkurrierender Glaubengemeinschaften eingeleitet. Religiöse Konflikte, die von den politischen Ambitionen der Fürsten gänzlich durchdrungen waren, beherrschten lange Zeit die Geschichte Europas. Erst im späten 17. Jahrhundert setzte nach den Erfahrungen blutiger Religionskriege ein Umdenken ein. Die aufkommenden modernen Wissenschaften entzauberten allmählich die biblische Kosmologie und neue philosophische Fragestellungen nagten an der Autorität der Kirche. Schließlich trug die Ausbildung absolutistischer Territorialgewalten, die sich aus den Wirren der europäischen Religions- und Bürgerkriege als souveräne Ordnungsfaktoren durchsetzen konnten, zu einer Befriedung religiöser Steitfragen bei.

Das neue Jerusalem

Trotz aller Einhegungsversuche kirchlicher und weltlicher Mächte blieb die Sehnsucht nach dem „Tausendjährigen Reich“ virulent. Vor allem England erwies sich als ein Experimentierfeld für chiliastische Bewegungen. König Heinrich VIII. (1491-1547) hatte aus Gründen der Staatsräson eine Abspaltung von Rom betrieben und sich in der Suprematsakte von 1534 zum absoluten Oberhaupt einer anglikanischen Nationalkirche gekürt. Da aber deren Organisation und Liturgie viele Analogien mit den „Papisten“ aufwies, entwickelten sich neue religiöse Gegensätze. Beim niederen Klerus und im städtischen Bürgertum gewannen lutherische und calvinistische Ideen zunehmend an Einfluss. Zwar setzte sich unter Elisabeth I. (1558-1603) eine protestantisch geprägte Episkopalkirche (Bischofherrschaft) durch, aber die Ausbreitung diverser Sekten vermochte sie damit nicht zu verhindern. Während die Puritaner (lat. purus = rein) die Established Church von allen Relikten des Katholizismus säubern wollten, verwarfen die sog. Dissenters die Idee einer hochkirchlichen Struktur und bestanden auf religiöser Autonomie im Rahmen eines korporativ-demokratischen Gemeindesystems. Solche Auffassungen vertraten etwa Baptisten, Quäker oder Presbyterianer. 

Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts sahen sich die puritanisch-calvinistischen Gruppen immer wieder Verfolgungen durch die englische Krone oder die anglikanische Staatskirche ausgesetzt. Ähnlich wie die Urchristen im Römischen Reich nahmen sie die Repressionen als Zeichen der nahenden Endzeit und der eigenen Erwähltheit („Heiliger Rest“) wahr.[5] Mit dem Exodus in die nordamerikanischen Kolonien glaubten die Sekten das „gelobte Land“ gefunden zu haben. An erster Stelle sind hier die „Pilgerväter“ zu nennen, die 1620 mit der Mayflower nach Neu-England  segelten und dort nach den Vorgaben der Mosaischen Gesetze eine theokratische Ordnung errichteten. Die Siedler sahen sich als Nachfolger der Israeliten im persönlichen Bund mit Gott und entnahmen ihre Rechtsnormen direkt der Heiligen Schrift. Mit Hilfe der Bibel ließ sich nicht nur das Alltagsleben der Siedlergemeinschaft regulieren, sondern auch die eigene Überlegenheit gegenüber der indigenen Bevölkerung begründen. Die Praxis der gewaltsamen Landnahme stand im völligen Einklang mit dem Alten Testament. John Winthorp (1588-1649), einer der führenden Köpfe der puritanischen Bewegung, erinnerte bei der gefährlichen Überfahrt nach Nordamerika (1629) die mitreisenden Siedler daran, welche herausragende Rolle sie im chiliastischen Endkampf spielten: „Ihr seit das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein.“ (Mt. 5,14) Mit diesem Matthäuszitat unterstrich Winthorp die Vision von der City Upon the Hill, des „neuen Jerusalems“ in der „Neuen Welt“ (Jewett/Wangerin 2008: S. 31).[6]

