|
Interview mit Yann Moulier-Boutang Das vorliegende Interview erschien auf Deutsch erstmals 1993 in „Strategien der Unterwerfung - Strategien der Befreiung.“ Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 5, Schwarze Risse Verlag Berlin und wurde um einige damals unmittelbar aktuelle Passagen gekürzt. (Anm. d. Red.) Sprechen wir zunächst über die Migrationsbewegungen aus dem Süden der Welt und aus dem Osten in Richtung „entwickelter Norden“, insbesondere in Richtung Westeuropa. Wie sind sie zusammengesetzt? Wie werden sie sich in Zukunft entwickeln? Für alle entwickelten Länder, die sogenannten industriellen Demokratien, ist die internationale Immigration der Arbeitskraft nichts Neues. Mehr und mehr „ethnisiert“ werden alle unqualifizierten Arbeiten, die im Rahmen der gesellschaftlichen Aufspaltung und der kapitalistischen Arbeitsteilung auf den untersten Stufen der Hierarchie angesiedelt sind: d.h. sie werden immer stärker von ausländischen ImmigrantInnen besetzt, die hauptsächlich aus dem Süden der Welt und heute auch aus dem Osten kommen, der hier nun wieder eine Rolle spielt. Die Arbeitskraft der EinwandererInnen beläuft sich in quantitativer Hinsicht auf 8% bis 15% in den USA und in Westeuropa, hier z. B. in der Schweiz und in Korsika sogar bis 30%. Das ist allein deswegen schon wichtig, weil dieser Anteil innerhalb der zahlenmäßig rückläufigen ArbeiterInnenklasse immer mehr an Gewicht gewinnt. Natürlich kann man das nicht strikt verallgemeinern, weil dieser Prozess nicht in allen Ländern Westeuropas gleich verläuft. Es gibt da Unterschiede, z. B. gibt es in manchen Ländern Arbeitskräfte aus ehemaligen Kolonien, und andere Länder haben „eigene“ Anwerbungsländer. Die Migration aus dem „unterentwickelten Süden“ in den „entwickelten Norden“ wird mit Sicherheit weitergehen, sie wird nicht abnehmen. Schon allein deswegen nicht, weil – im Gegensatz zu dem, was von verschiedenen Seiten verkündet und propagiert wird – die zunehmende Migration nicht Folge der Stagnation ist, sondern von der Entwicklung selbst produziert wird: Gerade in der ersten Entwicklungsphase werden enorme Massen an Arbeitskraft freigesetzt. Zum Beispiel hat die erste Phase des „Aufschwungs“ im Mezzogiorno [Süditalien] eine riesige Welle der Binnenmigration und der Auswanderung in andere Länder ausgelöst. Daher ist die Annahme, das Immigrationsproblem könnte mit einem Investitionswachstum im Süden angegangen und reguliert werden, völlig absurd. Ein Investitionsfonds von sagen wir 0,5% bis 1% des Bruttosozialprodukts der Länder Westeuropas übersetzt sich sofort, wenn er nicht in den Taschen irgendeines lokalen Mobutus landet, in mehr Emigration und mehr Druck in Richtung Emigration. Daher ist der Migrationsdruck heute stärker denn je! Umso mehr gilt dies vor dem Hintergrund, dass Kriege wie am Golf und die politischen Umschwünge im Osten neue Migrationen auslösen, und zwar Flüchtlingsströme. Grundlegend ist bis heute, dass die 75er Krise – die Phase der Rezession, die dem Ölschock von 1973 folgte – den Druck in Richtung Emigration nicht einschneidend reduziert hat, obwohl damals der entwickelte Norden (außer den USA) die staatlich geförderte Einwanderung beendete. Diese Abschottung hat die Einwanderung in keiner Weise zum Verschwinden gebracht, sie hat sie schlicht zur massenhaften illegalen Immigration gemacht. [1] Dann ergeben sich neue Umstände, hervorgerufen durch den Zusammenbruch der Länder des sogenannten realen oder real existierenden Sozialismus. Es ist allerdings noch nicht abzusehen, ob es dadurch eine große Welle von internationaler Emigration geben wird. Wir wissen z. B., dass die Migrationen aus der UdSSR nach Israel konstant geblieben sind, selbst als die Sowjets sie je nach internationaler Lage und Krisenentwicklung im Nahen Osten blockiert oder begrenzt hielten. Andererseits machen die Einführung des Markts und die zunehmende soziale Ungleichheit eine starke Zunahme der Migration in den nächsten Jahren wahrscheinlich. Bei einer kürzlichen Meinungsumfrage haben 30% der Jugendlichen in Moskau erklärt, sie seien bereit, die UdSSR in Richtung USA und Westeuropa zu verlassen. Selbstverständlich werden die Einführung des Markts, die Spielregeln des Kapitalismus und der Übergang zum Kapitalismus Emigration produzieren, wie wir am Beispiel der deutschen Vereinigung sehen konnten. Sie wäre nicht so schnell und heftig verlaufen, wenn es nicht die Migrationsbewegung gegeben hätte, die die Regierung der DDR in die Knie gezwungen hat. Wenn es zu in gewisser Weise positiven politischen Veränderungen von unterdrückerischen autoritären Systemen kommt, die allein schon durch ihre Existenz den Wunsch nach Flucht genährt hatten, dann kann die Binnenmigration in der UdSSR sehr viel stärker werden, die bis zu diesem Zeitpunkt durch das System der internen Pässe scharf reglementiert und in Schranken gehalten worden war. Bei einer Zunahme der Binnenmigration – ob sie eintritt, hängt ausschließlich von der Entwicklung der politischen Situation im Osten und in der UdSSR ab – könnte die Migration Richtung Westen viel