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Anne Steckner: Antonio Gramscis Auseinandersetzung mit Religion im Spannungsfeld zwischen Unterwerfung und Widerständigkeit Gramscis Religionsverständnis ist eine schillernde Kategorie. Sie berührt unterschiedliche Dimensionen, die sich über die gesamten Gefängnishefte verteilen. An verschiedenen Stellen finden sich kulturhistorische, analytische und politisch-strategische Aspekte mit jeweils unterschiedlichen Bezügen zueinander. In Gramscis Begriff von Religion finden sich Elemente von Rationalität ebenso wie irrationaler Aberglaube, Opium und Rebellion, Fatalismus und Utopie, widersprüchlich gelebte Alltagspraxis und allumfassendes Glaubenssystem. Seine religionskritischen Passagen erstrecken sich nicht nur auf Religion im konfessionellen Sinne, sondern ebenso auf quasi-religiöse, säkulare Formen fatalistischen oder herrschaftsaffirmativen Glaubens. Gramsci führt nämlich keine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen der biblischen (oder anderer) Religionen, sondern primär eine Form-orientierte, die sich in den Kontext seiner hegemonietheoretischen Ausführungen stellt (Schirmer 1995: 16). Im Fokus seiner religionsbezogenen Überlegungen steht die Rolle von Religion in den Kämpfen um Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen und Epochen. Insbesondere interessiert ihn Religion als ideologischer Bestandteil des Alltagsverstandes. Rupe Simms (2010: 41ff.) zufolge betrachtet Gramsci die Religion ausschließlich als eine die gesellschaftlichen Verhältnisse mystifizierende, einer modernen Weltauffassung der Subalternen und ihrer Befreiung abträgliche Herrschaftsideologie. Zwar würdige Gramsci, so Simms, die protestantische Reformation durchaus als eine kulturelle Revolution, die politisch subversiv gewirkt und obendrein die bestehenden Klassenverhältnisse umgestürzt habe. Doch sei die Analyse dieser Entwicklungen wenig systematisch und nehme in Gramscis Werk vergleichsweise wenig Raum ein – im Vergleich zu seiner Auseinandersetzung mit Religion als Instrument der Unterdrückung. Auch nehme Gramsci weder die Substanz einer gegen die herrschenden Klassen gerichteten Theologie genauer in den Blick, noch diskutiere er die politischen Konsequenzen, die aus einer gegenhegemonial in Stellung gebrachten Religion resultieren können (ebd: 43f.). Letzteres wiederum ist zentraler Gegenstand von Simms’ empirischer Arbeit über die subversive Kraft von Religion in popularen Befreiungsbewegungen[1]. An solcherart Einordnung von Gramscis religionsbezogenen Auseinandersetzungen übt Jan Rehmann (1991) deutliche Kritik: Ein dichotomes Verständnis von Gramsci setze entweder religiöse Weltanschauungen einem atheistischen Materialismus diametral entgegen. Oder destilliere, wohlwollend gelesen, aus einigen Passagen in Gramscis Gefängnisheften Religion als eine spirituell-politische Kraft für Subversion, Widerstand und Befreiung heraus. In Abgrenzung zu beiden Lesarten müsse jedoch, so Rehmann, die Frage anders gestellt werden: Um Gramscis Betrachtungen für die Weiterentwicklung einer materialistischen Religionstheorie fruchtbar zu machen, setzt Rehmann einen herrschaftskritischen „analytischen Schnitt“ (Rehmann 1991: 182), der quer liegt zur oben genannter Dichotomie von Religion versus Materialismus. So ließe sich Gramscis Auseinandersetzung mit Religion übersetzen in eine Frage der Bedingungen von Handlungsfähigkeit der Beherrschten. Die eigentliche Problematik sei das spannungsreiche Verhältnis von Aktivierung einer popularen Bewegung gegenüber subalterner Passivität in Gestalt eines – religiös-konfessionell oder auch säkular oder gar atheistisch-marxistisch begründeten – Fatalismus. Es gelte, die Bedingungen gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit in den jeweiligen konkreten gesellschaftlichen Kräftekonstellationen zu analysieren, denn: „Befreiende und subaltern haltende Dimensionen können sich in der Empirie überlagern, und die gleiche ‚religiöse’ Formation kann sowohl unter dem Aspekt der ‚passiven Revolution’ als auch der ‚intellektuellen und moralischen Reform’ analysiert werden.“ (ebd.) In anderen Worten: Religion lässt sich mit Gramsci einerseits als Gegenbegriff zu gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit und Emanzipation der Subalternen begreifen. Aspekte wie gottesfürchtiger Fatalismus, hinnehmendes Durchhalten in den Verhältnissen oder duldsames Sich Fügen unter die Autorität, auch die Trost spendende Funktion von Religion kommen hier zum Tragen. Andererseits hat Religion auch prophetische Bezüge: Sie kann organisierendes Element einer Weltanschauung werden, welche die gegebenen Verhältnisse infrage stellt und auf „intellektuelle und moralische Reform“ (H13, §1: 1540) von unten drängt. Damit rückt die Frage ins Blickfeld, inwiefern in einer konkreten Situation Religion von oben aufgegriffen wird und im Dienste der ideologischen Reproduktion und Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen steht, bzw. inwiefern sie Elemente einer popularen Kritik liefert. Eine so verstandene Religionskritik könne sich dann auf „die Einpassung [der Religion] in die ideologische Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse“ konzentrieren (Rehmann 1991: 182). Sie sensibilisiert für die Produktion fatalistischer Haltungen und die Passivierung der Beherrschten durch Religion ebenso wie für widersprüchliche Situationen, „in denen der ‚Seufzer der bedrängten Kreatur’ [...] verschmilzt mit der Organisation ihrer Bedrängnis“ (ebd.: 182f.). Das heißt auch, sich von jeglicher Vorstellung einer immanenten Essenz von Religion als an sich unterdrückerisch oder an sich befreiend (aber gefangen in den falschen Händen) zu verabschieden. Religion bewegt sich stets im Spannungsfeld von Herrschaft, restriktiver Handlungsfähigkeit innerhalb der bestehenden Ordnung und den diese Ordnung herausfordernden Praxen. In der folgenden Betrachtung unterschiedlicher Facetten von Gramscis Religionsverständnis wird also analytisch getrennt, was sich in der Empirie widersprüchlich überlagern kann: Religion unter dem Aspekt ihrer passivierenden, subaltern haltenden, herrschaftsstabilisierenden Funktion einerseits und unter dem Aspekt der Infragestellung des Bestehenden und der Aktivierung der Subalternen andererseits. In einem so aufgespannten Feld lassen sich aus den religionsbezogenen Überlegungen Gramscis verschiedene Dimensionen beleuchten, die das theoretische Geländer bilden für die Analyse der Rolle von Religion in einer konkreten gesellschaftlichen Kräftekonstellation. 