Bei allen liturgischen Differenzen gab es bei den puritanisch-calvinistischen Gruppen drei gemeinsame Elemente: Der Glaube an die buchstäbliche Unfehlbarkeit der Bibel, das Wissen um die eigene Auserwähltheit und eine chiliastische Spiritualität. Die Sekten kämpften für ihre religiöse Freiheit gegenüber der anglikanischen Episkopalkirche und bestanden auf einer Scheidelinie zwischen Religion und königlicher Zentralgewalt. Weniger aus Gründen der Toleranz, sondern um Machtansprüche von oben abzuwehren. Das Prinzip der strikten Trennung von Kirche und Staat, die Garantie religiöser Vielfalt, wurde nach der Unabhängigkeit (1785) von der US-amerikanischen Verfassung bestätigt. Die Vorgabe, staatlicherseits keine bestimmte Religion zu privilegieren, führte paradoxerweise zu einer permanenten „Theologisierung“ des öffentlich-politischen Raums durch zivilreligiöse Verbände und Gruppen.

Anfänglich verlieh der Traum vom tausendjährigen Friedensreich den Gläubigen eine ungeheure Energie bei der Besiedlung des (angeblichen) virgin land. Doch im Laufe der Zeit zeigten sich immer mehr spirituelle Verschleißerscheinungen. Die Krise der puritanischen Bewegung speiste sich letztlich aus ihrem Erfolg: Ursprünglich eine häretische und marginalisierte Glaubensströmung, stieg sie in den Kolonien zur Leitreligion auf, deren Geistlichkeit und führende Laien den oberen Klassen angehörten. Der Puritanismus, der später zum sog. Kongregationalismus (nationale Synode auf der Basis gleichberechtigter Einzelgemeinden) mutierte, bildete zusammen mit den Anglikanern und Presbyterianern den religiösen mainstream in den Kolonien. Doch gegen die puritanische Orthodoxie formierten sich neue Gruppen, die u. a. die calvinistische Prädestinationslehre in Frage stellten: Der Opfertod Jesus habe nicht nur den Auserwählten, sondern allen Menschen gegolten. Zudem sei der Glaube das Resultat einer freien Entscheidung des Einzelnen. Die Individuen könnten an ihrem Heil selbst mitwirken und gegebenenfalls auch Gottes Gnade verwerfen. Diese universale und „subjektivistische“ Sichtweise untergrub die ideologischen Grundfesten des etablierten Puritanismus. 

Tatsächlich kam es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl in Europa wie auch jenseits des Atlantiks zu einem eindrucksvollen Aufschwung religiöser Aktivitäten. Das „Great Awakening“ erfasste vor allem die anglikanische wie die kongregationalistische Kirche in den Kolonien. Die Vertreter der neuen evangelikalen Bewegung betonten die freie Willensentscheidung des Einzelnen und die Notwendigkeit einer persönlichen religiösen Erfahrung. Mit der Propagierung einer „spirituellen Wiedergeburt“ griffen sie auf ein zentrales Moment des chiliastischen Puritanismus zurück. An die Stelle erstarrter Pfarreistrukturen sollten enthusiastische Gemeinschaften von „wiedergeborenen“ Christen treten. Hatten sich bislang religiöse Erregungen meist auf kleine Gemeindezirkel beschränkt, so erzielten die charismatischen Prediger mithilfe von Zeitungen, Flugblättern und unkonventionellen Agitationsformen eine enorme Breitenwirkung.

Angesteckt von dem neuen chiliastischen Optimismus verfassten Geistliche aus Neuengland im Jahre 1743 ein Manifest, in dem sie für ihr Land den Beginn des „Tausendjährigen Reiches“ ausriefen. Auch der Französisch-Indianische Krieg (1754-1763) galt den „Erweckten“ als Kampf gegen den (katholischen) Antichristen. Das Great Awakening vertiefte die religiöse Komponente des aufkommenden Nationalismus, schuf ein neuartiges Zusammengehörigkeitsgefühl in den Kolonien und arbeitete der kommenden Revolution zu. Aus dem Widerstand gegen die Kirchensteuern an die anglikanische Staatskirche entwickelte sich letztendlich ein Aufstand gegen das gesamte Steuersystem der englischen Krone (Bostoner Tea Party) (Jewett/Wangerin 2008: 60-75).