1. Religion und Herrrschaft Gramsci notiert sich die „Behauptung Guicciardinis, dass für das Leben eines Staates zwei Dinge absolut notwendig seien: die Waffen und die Religion“ (H6, §87: 782) und schlägt vor, diese Behauptung in „verschiedene andere, weniger drastische Formeln“ zu übersetzen: „Gewalt und Konsens, Zwang und Überzeugung, Staat und Kirche, politische Gesellschaft und Zivilgesellschaft, Politik und Moral [...]“ (ebd.). Hier taucht Religion als Konsens stiftendes, auf Überzeugung setzendes, die Zustimmung der Beherrschten förderndes Moment im Ringen um kulturelle Hegemonie in der Zivilgesellschaft auf. Religion wird nicht auf der Seite der „Waffen“, d.h. der Gewalt und der staatlichen Zwangsapparate angesiedelt, sondern im Feld der zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen lokalisiert. Zugleich schreibt Gramsci wenige Zeilen später, man habe mental nur deshalb das Mittelalter verlassen, „weil man die Religion offen als ‚instrumentum regni’ begreift und analysiert“ (ebd.). Was im Mittelalter noch eine Einheit bildete (Religion und Herrschaft), wird im Zuge der Aufklärung legitimationsbedürftig. Sofern Religion in der Moderne erfolgreich die Aufgabe erfüllt, in nicht (offen) gewaltvoller Weise und als Gegenpart zur Sprache der Waffen die Zustimmung der Subalternen zu ihrer Unterwerfung unter ausbeuterische Verhältnisse zu organisieren, trägt sie zur Passivierung der Massen und ihrer herrschaftskompatiblen Handlungsfähigkeit bei. Was die repressive Seite des Staates gegebenenfalls nicht zu erreichen vermag – Gehorsam, Besänftigung, Eintracht, Legitimation oder Zerstreuung – kann über die Indienstnahme der Religion zum Zwecke der Stabilisierung von Herrschaft erreicht werden. Kollektive religiöse Alltagspraktiken, staatlich oder kirchlich organisierte Festlichkeiten und Massenveranstaltungen, gottgefällige Vorschriften und politische Stellungnahmen der Kirche können diesem Zwecke dienlich sein. Das ist besonders in den frommen Teilen der Bevölkerung erfolgversprechend. Gramsci thematisiert bspw., dass der faschistische italienische Staat sich der Religion bediente, um seine hochgradig repressive Ordnung mit einer in tradierten Kulturbeständen und im Alltagsverstand verankerten Legitimation zu versehen. Als historisch überlieferte, kulturell verankerte Kraft und moralische Referenz für gesellschaftlich sanktioniertes Verhalten kann Religion auch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Alltagsleben vieler nicht-gläubiger Menschen haben. Religion als ein die Anpassungsleistungen belohnendes und Abweichung sanktionierendes Herrschaftsinstrument findet sich auch in Gramscis Fordismus-Studien. Gramsci untersucht im Kontext der Umbrüche in der industriellen Produktion zu Anfang des 20. Jahrhunderts die disziplinierende Funktion der von den Industriellen ins Feld geführten puritanischen Initiativen: Prohibition, Enthaltsamkeit von ‚ausschweifender’ Lebensführung und Kontrolle des Sexualmoral der Lohnabhängigen zum Zweck ihrer psycho-physischen Anpassung an eine sich neu durchsetzende Produktions- und Lebensweise, den „Amerikanismus“. Die aufmerksame und verlässliche Bedienung von Maschinen in komplex abgestufter und routineförmiger Arbeitsteilung, eingebettet in einen reglementierten Arbeitstag, erfordert eine entsprechend belastbare körperliche Konstitution, nervliche Energien und mentale Disziplinierung. Gramsci spricht von der Schaffung eines „neuen Menschentypus“ (H22, §3: 2069), der weder beim Alkoholkonsum noch in sexueller Hinsicht ein ausschweifendes, unreglementiertes, die produktiven Lebensenergien ‚sinnlos’ bindendes und von der regelmäßigen Arbeit ablenkendes Leben führen soll. Vor allem am Beispiel Henry Fords[2] analysiert Gramsci die Indienstnahme des Puritanismus zur Überwachung der Arbeiter durch die Bourgeoisie, deren eigene Alltagspraxis sich wenig um die von ihr vorangetriebenen Verbote schert. Während das Bürgertum (vor allem die Männer) bspw. über Saison-Ehen eine ausschweifendere Sexualität leben und über entsprechende Zahlungskraft die Prohibition umgehen kann (H4, §52: 532), liefert ihm der Verweis auf die puritanische Religion eine sittliche Legitimation für den „Inspektionsdienst zur Kontrolle der ‚Moralität’ der Arbeiter“ (H22, §11: 2086). Gramsci ist beeindruckt davon, „wie die Industriellen (besonders Ford) sich für die Sexualbeziehungen ihrer Belegschaften und überhaupt für die allgemeine Systematisierung ihrer Familien interessiert haben“ (H22, §3: 2073), wobei sich ihr paternalistisches Interesse in puritanische Anstands- und Moraldiskurse kleidet. Das Moment der Verallgemeinerung der puritanischen Kampagnen bspw. gegen den Alkoholkonsum manifestiert sich darin, dass diese - zunächst privaten - Initiativen in Gestalt der gesetzlich sanktionierten Prohibition schließlich „zur Staatsfunktion“ (H4, §52: 530) werden. Indem diese erzieherischen Maßnahmen „im traditionellen Puritanismus verwurzeln“ (ebd.), entwickeln sie sich zu verallgemeinerter staatlicher Ideologie, die den „psycho-physischen Transformationsprozess“ (H22, §13: 2094) der Lohnabhängigen religiös einbettet. Bernhard Walpen (1998) zitiert aus einer Gramscis Fordismus-Analysen zugrunde liegenden Feldforschung des Sozialisten André Philipp über die Situation der Arbeiter in den USA, in der Philipps Beobachtungen über die von den amerikanischen Industriellen vorangetriebene Artikulation von Ökonomie, Religion und Moral in dem Satz kulminieren: „Gott ist also nunmehr ein fordisierter Arbeiter, der die zur Herrschaft des Kapitals notwendigen Tugenden serienmäßig herstellt.