Seit dem 18. Jahrhundert zählen Erweckungsbewegungen zum festen Bestandteil der US-amerikanischen Kultur, die die Nation in regelmäßigen Abständen erfassen. Der Kulturhistoriker Michael Hochgeschwender (2007) weist in seiner instruktiven Studie über den US-amerikanischen Fundamentalismus darauf hin, dass der Evangelikalismus durchaus progressive Züge besaß. Die „Erweckten“ waren insoweit modern, wie sie sich für Kapitalismus und „Basisdemokratie“ einsetzten und gegen eine institutionelle Hierarchisierung der Glaubensauslegung das Recht auf eine subjektive Frömmigkeit einklagten. Letztlich speisten sich aus solchen religiösen Energien auch Bewegungen gegen die Sklaverei und den institutionellen Rassismus der US-amerikanischen Gesellschaft.

Konjunkturen des Fundamentalismus

Nach dem Ende des Bürgerkrieges (1861-1865) begann in den Vereinigten Staaten das sog. goldene Zeitalter (Gilded Age). Infolge einer rasanten Industrialisierung und Urbanisierung veränderte sich die Gesellschaft grundlegend. Soziale Klassengegensätze verschärften sich und mit der massiven Zuwanderung von katholischen Iren und Italienern, russischen Juden und „gemischtreligiösen“ Deutschen geriet die Vorherrschaft der WASP (White Anglo-Saxon Protestants) ins Wanken. Gleichzeitig gewann eine liberale Theologie an Einfluss, die sich an einer historisch-kritischen Bibelinterpretation orientierte und auch eine Öffnung gegenüber den modernen Geistes- und Naturwissenschaften propagierte.

Andere christliche Strömungen nahmen hingegen die wissenstheoretischen und soziokulturellen Umbrüche als Bedrohung wahr. Bei dem aufkommenden Fundamentalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts handelte es sich um eine weltzugewandte Bewegung, die von den urbanen Zentren ausging und deshalb nicht mit einem „hinterwäldlerischen“ 

Traditionalismus verwechselt werden darf. Ihre intellektuellen Vertreter rangen um die kulturelle Deutungshoheit im Lande und versuchten bestimmte Aspekte der Moderne zu bekämpfen. Dabei diente der Begriff des „Fundamentalismus“ zunächst als positive Selbstbeschreibung. Im Jahre 1910 sponserten amerikanische Geschäftsleute die Zeitschrift „The Fundamentals: A Testimony of the Truth“, die in hoher Auflage kostenlos an potentielle Sympathisanten (Theologen, Priester etc.) versandt wurde. Darin äußerten konservative Autoren ihre vehemente Kritik an den gottlosen Zuständen: Klassische Feindbilder waren Prostitution, Homosexualität, Glücksspiel, Alkohol, Darwins Evolutionstheorie und die historisierende Bibelinterpretation (vgl. Müller 2011).

Gegen Ende des 19. Jahrhundert kam auch eine prä-millenarische Erweckungsbewegung auf, die später eine Verbindung mit dem Fundamentalismus einging. Die Anhänger dieser Lehre waren davon überzeugt, dass die Gläubigen das „kommende Reich“ nicht selbst errichten könnten, sondern ergeben auf die Apokalypse und die Rückkehr des Messais warten müssten. Bis zu diesem Ereignis galt es am persönlichen Seelenheil zu arbeiten. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Vision der „Entrückung“, die sich auf eine Passage aus dem Ersten Brief an die Thessalonicher des Apostel Paulus stützte: Nach der Auferstehung der (christlichen) Toden, „werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen;“ (Th. 4,16-17). Gemäß der prä-millenarischen Wunschvorstellung stiegen die „Wiedergeborenen“ zur gottgegebenen Zeit in den Himmel auf, während auf Erden die Apokalypse wütete. Das Narrativ der vorzeitigen Entrückung gilt seitdem als Markenzeichen der christlichen Fundamentalisten (Jewett/Wangerin 2008: S.158f.).