“ (Walpen 1998:21) Übersetzt in die Frage der Handlungsfähigkeit der Subalternen ließe sich anschließend an Gramsci der Blick darauf richten, wie die puritanischen Kampagnen im Zuge der Durchsetzung des Fordismus als neuer Arbeits- und Produktionsweise die Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen von oben umgestaltet haben und zugleich von unten aufgenommen und angeeignet wurden. Dass bspw. die auf Haushalt und Kinderaufzucht zurückgeworfenen Ehefrauen der Arbeiter einer religiösen Legitimation von Monogamie und Alkoholabstinenz einiges abgewinnen konnten oder dass die oktroyierte sittliche Lebensweise dank vergleichsweise hoher Löhne mit einem bislang ungekannten Lebensstandard einherging, eröffnete neue Formen restriktiver Handlungsfähigkeit: gesellschaftliche Teilhabe über Konsum, kleinfamiliäre Absicherung, Kontrolle über die eigene Lebensgestaltung in moralisch reglementiertem Rahmen. Insofern lassen sich die religiös legitimierten Anstrengungen des Bürgertums in der Umgestaltung des Kapitalismus nicht auf die Ausübung von Zwang auf die Lohnabhängigen reduzieren. Zu ihrer erfolgreichen Verallgemeinerung bedarf es ebenso der verinnerlichten Gewohnheit und aktiven Aneignung der neuen Lebensweise durch die Beherrschten. Doch Zustimmung von unten ist nichts Selbstverständliches, sie will organisiert sein. 2. Religion, Institution Kirche und Organisierung der Subalternen Gramscis ausführliche Auseinandersetzung mit Religion und Praxis der katholischen Kirche Italiens interessiert sich für deren allumfassende Weltanschauung und organisierende Kraft. Unterschiedliche Passagen der Gefängnishefte kreisen um den Katholizismus als (beanspruchte) gesellschaftliche Totalität, die keine partikularen Ideologien duldet, und dessen Institutionen und Autoritäten viel Mühe darin investieren, mögliche Spaltungen zwischen Klerus, Intellektuellen und Volk zu verhindern: „Die Stärke der Religionen und besonders der katholischen Kirche bestand und besteht darin, dass sie die Notwendigkeit der doktrinären Vereinigung der gesamten ‚religiösen’ Masse aufs lebhafteste spüren und dafür kämpfen, dass die intellektuell höheren Schichten sich nicht von den niederen ablösen.“ (H11, §12: 1380) Das erfordert die entsprechende Fähigkeit der geistlichen Intellektuellen, eine kollektiv erfahrbare Verbindung unter den Gläubigen herzustellen und die Universalisierung der eigenen Weltauffassung auch in anderen Gesellschaftsbereichen (Wissenschaft, Kunst, Bildung etc.) voranzutreiben. Wenngleich Gramscis analytische Fähigkeit, hegemoniale Stärken auch beim Gegner nüchtern zu analysieren, zunächst befremden mag – wenig verwundert, dass er sich maßgeblich für die Momente interessiert, in denen die ideologische Einbindung unterschiedlicher Gruppen nicht gelingt oder das Band zwischen ‚oben’ und ‚unten’ zu reißen droht. Die alltäglichen Formen der Religiosität sind in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verschieden, oft eine synkretische Ansammlung disparater Glaubenselemente, insofern Klassenverhältnisse die lebenspraktische Aneignung von Religion durchziehen: Da die „Popularreligion [...] krass materialistisch“ (H4, §3: 462) sei, d.h. der Bewältigung der aus ungleichen materiellen Lebensverhältnissen erwachsenden Anforderungen verpflichtet, sei die „offizielle Religion“ der geistigen Eliten bemüht, diesen Verhältnissen entsprechend „sich nicht von den Massen zu lösen, um nicht zur Ideologie begrenzter Gruppen zu werden“ (ebd.). Gramsci thematisiert Religion als eine „totale Praxis“ (Simms 2010: 41) – nicht insofern sie die Beherrschten total vereinnahmt (das tut sie auch), sondern indem es ihr über lange Perioden gelingt, integraler Bestandteil und Grundlage einer gesellschaftlichen Totalität zu sein. Doch die organisierende Kraft durch die Kirche unterliegt geschichtlichen Veränderungen. In den kulturhistorischen Fragmenten über die gesellschaftlichen Umbrüche seit dem Mittelalter betont Gramsci, die katholische Kirche sei besonders erpicht darauf gewesen zu verhindern, „dass sich ‚offiziell’ zwei Religionen bilden“ (H11, §12: 1380). In diesem Kampf habe die Kirche einiges an Bindekraft eingebüßt – Produkt eines Prozesses, „der die gesamte Zivilgesellschaft umgestaltet und der en bloc eine zersetzende Kritik der Religionen enthält“ (ebd.). Dieser geschichtliche Prozess spiegelt die tiefgreifenden sozialen Veränderungen im Zuge der Aufklärung wider. Gramsci übersetzt die damit einhergehende Frage nach der Bedeutung der Religion in der Moderne in eine Frage der Organisierung der Gemeinschaft der Gläubigen durch um Führung ringende, zivilgesellschaftliche Gruppen. Solange vom Mittelalter bis in die Renaissance „die Religion der Konsens“ und „die Kirche [...] die Zivilgesellschaft“ (H6, §87: 782) waren, d.h. die herrschenden Eliten die Kirche als ihre „eigene kulturelle und intellektuelle Organisation“ (ebd.) betrachteten, stellte sich diese Frage der erfolgreichen (oder weniger erfolgreichen) Organisierung nicht. Religion ging in der gesellschaftlichen Totalität auf. Erst im Zuge von Reformation und Aufklärung muss die Kirche sich zunehmend der Herausforderung stellen, disparate gesellschaftliche Kräfte zu vereinigen und widerständige Bewegungen in ihre Gemeinschaft zu reabsorbieren. Gramsci interessiert sich besonders für den Umgang der Kirche mit Dynamiken gesellschaftlichen Wandels, die sie nicht unter Kontrolle hat. Da vieles „im Katholizismus in Veränderung begriffen“ (H14, §26) sei, zeige sich der Klerus beunruhigt darüber, dass es ihm nicht mehr gelingt, „diese molekularen Transformationen zu kontrollieren“ (H14, §26: 1652). Eine erstarkende Laien-Bewegung innerhalb des italienischen Katholizismus trägt einen neuen „Geist“ in die Kirche. Gramscis Interesse gilt insbesondere den popularen religiösen Kräften innerhalb dieser Laien-Bewegung, deren Aufkommen Ausdruck unüberbrückbarer Widersprüche war und einen Bruch innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen markierte. Dieser Bruch konnte nur geheilt werden, so Gramsci, indem erstens die Kirche ihre Intellektuellen eisern disziplinierte und indem sich zweitens neue, durch starke Massenbewegungen getragene religiöse Bettelorden wie die Dominikaner oder Franziskaner herausbildeten (H11, §12: 1383). Diesen Orden gelang es, zentrifugale populare Kräfte wieder an die Kirche zu binden und eine „neue religiöse Einheit“ (H11, §12: 1383) zu begründen. Mit der Gegenreformation kam diese Dynamik allerdings zum erneuten Stillstand. Das Aufkommen eines Ordens wie die Gesellschaft Jesu, „reaktionären und autoritären Ursprungs“ (ebd.), betrachtet Gramsci als exemplarischen Ausdruck der „Erstarrung des katholischen Organismus“ (ebd.), dessen disziplinarischer Charakter nun wieder stärker in den Vordergrund rücke. Eine autoritär erstarrte und unbewegliche Religion setze keine gesellschaftlichen Erneuerungskräfte mehr in Bewegung. Diese Erstarrung zeige sich exemplarisch im geringen Erfolg der religiösen Popularliteratur: „Diese katholische Literatur verströmt den Schweiß jesuitischer Apologetik wie der Moschusbock und langweilt mit ihrer kruden Dürftigkeit.