Ab Mitte der 1920er Jahre erlahmten der Schwung der eschatologischen Sekten und die Evangelikalen verloren in der Öffentlichkeit zunehmend an Ansehen und Einfluss. Doch damit war die Erweckungsbewegung nicht endgültig erledigt. In den 1950er Jahre gewannen Persönlichkeiten wie Billy Graham, später spiritueller Berater verschiedener US-Präsidenten, durch charismatische TV-Predigten und Massenkonversionen in Sportstadien an Popularität. Er propagierte einen moderaten Evangelikalismus, was ihn aber nicht daran hinderte die Sowjetunion mit den satanischen Mächten Gog und Magog gleichzusetzen, die in der Offenbarung des Johannes als höllische Heerscharen erwähnt werden (Off. 20,8). Doch insgesamt mutierte die christliche Religion zu einem funktionalen Bestandteil des konsumistischen „American Way of Life“.

Die gesellschaftlichen Umbrüche von 1968 führten erneut zu einer Mobilisierung fundamentalistischer Kräfte.  Als Reaktion auf die „kulturrevolutionären“ Emanzipationsbewegungen begannen sich die Evangelikalen zu reorganisieren. Heute stellen sie eine bedeutende Meinungsmacht innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft dar, die mit Themen wie Abtreibung, Pornographie, Homosexualität und Schöpfungslehre systematisch ihren Einfluss auf die Politik zur Geltung bringen. Präsidentschaftskandidaten, die Aussicht auf Erfolg haben wollen, müssen deshalb erhebliche programmatische Zugeständnisse an die Fundamentalisten machen. Als Hochburgen der Evangelikalen gelten suburbane Mittelstandsenklaven, in denen erzkonservative Wertvorstellungen dominieren und eine panische Angst vor den städtischen Unterklassen grassiert. Die Symbiose von Neofundamentalismus und Neoliberalismus hat genau dort ihren Ursprung (Hochgeschwender 2007: S. 169f.).

Während es den Evangelikalen inzwischen gelungen ist, weite Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Evolutionslehre unwahr oder zumindest lückenhaft sei, stellen weltabgewandte Eschatologien eher eine Randerscheinung dar. Gleichwohl ist der Rapture, wie das Jüngste Gericht im Jargon evangelikaler Christen heißt, in den Medien sehr beliebt. Symptomatisch ist in dieser Hinsicht der kommerzielle Erfolg des Predigers Tim LaHaye, dessen Endzeit-Erzählungen sich unter dem Obertitel Left Behind („Zurückgelassen“, „Ausgeschlossen“) millionenfach verkauft haben und auch als Fernsehserie ein Renner wurden. Insbesondere die Idee der „Entrückung zu Jesus“ kommt hier zum Einsatz: Fugzeuge stürzen ab, Autos und Züge kollidieren, weil angesichts der bevorstehenden Apokalypse die „Wiedergeborenen“ in den Himmel aufsteigen. Als überflüssiger Zierrat des irdischen Daseins bleiben lediglich ordentlich zusammengefaltete Kleider, Brillen, Hörgeräte und Herzschrittmacher zurück. Die Ungläubigen müssen nun begreifen, dass sie ohne Rückkehr zum Heiland in die Hölle fahren werden. In einer Szene, die den Endkampf schildert, schwelgt der Autor in Visionen von blutiger Rache: Auf das bloße Wort von Jesus platzen „die Körper der Feinde auf. Die Christen müssen nun vorsichtig fahren, um nicht mit den verrenkten und filetierten Leibern von Männern und Frauen und Pferden zu kollidieren.“ (zit. nach Victor 2005: S. 30).