“ (H21, §5: 2046) Bereits mit dem Erstarken der mittelalterlichen Handelsstädte, spätestens aber im Zuge der bürgerlichen Revolution von 1848 schwindet die übergreifende Funktion des Katholizismus gegenüber anderen Ideologien: Als Philosophie, als politisches Programm und als Lebensauffassung tritt der bürgerlich-atheistische Liberalismus im Kampf gegen den Absolutheitsanspruch der Religion siegreich hervor (H1, §38: 88). Die Kirche übt nicht mehr das „Monopol der kulturellen Führung“ (H12, §1: 1507) aus, ihre Religion ist „keine globale ideologische Kraft mehr“ (H20, §2: 2016). Insofern Kirche nur noch eine untergeordnete Kraft neben anderen ist, „'muss' die Religion eine eigene Partei haben [...]“ (H1, §38: 88). Der Katholizismus wird „von einer totalitären Auffassung der Welt zu einem bloßen Teil derselben“ (H1, §139: 183), zu einer partikularen Ideologie. Ihre Parteiwerdung geschieht in Gestalt der katholischen Volkspartei Partito Populare Italiano (PPI). Der PPI entstand nicht auf Initiative des Klerus. Seine Gründung wurde maßgeblich von katholischen Laienbewegungen und lokalen Organisationen getragen, die sich, mit weltlichen Fragen des (Über-)Lebens konfrontiert, um mehr Repräsentanz im politischen Leben bemühten. Die Partei setzte sich keineswegs nur aus Bauern, Angestellten und kleinen Pächtern zusammen, sondern war eine klassenübergreifende Partei vorwiegend ländlich geprägter Katholiken, auch der Großgrundbesitzer, alteingesessenen Aristokratie, mittleren Berufsständen sowie eines linken Flügels der ländlichen Arbeiterbewegung. Die Anhänger des PPI spalteten sich in den 1920er Jahren, ein Flügel wechselte zur sozialistischen Partei, der andere wurde Anhänger der Faschisten um Mussolini (vgl. Fulton 1987: 212). Gramscis Auseinandersetzung mit den historisch je spezifischen Bemühungen des italienischen Katholizismus, sich als gesellschaftliche Kraft zu reorganisieren, zeigt: Religion ist nichts Statisches, Überhistorisches, mit einer metaphysischen Essenz Ausgestattetes. Sie „wandelt sich molekular“ (H7, §1: 861) innerhalb der sich durchsetzenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse. Modernes Gedankengut wird partiell absorbiert und gemäß den eigenen Zwecken umgearbeitet, z.B. durch die Zulassung katholischer Arbeitervereine und die Etablierung von landwirtschaftlichen Kooperativen, Zeitungen, Clubs und Schulen (vgl. Pozzolini 1970: 129; Fulton 1987: 212). Exemplarisch für die religiöse Erneuerung innerhalb des Katholizismus beschäftigt sich Gramsci immer wieder mit der Azione Cattólica (AC), die im Sinne der katholischen Soziallehre Kirche und Gesellschaft mitgestalten will. Diese reformorientierte Laienbewegung ist die „Reaktion auf den Glaubensabfall ganzer Massen“, auf die „massenhafte Überwindung der religiösen Weltauffassung“ (H1, §139: 183). Als organisches Bindeglied zwischen Klerus und Laien mit kirchenrechtlichem Status wird die AC exemplarisch für den Versuch einer zivilgesellschaftlichen Erneuerungsbewegung thematisiert, die Einheit von Kirche, Intellektuellen und „den Einfachen“ wiederherzustellen – teilweise mit Mitteln gewaltförmiger Integration. Diese Erneuerung hat klare Grenzen, sobald das innerkirchliche kritische Aufbegehren der Laien die Fundamente der gesellschaftlichen Ordnung berührt. In der Jesuiten-Zeitschrift Civiltà Cattólica wird gar befürchtet, ein wichtiges Herrschaftsinstrument einzubüßen, sollte die „religiöse Einheit des Vaterlandes“ untergraben werden: „[...] ’lehrt man den Aufstand gegen die Kirche, indem man sie als einfache menschliche Gesellschaft darstellt, die sich Rechte anmaßen würde, die sie nicht hat, dann trifft man indirekt auch die Zivilgesellschaft, und die Menschen beginnen jeglichem Joch gegenüber unduldsam zu werden. Denn sobald das Joch Gottes und der Kirche abgeworfen ist, welches andere wird sich finden, das den Menschen zügeln und ihn zur harten Pflicht des täglichen Lebens zwingen könnte?’“ (H8, §15: 951) Derartige Aussagen waren Gramscis Einschätzung nach in der Civiltà Cattolica häufiger zu lesen. Die Sorgen der Jesuiten stellt er in den Kontext des unermüdlichen Bemühens der katholischen Kirche, das klassenübergreifend einigende Band zwischen Herrschenden und Beherrschten immer wieder neu zu knüpfen. Einen solchen Versuch des Bündnisses zwischen Intellektuellen und Subalternen haben die Philosophen des italienischen Idealismus, so Gramscis Kritik, weder unternommen noch angestrebt. Mit ihrer Kritik an göttlichen Transzendenz-Vorstellungen seien sie der Religiosität in breiten Teilen der Bevölkerung gegenüber gleichgültig, lebensweltfern und elitär geblieben, statt sich mit der tief verwurzelten Popularreligion kritisch auseinanderzusetzen. Eine ihrer „größten Schwächen“ bestünde darin, dass sie es nicht verstanden hätten, „eine ideologische Einheit zwischen dem Unten und dem Oben zu schaffen, zwischen den ‚Einfachen’ und den Intellektuellen.“ Dass der Idealismus sich „den kulturellen Bewegungen des ‚Zum-Volke-Gehens’ abgeneigt gezeigt“ (H11, §12: 1381) habe, reduzierte die Auseinandersetzung mit Religion auf ein akademisches Schattengefecht ohne Bezug zum Alltagsverstand derjenigen, denen Religion Trostspender und rationale Orientierung im täglichen (Über-)Leben war. Auch den der Religion gegenüber aufgeschlossenen Philosophen sei es nicht gelungen, Religion als ein „Element des Zusammenhalts zwischen dem Volk und den Intellektuellen“ (H9, §55: 1116) für gesellschaftliche Veränderungen kritisch aufzugreifen. Die Distanz zwischen der Welt der bürgerlichen Intellektuellen und dem Alltagsleben der lohnabhängigen Massen sei schlicht zu groß gewesen (H3, §63: 383ff.). Gramscis Überlegungen stehen unter dem zeithistorischen Eindruck des katastrophalen Scheiterns der proletarischen Kräfte und der Hilflosigkeit der liberalen bürgerlichen Ideologie gegenüber dem italienischen Faschismus. Zugleich weiß er, dass „[...] das religiöse Band, in normalen Zeiten gelockert, kräftiger und aufnahmefähiger wird in Zeiten großer moralisch-politischer Krisen, wenn die Zukunft voll von Sturmwolken erscheint“ (H1, §48: 124). Krisenhafter Umbruch, Religiosität und drohende Barbarei sind Bestandteile seiner Analyse der besonderen geschichtlichen Situation. Angesichts der Zersplitterung der Arbeiterklasse treibt ihn die Frage um, wie ein Bündnis zwischen unterschiedlichen Gruppen von Subalternen und progressiven Intellektuellen im Dienste einer befreienden Philosophie der Praxis geschmiedet und auf Dauer gestellt werden kann, d.h. in Krisenmomenten belastbar bleibt. Zwar orientiert sich Gramsci an den erzieherischen Methoden der katholischen Kirche und ihren Versuchen, dieses Band immer wieder neu zu knüpfen. Doch verbindet er mit der Organisierung der Subalternen eine völlig gegensätzliche Zielsetzung. Auch in der Art und Weise, wie die Führenden ihr Verhältnis zu den Massen gestalten, unterscheiden Gramscis Überlegungen sich fundamental von denen der Kirche und der bürgerlichen Intellektuellen wie Croce und Gentile. Während der Katholizismus die Massen in duldsamer Passivität, ritualisierter Gefolgschaft und gläubiger (d.h. nicht überzeugter) Abhängigkeit hält, kann der Idealismus zwar die Vorstellung einer göttlichen Transzendenz und Lenkung kritisieren, aber in den breiten Massen nicht Fuß fassen. Letzterer bleibt elitär, weil er die gesellschaftlichen Bedingungen nicht reflektiert, unter denen Gottlosigkeit, radikale Immanenz und Freiheit für die Subalternen als eine wirklich befreiende Praxis erfahrbar werden kann. Die Philosophie der Praxis indes will die passivierten Massen aktivieren und in diesem Prozess der Aktivierung ihren religiös durchdrungenen Alltagsverstand kritisch ausarbeiten, d.h. den bizarr zusammengesetzten, unreflektierten, intuitiven Glauben zu einem kritischen Bewusstsein erziehen. Es gilt also, Gramscis interessierte Beobachtungen am Katholizismus Italiens zusammenzulesen mit seiner Einschätzung, dass die Religion diesen Zusammenhalt mit dem Interesse praktiziert, die Intellektuellen zu disziplinieren und die Subalternen subaltern zu halten: Folglich „[...] darf man die Haltung der Philosophie der Praxis nicht mit der des Katholizismus durcheinanderbringen. Während jene einen dynamischen Kontakt unterhält und bestrebt ist, fortwährend neue Schichten der Massen zu einem höheren kulturellen Leben emporzuheben, ist diese bestrebt, einen rein mechanischen Kontakt aufrechtzuerhalten, eine äußerliche Einheit, die besonders auf der Liturgie und den Kult gründet, der spektakulärer suggestiv auf die großen Massen wirkt.“ (H16, §9: 1813). Statt dass die Subalternen in süßem Weihrauch eingelullt das irdische Dasein ertragen, geht es Gramsci um einen wechselseitigen und gemeinsamen Lernprozess mit dem Ziel der kollektiven Emanzipation aus den „geistlosen Zuständen“ (Marx). Dabei erscheint ihm wichtig, dass die führend und organisierend Tätigen „bei der Arbeit der Ausbildung eines dem Alltagsverstand überlegenen und wissenschaftlich kohärenten Denkens niemals verg[e]ss[en], mit den ‚Einfachen’ in Kontakt zu bleiben“ (H11, §12: 1381). Dies tun sie nicht im Sinne eines Anbiederns an die Massen oder einer Heroisierung der Unterdrückten, auch nicht als der Bewegung äußerliche „Folklore-Forscher“ (H11, §67: 1490), sondern mit dem Ziel, „gerade in diesem Kontakt die Quelle der zu untersuchenden und zu lösenden Probleme“ (H11, §12: 1381) zu entdecken. Gramscis Bedingung für eine kritische, befreiende Auseinandersetzung der Intellektuellen mit den religiösen Ablagerungen im Alltagsverstand ist klar: „Nur durch diesen Kontakt wird eine Philosophie ‚geschichtlich’, reinigt sie sich von den intellektualistischen Elementen individueller Art und wird ‚Leben’.“ (H11, §12: 1381) 3. Religion und gesellschaftliche Transformation Wenngleich Gramsci den idealistischen Philosophen in der Tradition Benedetto Croces intellektuelle Elfenbeinturm-Akrobatik vorwirft, so stellt er zugleich fest, dass auch Croce sich für die gesellschaftlichen Bedingungen von Befreiung interessierte und der Religion darin einige Aufmerksamkeit widmete. Anschließend an Marx’ Thesen über Feuerbach wirft Croce die Frage auf, ob es möglich sei, religiöse Weltauffassungen zu überwinden, ohne augenblicklich für Ersatz zu sorgen, für eine substituierende ‚Droge’. Seine Antwort ist eindeutig: Man könne, so Croce, „die Religion dem Mann aus dem Volk nicht entreißen, ohne sie sogleich durch etwas zu ersetzen, das dieselben Bedürfnisse befriedigt, durch welche die Religion sich gebildet hat und noch fortbesteht“ (H7, §1: 860; H10.II, §41.I: 1303). Gramsci scheint diese Frage sehr zu beschäftigten, da er Croce hierzu an mehreren Stellen der Gefängnishefte zitiert. „Es ist etwas Wahres an dieser Aussage, aber ist sie nicht auch ein Eingeständnis der Unfähigkeit der idealistischen Philosophie, eine integrale Weltauffassung zu werden?