Eine weitere Glaubensrichtung stellt die Pfingstbewegung dar, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgekommen ist. Hier geht es um die unmittelbare Erfahrung mit dem Heiligen Geist als dritte Person des Dreieinigen Gottes. Während der Evangelikale die Richtschnur für sein Handeln in der buchstäblichen Lektüre der Bibel findet, schöpft der Pfingstbewegte seine Glaubenskraft aus der persönlichen Interaktion mit den himmlischen Mächten. Dieses Erlebnis äußert sich bei den gemeinsamen Zusammenkünften in Formen von Verzückung und Trancezuständen, die zuweilen auch von Wunderheilungen begleitet sind: Blinde werden sehend, Lahme können wieder gehen. Ähnlich wie die Evangelikalen legen die Pfingstbewegten großen Wert auf die Unabhängigkeit der lokalen Gemeinden, sie sind stark medienorientiert und es gibt eine vorbehaltlose Akzeptanz gegenüber dem kapitalistischen Reichtum. Auf dem religiösen Weltmarkt erweist sich diese Kombination von Power, Service und Money als äußerst erfolgreich: Pfingst-Gemeinden verzeichnen die größten Wachstumsraten innerhalb der christlichen Kirchen, insbesondere in Lateinamerika und Afrika. Der Urbanist Mike Davis (2007) hat darauf hingewiesen, dass evangelikal-pfingstliche Strömungen vor allem in den Slums zur Massenreligion geworden sind. Seiner Meinung nach füllen diese Bewegungen jenes ideologische Vakuum auf, das die abwesende Linke hinterlassen habe. Doch seine These, die verstärkte Zuwendung zum Religiösen hauptsächlich als „Kultur der Armut“ zu erklären, ist nicht stichhaltig. Gerade in den Umbruchsgesellschaften und Schwellenländern besteht eine hohe Affinität zu erfolgsorientierten Gruppen aus den Mittelschichten (vgl. Lanz 2010).  

Das Vermächtnis des Christentums

Parallel zur Renaissance der Religionen gibt es auch eine Renaissance der Religionskritik. Eine Reihe von kritisch-materialistischen Denkern bezieht sich in ihren Arbeiten auf die Religion, insbesondere auf das Christentum. So verhandeln Alain Badiou und Slovoj Zizek das christliche Erbe als etwas, das verteidigt werden sollte. Im Zentrum ihrer Überlegungen stehen bestimmte theologische Aussagen des Apostel Paulus, die sie für die aktuelle politische Auseinandersetzung stark machen wollen. Ein nicht unproblematisches Verfahren, werden doch hier Fragen der Genealogie (Kontinuität und Bruch) und der Übertragbarkeit (Transzendenz versus Immanenz) weitgehend ausgeklammert. 

Den beiden Philosophen geht es um das Versprechen der paulinischen Botschaft sich „an alle“ zu richten. In dem Brief des Paulus an die Galater heißt es: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Gal. 3,28) Der Apostel wendet sich dagegen, dass der Zugang zur „Wahrheit“ nur den Eliten vorbehalten ist. Nicht die Weisen und Edlen sind erwählt, sondern die Törichten und Armen (vgl. 1. Kor. 1,26-27). Damit nimmt Paulus eine radikale Umwertung der antiken Werte vor. Die Ungleichheit der Menschen – die Unterdrückung der Schwachen durch die Starken – stellte aus hellenistischer oder römischer Sicht nicht nur eine unabänderliche natürliche Gegebenheit dar, sondern war geradezu die Bedingung der Möglichkeit menschlicher (männlicher) Entfaltung.