“ (ebd.) Worin besteht diese Unfähigkeit? Croce bleibt Gramsci zufolge an dem Punkt stehen, wo es gilt, die den herrschenden Verhältnissen geschuldeten Bedürfnisse der Subalternen ersatzweise durch etwas anderes als Religion zu befriedigen. Dieses Andere mag zwar weniger ‚borniert’ und ‚rückständig’ sein, rüttelt aber nicht an den gesellschaftlichen Bedingungen, welche die Religion in ihren Funktionen als Herrschaftsinstrument, Trostspender, Lebenspraxis oder Alltagsrationalität überhaupt erst notwendig machen. Außerdem begnügten sich (der ‚spätere’, weniger religionskritische) Croce und Gentile auf scheinheilige Weise damit, „den alten Grundsatz wieder hervorzuholen, wonach die Religion notwendig fürs Volk ist“ (H10.II, §41.I: 1304). Gemäß Croce, der sich in seiner kurzen Zeit als Minister für Unterrichtswesen der Regierung Giolitti für den obligatorischen Religionsunterricht an den Schulen stark machte, braucht das Volk die Religion, während Croces Atheismus, so Gramsci ironisch-spitz, „einer von Herren“ sei (H10.II, §41.IV: 1311), den die gebildete Kulturaristokratie sich leisten kann. Diese paternalistischen Einstellung – Aufklärung und Philosophie für die Elite, Folklore und Religion fürs Volk – wird von Gramsci scharf kritisiert. Seine Kritik gilt ebenso dem Philosophen Gentile, Bildungsminister in Mussolinis erstem Kabinett. Dieser führte eine nach ihm selbst benannte Schul- und Hochschulreform durch, in deren Folge Religion als reguläres Fach an den Grundschulen wieder eingeführt wurde (vgl. H7, §1: 860; H8, §200: 1054; H10.II, §41.I: 1304). Diese Einführung, schreibt Gramsci, „besitzt tatsächlich ihre Entsprechung in der Auffassung von der ‚gut fürs Volk seienden Religion’ (Volk = Kind = zurückgebliebene Geschichtsepoche, der die Religion entspricht usw.), das heißt im Verzicht auf die Erziehung des Volkes usw.“ (H8, §200: 1054) In dieser klaren Formulierung wird Gramscis Abgrenzung vom laizistisch verbrämten Paternalismus deutlich. Statt junge Menschen mit dem Kanon religiöser Erziehung zu beglücken, wäre die Bedeutung von Religion in einer herrschaftsförmigen Gesellschaft ernst zu nehmen, um religiöse Weltauffassungen kritisch auszuarbeiten und in einem kollektiven Lernprozess mit dem „Geist der Abspaltung“ (H3, §49: 374) anzureichern. Allerdings hätten die von Gramsci kritisierten Philosophen noch nicht einmal versucht, „eine Auffassung zu konstruieren, welche die Religion in der Kindererziehung ablösen könnte“ (H11, §12: 1380). In diesem offensichtlichen Verzicht auf eine die Massen aktivierende, sie zu (Selbst-)Kritik erziehende Philosophie offenbare sich der herrschaftskonforme Paternalismus von Croce und Gentile. Statt der Religion etwas Progressives entgegenzusetzen, wird die Bevölkerung zum unselbständigen Kind, zum Erziehungsobjekt degradiert. Anders als Croce und Gentile treibt Gramsci die Frage um, wie die Philosophie der Praxis einen produktiv-kritischen Umgang mit Religion als Massenphänomen im Prozess gesellschaftlicher Transformation bewerkstelligen kann. Anschließend an das von Croce formulierte Problem – „dass man die Religion nicht zerstören darf, wenn man nichts hat, um sie in der Seele der Menschen zu ersetzen“ (H8, § 155: 1029) – wirft Gramsci die Frage auf: „Aber wie schafft man es zu verstehen, wann eine Ersetzung vollzogen ist und das Alte zerstört werden kann?“ (ebd.) Dieser Punkt ist ihm infolge seiner langjährigen Erfahrungen sowohl mit der ländlichen Bevölkerung Sardiniens, den Bauern des Mezzogiorno als auch mit den Turiner Arbeitern so wichtig. In der Bevölkerung Italiens habe sich keine der Reformation vergleichbare liberale Idee durchschlagend verankern können, kein Humanismus, der den Katholizismus hätte ersetzen können. Daher befände sich die Religiosität der breiten Bevölkerung in einem „elenden Zustand von Gleichgültigkeit und Fehlen geistigen Lebens“ (H3, §63: 385). Die Popularreligion habe sich mit der „heidnischen Folklore“ (ebd.) verbunden und sei in diesem Stadium verkrustet: „Die Religion verharrt im Zustand des Aberglaubens, doch ist sie auf Grund der Ohnmacht der laizistischen Intellektuellen nicht durch eine neue laizistische und humanistische Moral ersetzt worden.“ (H21, §5: 2046) Die Philosophie der Praxis steht daher vor der großen Herausforderung, den „gesunden Kern“ (H11, §12: 1379) der verkrusteten Popularreligion[3] freizulegen, kritisch aufzugreifen und in eine neue, radikal andere Weltauffassung und Praxis zu integrieren. Es gehe darum, so Gramsci, die folkloristischen und religiösen Elemente des Alltagsverstandes nicht einfach zu verurteilen, sondern – mit dem Ziel der Überwindung der herrschaftsstabilisierenden, passivierenden und sedierenden Wirkung von Religion –„anfangs abergläubische und primitive Formen wie die der mythologischen Religion“ anzunehmen und dann kraft der Intellektuellen, „die das Volk aus sich hervorbringt, die Elemente [zu] finden, um diese primitive Phase zu überwinden“ (H10.II, §41 I: 1304). Die Kritik an der Religion folgt der Einsicht, dass alle Menschen Philosophen sind und der bizarr zusammengesetzte Alltagsverstand neben reaktionären Elementen auch kritisches Neuerungspotential birgt. So verstanden erwächst die Philosophie der Praxis nicht nur aus den gesellschaftlichen Widersprüchen, bspw. auf dem Terrain der Religion. Sie ist vielmehr die „Theorie dieser Widersprüche selbst“ (H10.II, §41.XII: 1325). Diese Widersprüche im Blick geht Gramsci an wenigen Stellen der Gefängnishefte auch auf die Gesellschaft transformierende, vorantreibende, potentiell subversive Kraft von Religion ein. Er spricht anerkennend vom Urchristentum und von den religiösen Volksbewegungen des Mittelalters (H6, §78: 769f.). Besonders würdigt er die Ketzerbewegung: „Viele ketzerische Versuche waren Äußerungen popularer Kräfte, die Kirche zu reformieren und dem Volk anzunähern, das Volk aufrichtend.“ (H16, §9: 1813) Die lutherische Reformation und den Kalvinismus betrachtet er ebenso als Katalysatoren und Wegbereiter umfassender gesellschaftlicher Transformationen. Die von ihnen hervorgebrachte „breite national-populare Bewegung“ habe sich zu einer „höheren Kultur“ (H16, §9: 1811) entwickelt, die „populare Inkubation der Reformation“[4] gar die „soliden Grundlagen des modernen Staates in den protestantischen Nationen geschaffen“ (H4, §3: 461). Bei aller Anerkennung der ins Feld geführten religiös inspirierten Impulse fällt Gramsci jedoch nicht in verherrlichende Begeisterung für die Religion. Wenn es um den Umsturz der bestehenden Ordnung durch die subalternen Klassen geht, fällt seine historische Bewertung der Französischen Revolution weit positiver aus. Die durch die Französische Revolution angestoßene „intellektuelle und moralische Reform“ bezeichnetet er als „vollständiger als die lutheranische in Deutschland, weil sie auch die großen bäuerlichen Massen auf dem Land erfasste, weil sie eine ausgesprochen laizistische Grundlage hatte und versuchte, die Religion durch