Zizek und Badiou wollen mit dem Begriff von der „universellen Wahrheit“ nicht nur das postmoderne Differenzdenken bekämpfen, sondern sie destillieren aus ihrer Bibellektüre auch ein „starkes Subjekt“ heraus, das – angetrieben von einem unbedingten Hoffnungswillen – mit der Welt bricht, wie sie ist: „Wenn jemand zu mir kommt“, so Jesus, „und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwester und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.“ (Luk. 14,26). Und Paulus appelliert an die Gläubigen geduldig ihr Kreuz zu tragen: „Denn euch ist es gegeben um Christi willen, nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch um seinetwillen zu leiden.“ (Phil. 1,29) Was Zizek und Badiou offensichtlich fasziniert ist der Vorgang der radikalen Dezision (Entscheidung), bei dem das „Hoffnungs-Subjekt“ sich bis zur Selbstaufgabe dem Wahrheits-Ereignis unterstellt. Mit der Figur des militanten Kämpfers, der kompromisslos für das Gleichheitsprinzip der Menschen eintritt, versuchen sie an das leninistische Avantgarde-Konzept anzuknüpfen. Doch gegen solche Vorstellungen, das „stählerne Gehäuse’“ des Kapitalismus per Willensakt aufzubrechen, lässt sich eine Passage aus der Marx’schen  Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ins Feld führen: „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.“ (MEW Bd. 1: S. 386) Die Praxis des radikalen Bruchs bedarf der Allianz der Vielen.

Auch Pier Paolo Pasolini hat sich intensiv mit dem „heiligen Paulus“ auseinandergesetzt. Bereits in den 1960er Jahren plante er einen Film über den Apostel zu drehen, den er allerdings nie realisieren konnte. Das Skript wurde zwar 1977 veröffentlicht (2007 auch auf Deutsch), stieß aber auf wenig öffentliche Resonanz. Im Gegensatz zum Il Vangelo secondo Matteo verlegt Pasolini die Schauplätze der Handlung in die Gegenwart. In einer Vorrede zu dem Filmprojekt erläutert er seine Intentionen. Der Zuschauer soll begreifen, „dass der heilige Paulus hier, heute, unter uns ist“ (Pasolini 2007: S. 16). Deshalb versetzt er den Apostel in das zwanzigste Jahrhundert, behält aber die Chronologie und die inhaltlichen Aussagen des historischen Paulus bei. Die Handlung erstreckt sich bis in die 1960er Jahre. „Als Nabel der modernen Welt“ ist nun New York die Hauptstadt des Imperiums: „Der Zustand dominanter Ungerechtigkeit, der in einer Sklavengesellschaft wie dem kaiserlichen Rom herrscht, kann hier durch den Rassismus und die Lebensbedingungen der Schwarzen verhüllt zur Sprache kommen.“ (a .a .O. S. 22) Bei der letzten Fassung des Skripts greift Pasolini den Tod des Baptistenpredigers und Bürgerrechtlers Martin Luther King (1929-1968) auf, der in einer Absteige aus dem Hinterhalt erschossen wurde. Das New Yorker Hotel, in dem nach seinen Regieanweisungen der aktuelle Paulus stirbt, soll detailgenau dem historischen Schauplatz der Ermordung Kings entsprechen.

Ähnlich wie Badiou und Zizek macht Pasolini die politische Stoßrichtung der paulinischen Theologie stark: „Klar ist, dass der heilige Paulus auf revolutionäre Weise, mit der schlichten Kraft seiner religiösen Botschaft, eine Gesellschaft vernichtet hat, die auf der Gewalt des Klassenkampfs, des Imperialismus und insbesondere des Sklaventums basiert.“ (Pasolini 2007: S.17) Aber im Gegensatz zu den Philosophen versucht er auch die Gespaltenheit dieser Figur herauszuarbeiten. Für ihn ist Paulus nicht nur ein Mystiker, der von der universellen Liebe spricht, sondern auch ein doktrinärer Priester, bei dem der fanatische Pharisäer Saulus weiterhin durchscheint. Trotz seiner vehementen Kritik an den Machtverfilzungen des Katholizismus sympathisiert Pasolini mit der sog. Befreiungstheologie in Lateinamerika und dem sozialen Engagement progressiver Christen in Italien. Was den schöpferischen Austausch zwischen Marxismus und Christentum betrifft, äußert er sich in seinen späteren Schriften deutlich pessimistischer. Letztlich kann für ihn die katholische Kirche nur dann überleben, wenn sie all ihrer Macht entsagt und in die Opposition geht. 

Gegen den obszönen kapitalistischen Reichtum plädiert Pasolini für eine Politik der Agape (griech. = interesselose Liebe) im Sinne einer „Politik der Armut“: Sie verteidigt die Rechte der Armen, aber nur deshalb, um die Armut als postchristlichen Wert neu zu begründen. Diese Position eines franziskanisch inspirierten Kommunismus muss man nicht teilen, aber an der Idee der Gerechtigkeit möchte auch der Autor dieser Zeilen festhalten.

Literatur:

- Badiou, Alain (2002): Paulus. Die Begründung des Universalismus. München (Franz. Orig. 1977)

- Bloch, Ernst (1977): Atheismus im Christentum. Frankfurt am Main (Erstveröffentlichung 1968)

- Blumenberg, Hans (1974): Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Legitimität der Neuzeit“. Frankfurt am Man (Erstveröffentlichung des zweiten Teils 1966)

- Davis, Mike (2007): Planet der Slums, Berlin (Engl. Orig. 2006)

- Die Bibel (1999). Lutherische Standardausgabe mit Apokryphen. Stuttgart (Revidierte Fassung von 1984)

- Feuerbach, Ludwig (2008): Das Wesen des Christentums. Stuttgart (Der Text entspricht der dritten Auflage von 1849)

- Haag, Agathe (1981): Der Schriftsteller Pasolini. In: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin, S. 125-132 (Erstveröffentlichung 1978)

- Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986): Die Positivität der christlichen Religion (1795/1796). In: G.W.F. Hegel Werke 1: Frühe Schriften. Frankfurt am Main, S. 104-229 (Erstveröffentlichung 1981)

- Hochgeschwender, Michael (2007): Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt am Main/Leipzig

- Jewett, Robert/Wangerin, Ole (2008): Mission und Verführung. Amerikas religiöser Weg in vier Jahrhunderten. Göttingen (Engl. Orig. 2008)

- Lanz, Stephan (2010): Neue Götter und Gläubige in der Stadt. Thesen und Fragen zum veränderten Verhältnis zwischen dem Städtischen und dem Religiösen. In: dérive, Nr. 40/41, S. 32-37

- Löwith Karl (1979): Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz (Erstveröffentlichung 1953)

- Marx, Karl (2006): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW Bd.1. Berlin, S. 378-391

- ders. (1973): Thesen über Feuerbach. In: MEW Bd. 3. Berlin, S. 5-7

- Marx, Karl/Engels, Friedrich (1990): Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW Bd. 4. Berlin, S. 459-493

- Müller, Francis (2011): Die widerwilligen Zeitgenossen. Ein Blick auf die Geschichte des amerikanischen Fundamentalismus. NZZ, 27.9.

- Pasoloni, Pier Paolo (1981): Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin (Ital. Original 1975)

- ders. (2007): Der heilige Paulus. Marburg (Ital. Orig. 1977)

- Spila, Piero (2002): Pier Paolo Pasolini. Rom (Ital. Orig. 1999)

- Taubes, Jacob (1991): Abendländische Eschatologie, München (Erstveröffentlichung 1947)

- Victor, Barbara (2005): Beten im Oval Office. Christlicher Fundamentalismus in den USA und die internationale Politik. München/Zürich (Engl. Orig. 2004)

- Voegelin, Eric (1994): Das Volk Gottes. München (Engl. Orig. 1975)

- Zizek, Slavoj (2003): Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt am Main


[1] Pasolini, am 5.März 1922 in Bologna geboren, tritt 1947 unter dem Eindruck der Landbesetzungen friaulischer Bauern in die KPI ein. 1949 wird er von den „Genossen“ als „dekadenter Schriftsteller“ und „Jugendverderber“ gebrandmarkt und aus der Partei ausgeschlossen, bleibt aber sein ganzes Leben der Idee des Kommunismus verpflichtet. Insgesamt dreht er zwölf Filme, die häufig mythische oder religiöse Themen in provokanter Weise aufgreifen. Skandale und öffentliche Schmähungen sind an der Tagesordnung. Im Laufe seines Schaffenslebens muss er mehr als 30 Gerichtsverfahren (u. a. wegen Verunglimpfung von Religion) über sich ergehen lassen. Am 2. November 1975 wird Pasolini unter bis heute nicht geklärten Umständen in der Nähe von Ostia ermordet aufgefunden (vgl. u. a. Haag 1981; Spila 2002).