eine vollständig laizistische Ideologie in Gestalt der nationalen und patriotischen Bindung zu ersetzen“ (H16, §9: 1811). Gramscis bleibt nicht bei den Errungenschaften von 1789 stehen, sondern will die Emanzipation der „niedergehaltenen Schichten“ (H13, §1: 1540) in der gegenwärtigen Gesellschaft vorantreiben. Die „zivile Hebung“ dieser Schichten im Prozess einer umfassenden Revolutionierung der Verhältnisse sei jedoch „ohne eine vorausgehende ökonomische Reform“ unmöglich (ebd.). Gramscis Verknüpfung dieser Prämisse mit den religiösen Ablagerungen im Alltagsverstand großer Teile der Bevölkerung, denen man die Religion nicht entreißen kann, ohne dass etwas qualitativ Neues an ihre Stelle tritt, führt ihn zu folgender strategischer Forderung: „Man muss deshalb den Typus des ‚katholischen Radikalen’ schaffen, also des ‚Popolare’, man muss rückhaltlos die Republik und die Demokratie akzeptieren und auf diesem Terrain die bäuerlichen Massen organisieren, indem man den Zwiespalt zwischen Religion und Politik überwindet, indem man aus dem Priester nicht nur den geistlichen Führer (im privat-individuellen Bereich), sondern auch den sozialen Führer im politisch-ökonomischen Bereich macht.“ (H13, §37: 1617) Diese Forderung mag befremden: Soll im Kampf um ein emanzipatorisches Gesellschaftsprojekt tatsächlich der geistliche Priester zum sozialen Führer erkoren werden? Tatsächlich bleibt ungeklärt, was sich Gramsci unter dieser Art der Führung genau vorstellte, wenngleich er an anderen Stellen (H11, §67; H15, §4) darauf eingeht, was Führung und Organisierung mit dem Ziel der (Selbst-)Befreiung der Subalternen von der Führung durch die Herrschenden unterscheidet. Die bei Gramsci zuweilen anzutreffende Überpolitisierung der Religion zum Zwecke der Überwindung des Zwiespalts zwischen Religion und Politik ist kontextuell nachzuvollziehen: Religion und eine auf Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung zielende Politik auf diese Weise zusammenzudenken, macht in Gramscis Zeit die besondere Wendung seiner Überlegungen aus – schließlich konnte er bspw. die religiösen Befreiungsbewegungen Lateinamerikas noch nicht kennen, ebenso wie er die faschistische Gleichschaltung des Religiösen noch nicht gründlich reflektieren konnte. Wenngleich diese Forderung aus dem heutigen Wissen und den historischen Erfahrungen heraus nicht ungebrochen übernommen werden kann, so lässt Gramscis daran gekoppelte politisch-strategische Forderung, „rückhaltlos die Republik und die Demokratie akzeptieren“, erahnen, welch kompromissloser Auseinandersetzung Religion und ihre Träger sich auf dem Terrain der Kämpfe unterziehen müssten. Und „katholische Radikale“, die vor weltlicher Parteinahme zugunsten der Entrechteten und Geknechteten im „politisch-ökonomischen Bereich“ nicht zurückschreckten, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. In Artikulation mit einer die Fundamente berührenden Gesellschaftskritik lassen sich, so Gramscis Hoffnung, die prophetischen Bezüge von Religion als die „kolossalste Utopie, [...] die in der Geschichte erschienen ist“ (H11, § 62: 1475) von links aufgreifen und radikalisieren. Das in der Religion aufgehobene, aber uneingelöste Versprechen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verweist darauf, dass Religion nicht nur ein Herrschsaftsinstrument, sondern potentiell auch „der großartigste Versuch ist, in mythologischer Form die wirklichen Widersprüche des geschichtlichen Lebens zu versöhnen“ (ebd.). Gramsci will nicht versöhnen, er will aus der Dynamik der „wirklichen Widersprüchen“ die Kraft zur Überwindung eben dieser hochgradig widersprüchlichen Ordnung schöpfen. Wenn Religion, eingebunden in ein progressives gesellschaftliches Projekt, auch Elemente einer popularen Kritik liefert, die den Gott der Unterdrückten vom Gott der Privilegierten zu unterscheiden weiß, dann kann sie zum kollektiven Vehikel für die Sehnsucht nach Veränderung werden – in welche Richtung, ist damit nicht zwangsläufig ausgemacht, sondern hängt von den jeweiligen historisch konkreten Bedingungen, d.h. von gesellschaftlichen Kräftekonstellationen und politischen Kämpfen ab. Religion hat kein ahistorisches Wesen, sie bleibt umkämpft. Gelingt es der gesellschaftlichen Partei als Ort kollektiver Organisierung der Subalternen, Religion als ein Element des zusammenhangslosen Alltagsverstandes mit der Perspektive radikaler Veränderung des Bestehenden zu verknüpfen, so wäre Religion nicht mehr „allgemeine Theorie dieser [verkehrten] Welt, [...] ihre Logik in populärer Form“ (Marx). Sie wäre mehr als ein Seufzer, kann Projektionsfläche für den Wunsch nach etwas grundlegend Anderem sein, nach einem Reich, in dem die Ursachen der Bedrängnis beseitigt sind. In diesem Sinne ist das von Marx übernommene Opium bei Gramsci nicht nur eine sedierende Droge, sondern auch Kraft moralischen Widerstands, die Sehnsüchte beflügelt und unerfüllte Wünsche transportiert. Artikuliert mit emanzipatorischen Kämpfen könnte sie der populare Enthusiasmus im Streben nach einer ganz anderen Welt sein, einer befreiten Gesellschaft, die der Religion in ihrer jetzigen Form nicht mehr bedarf. Hier schließt der von Gramsci schon früh aufgenommene Gedanke an, wonach der Glaube an eine ganz andere Art und Weise, zu arbeiten, zu leben und zu lieben, zu denken und zu fühlen etc., nicht-kognitiv-vernunftbasierter Bestandteil gesellschaftlicher Transformation sein muss, weil er der „Forderung des wirklichen Glücks“ (Marx) Ausdruck verleihen kann. Auch die Philosophie der Praxis sei vom Glauben getragen – vom befreienden Glauben an die Möglichkeit der Emanzipation von Herrschaft und Unterdrückung. Bei Gramsci hat Glaube eine ethisch-politische Dimension, die nicht religiös sein muss (vgl. Rehmann 2001). Im Sinne von Überzeugung und praktischem Engagement ist Glaube ein wichtiges Ingredienz im Prozess der Verbreitung von Weltauffassungen in der Bevölkerung. Das „wichtigste Element“ einer Weltanschauung habe nämlich „unzweifelhaft nichtrationalen Charakter“, sei „Glaube“, und zwar „besonders an die gesellschaftliche Gruppe, der [ein Mensch] angehört“ (H11, §12: 1389). Das heißt: Auch oder gerade eine auf Befreiung zielende politische Praxis muss die nicht-rationalen Elemente des subalternen Alltagsverstands, die bizarren Gefühle, die widersprüchlichen Empfindungen ebenso wie den – oft verschütteten oder zum Schweigen gebrachten, aber nie gänzlich abwesenden – Glauben an die Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung ernst nehmen, organisatorisch aufgreifen und mit einer neuen, auf Befreiung zielenden „intellektuellen Ordnung“ artikulieren. Grundlage dafür wäre, den Glauben „in ‚populare’ Ausdrücke zu übersetzen“ (H10.I, §5: 1234) und ihn immer wieder neu mit der kollektiven Selbstermächtigung der Subalternen zu verknüpfen. Sofern diese Radikalisierung gelingt, kann der Kraft des Glaubens – kritisch ausgearbeitet – eine politisierte „Protestation gegen das wirkliche Elend“ (Marx) erwachsen und ein Prozess angestoßen werden, in dessen Verlauf sowohl der Glaube als auch die Religion in ihrer bisherigen Form aufgehoben werden müssen. Das hieße, im Prozess einer kritischen Ausarbeitung von Religion nicht nur deren heiligen Formen konsequent zu hinterfragen, sondern ebenso die der bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft innewohnende, auf Klassenherrschaft beruhende „Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven“ (Marx). Welche Richtung eine gesellschaftliche Transformation einschlagen müsste, damit Religion nicht in reaktionär-autoritäre moralische Sanktion umschlägt, deutet Gramsci in einer strategischen Überlegung zur Rolle des „modernen Fürsten“, d.h. der Partei der Subalternen, an. Perspektivisch nehme nämlich der moderne Fürst im Bewusstsein der Menschen „die Stelle der Gottheit und des kategorischen Imperatives ein, er wird die Basis eines modernen Laizismus und einer vollständigen Laisierung des gesamten Lebens und aller die Gewohnheiten betreffenden Verhältnisse.“ (H12, §1) Das heißt: Es geht Gramsci um die Infragestellung jeglicher metaphysischer, überhistorischer oder transzendenter Welt-Erklärungen und Rechtfertigungen, egal ob diese in konfessionell-religiösem oder säkularem Gewand daherkommen. Die von Gramsci geforderte „vollständige Laisierung“ meint nicht nur die Überwindung der Notwendigkeit von Religion als „allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund“ (Marx) der bestehenden Ordnung, sondern auch den Abschied vom weit verbreiteten ökonomistischen Finalismus in damals vorherrschenden Lesarten des Marxismus. Allerdings bliebe zu fragen, wie in einer genaueren Exegese des modernen Fürsten bei Gramsci der Begriff von allen etatistischen Konnotation gereinigt werden kann, um Religion anders zu beerben – im nicht-staatlichen Sinne einer „spirituality of the commons“, wie Rehmann (2012) nahelegt. Sonst mündet Gramscis Überpolitisierung in dem Versuch, „den Glauben unmittelbar an eine Parteipolitik anzuschließen“, was zur „Zerstörung seiner widerständigen Potenzen führen“ würde (Rehmann 2001). Im Anschluss an Rehmanns (1991) Vorschlag des herrschaftskritischen „analytischen Schnitts“ (s.o.) lässt sich festhalten: Der entscheidende Punkt für Gramsci ist nicht die Unterscheidung zwischen Religiosität und Atheismus oder zwischen Glaube und Vernunft, sondern die Frage danach, ob eine Philosophie, eine Weltauffassung, eine Religion oder ein bestimmter Glaube der Handlungsfähigkeit der Subalternen und ihrer intellektuellen Unabhängigkeit im Sinne einer schrittweisen Emanzipierung von den herrschenden Ideologien förderlich ist oder aber die Massen mit Heilsversprechen vertröstet und passiv hält. Literatur Fiori, Guiseppe 1979: Das Leben des Antonio Gramsci. Rotbuch-Verlag, Berlin. Fulton, John 1987: Religion and Politics in Gramsci: An Introduction; in: Sociological Analysis 1987, Vol. 48, No. 3: pp. 197-216. Fürstenberg, Gregor 1997: Religion und Politik: die Religionssoziologie Antonio Gramscis und ihre Rezeption in Lateinamerika. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz. Gramsci, Antonio 1991ff: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe (10 Bände). Argument-Verlag, Hamburg. Pozzolini, Alberto 1970: Antonio Gramsci. An Introduction To His Thought. Pluto Press, London. Rehmann, Jan 1991: Gramsci und die Religionsfrage; in: Widerspruch 21/91: S. 179-183. Rehmann, Jan 2001: Glauben. Stichwort im HKWM Band 5, Argument-Verlag, Berlin. Rehmann, Jan 2012: Gramscis Bedeutung für eine kritische Ideologietheorie (unveröffentlichter Vortrag am 3. Juli 2012 im Rahmen des Gramsci-Lesekreises der Rosa-Luxemburg-Stiftung) Schirmer, Dietrich 1995: Anmerkungen zu Äußerungen von Antonio Gramsci zur Religion; in: Berliner Dialog-Hefte, Heft 4/95 (24): S. 16-23. Simms, Rupe 2010: A Gramscian Analysis of the Role of Religion in Politics. Case Studies in Domination, Accomodation and Resistance in Africa and Europe. The Edwin Mellen Press, Lewiston/Queenston/Lampeter. Walpen, Bernhard 1998: Zur Bedeutung André Philipps für Gramsci. Oder: Gott stellt als fordisierter Arbeiter die Tugenden serienmäßig her; in: Hirschfeld, Uwe 1998 (Hg.): Gramsci-Perspektiven. Argument-Verlag, Hamburg. [1] Im Anschluss an Simms lässt sich festhalten: Hätte Gramsci sich tiefer mit den (teils religiös fundierten) antikolonialen Kämpfen des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt oder die befreiungstheologischen Impulse innerhalb der katholischen Kirche Lateinamerikas noch erlebt, so hätten sich manche seiner religionsbezogenen Überlegungen womöglich etwas verschoben. (vgl. Fürstenberg 1997) [2] Konkret geht es um dessen Autobiografie: My Life and Work, New York 1922. [3] Gramsci spricht nicht vom “gesunden Kern” der Religion. Hier geht es um eine zum Alltagsverstand analoge Indienstnahme dieses Gedankens: Der buon senso, gesunde Menschenverstand, ist der “gesunde Kern” des Alltagsverstands. Ich halte diese analoge Anwendung auf die Popularreligion für folgerichtig. [4] Ein Beispiel für diese “populare Inkubation der Reformation” liefern die sozialrevolutionären Bestrebungen eines Thomas Müntzer im Kontext der Bauernkämpfe des 16. Jahrhunderts. Dass und wie Religion hier zu Quelle für die Propagierung einer gewaltsamen Befreiung der Bauern werden konnte, lässt sich mit Gramsci denken. |
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