[2] Vor allem Löwith und Voeglin unterstellen einen direkten Weg vom Marx’schen Denken zum „Totalitarismus“ des 20. Jahrhunderts. 

[3] Das Aufkommen eschatologischer Bewegungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit korrespondierte mit der Expansion des europäischen Städtesystems. Die Stadtbewohner waren nicht vollständig in das ungebende Feudalsystem integriert und es gab ein ausdifferenziertes soziales und intellektuelles Leben. Somit existierte ein fruchtbarer Boden für neue Ideen. Führende Köpfe der chiliastischen Sekten stammten nicht aus den unteren Klassen, sondern es handelte sich vornehmlich um Kaufleute, Gelehrte, Studenten, Theologen und Priester. Sie bildeten das „Kraftzentrum“ der Erregung. Allerdings strahlte gerade in Krisenzeiten deren Unruhe auch auf andere soziale Gruppen der Gesellschaft aus, die einen Groll gegen die etablierten Mächte hegten  (Voegelin 1994: S. 44). 

[4] Die Theologie von Jean Calvin (1509-64) basiert vor allem auf der sog. Prädestinationslehre. Demnach hat Gott in seinem unergründlichen Ratschluss aus der sündigen Menschheit einige wenige zu Erlösung auserwählt. Erfolgreiches innerweltliches Handeln gilt als sichtbares Zeichen des transzendenten Heils. Das Bibelwort: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ erhält eine neue Konnotation: „Christsein“ und „Wohlhabenheit“ stellen keinen grundsätzlichen Gegensatz mehr dar. In Genf gründet der Reformator einen theokratischen Stadtstaat, wo die sittliche Lebensführung der Bürger und Bürgerinnen polizeilich überwacht wird. Religiöse und politische Gemeinschaft sind hier identisch.   

[5] Die chiliastischen Erwartungen dokumentiert anschaulich das puritanische Pamphlet A Glimpse of Sion’s Glory  (1664): Demnach gehen der Untergang „Babylons“ und der Aufstieg des „neuen Jerusalems“ mit einer Umkehrung sozialer Hierarchien einher. Als Beleg dient die Prophezeiung Jesajas im Alten Testament: „Und Könige sollen deine Pfleger und ihre Fürstinnen deine Ammen sein. Sie werden vor dir niederfallen zur Erde aufs Angesicht und deiner Füße Staub lecken.“ (Jes. 49,23) Das „gemeine Volk“ kommt nun endlich zu seinem Recht. „Ihr seht, dass die Heiligen in der Welt jetzt wenig haben; jetzt sind sie die Ärmsten und Niedrigsten von allem; aber wenn die Adoption der Söhne Gottes in Gänze vollzogen ist, dann wird die Welt ihnen gehören (…). Nicht nur der Himmel soll eurer Reich sein, sondern auch diese Welt in ihrem leiblichen Sein.“ (zit. nach Voegelin 1994: S. 38-40) 

[6] Die Auserwähltheit der US-amerikanischen Nation zählt bis zum heutigen Tage zum festen Bestandteil der politischen Rhetorik. In dem Präsidentschaftswahlkampf von 2008 bemühte u. a. die Gouverneurin Sarah Palin diesen Mythos: „Amerika ist eine Nation der Einzigartigkeit. Die leuchtende Stadt auf dem Berg sollen wir sein. (…) Keine perfekte Nation, aber zusammen stehen wir für ein vollkommenes Ideal, das heißt, Demokratie, Toleranz, Freiheit und Rechtsgleichheit“, die als Kräfte „zum Guten in dieser Welt“ einzusetzen seien (zit. nach SZ, 1.11. 2008)

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