geringer ausfallen, als allgemein angenommen wird, aufgrund der rein ökonomischen Analyse der Situation: d. h. Arbeitslosenrate, Erwartungshaltungen in Bezug auf Reichtum, Wohlstand und Konsum etc. In jedem Fall wird es wieder dazu kommen, dass die Migration aus dem Osten – nach der Unterbrechung ab 1948 mit dem „Eisernen Vorhang“ und dann besonders seit dem Mauerbau in Berlin 1961 – zumindest wieder zu der alten Konstante wird, wie sie seit dem letzten Jahrhundert in Europa gängig war. Es ist also auf keinen Fall ein Rückgang der Migrationsströme aus dem Osten zu erwarten, sondern vielmehr, dass sie mindestens wieder das Niveau vor dem Zweiten Weltkrieg erreichen werden, als Länder wie Polen und die Tschechoslowakei eine dominante Rolle in der Emigration spielten. Heute könnten Rumänien und Bulgarien diese Bedeutung übernehmen. Das ist etwas schematisch, aber so würde ich die großen Tendenzen der Migrationsbewegungen kennzeichnen. Mit der zweiten Frage kommen wir zur Formierung der Migrationsbewegungen, auch in geographischem Sinn, aber vor allem zur Untersuchung der Ursachen; also Angebot oder aber Nachfrage von Arbeit? Oder eine klassische Marktdialektik? Welche Migrationsbewegungen, wohin gehen sie, wo ist das Zentrum? Das ist die erste Frage, die wir uns stellen. Die Jahre nach 1975 zeichnen sich nach meiner Einschätzung vor allem dadurch aus, dass die Immigration stets von der „Unterentwicklung“ zur „Entwicklung“ verlaufen ist, vom Nichtreichtum zum gesellschaftlichen Reichtum. Das ist für alle eine eindeutige Richtung, und daher standen am Endpunkt die USA. Da jetzt Europa der größte „ökonomische Pol“ der Welt geworden ist, wird ein Teil der Migrationsbewegungen anstatt in die USA in das zuvor „blockierte“ Europa kommen. Grundlegend – und derzeit in Veränderung begriffen – ist, dass sich die Welt in mindestens drei wichtige Einwanderungszentren einteilen ließ: Aus der Karibik, aus Mexiko und dem lateinamerikanischen Karibikgürtel in Richtung USA und Kanada; aus dem Mittelmeerraum, d. h. aus Nordafrika und Südeuropa in Richtung Nordwesteuropa; und häufig übersehen, Südafrika, das die Migrationsbewegungen von Angola bis Mosambik, von Tansania bis Namibia aufsaugt. Man sollte auch nicht die Migration vergessen, die auf den Yom Kippur Krieg 1973 folgte, in Richtung Saudi Arabien, den Irak und die Golfemirate. In Italien gibt es eine große Anzahl pakistanischer EmigrantInnen und allgemein aus dem Raum des Indischen Ozean … Genau darauf wollte ich jetzt kommen. In einer ersten Emigrationsphase entwickelten sich die Bewegungen aus den traditionellen, historisch bekannten Räumen in die ebenso traditionellen und historischen Zentren, wobei die zurückgelegten Entfernungen recht kurz waren. Typisch für die heutige Situation ist dagegen, dass die gesamte Weltkugel von der Migrationsbewegung überzogen wird und dass die Reise des MigrantInnen weltumspannend werden kann: in Richtung eines immer entlegeneren Zentrums und von einem Zentrum zum nächsten. Nun zu Indien und Pakistan: Als „Reservoir“ an Arbeitskraft ist diese Region unermesslich und es hat hier zwei Hauptrichtungen der Emigration gegeben. Die erste ging in Richtung Großbritannien, da die Pakistani als Bürger des Commonwealth das Recht hatten, dorthin umzuziehen. Und das hat eine Emigration in jedem Sektor und in jeder Klasse der pakistanischen Gesellschaft zur Folge gehabt. Das möchte ich besonders betonen, weil man das häufig vergisst, genauer gesagt, man vergisst, dass die Migration aus wirtschaftlichen Gründen alle sozialen Schichten betrifft: natürlich die Bauern und Bäuerinnen, aber vor allem die städtische Bevölkerung, die Unzufriedenen und so auch alle Schichten der Bourgeoisie, die StudentInnen, die Unqualifizierten und die FacharbeiterInnen usw. Es ist also nicht ein typisches Armutsphänomen. Es emigrieren nicht diejenigen, die sich im absoluten Elend befinden, und es ist ein Irrtum, wenn man das glaubt oder das propagiert. Die Emigration filtert den aktivsten Teil der städtischen und ländlichen Bevölkerung heraus, also den Teil, der in politischer und ökonomischer Hinsicht die meisten Bedürfnisse anmeldet. Unter diesem Gesichtspunkt trägt die Emigration dramatisch zur Verarmung dieser Länder bei, und zwar nicht nur in der Hinsicht, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen mit Schulbildung weggeht, was als „Flucht der Hirne“ (brain drain) bezeichnet wird. Es gibt noch eine andere Art der Verarmung, und zwar in politischer und subjektiver Hinsicht, nämlich den Fakt, dass derjenige der emigriert einfach den Entschluss fasst, weggeht und so mit den Füßen abstimmt. Dieser Fakt wird meist verschwiegen und ist bisher unzureichend erforscht worden. Wegzugehen ist ein politisches Votum, es hat eine Bedeutung, die Hirschman[2] als exit im Unterschied zu voice bezeichnet. Mit anderen Worten kann man sagen, dass es zwei Arten der Partizipation in einem politischen System gibt: Die Exit-Lösung besagt: Ich kann oder ich will nichts machen oder sagen gegen das System und ich gehe weg – der Absentismus in der Fabrik bedeutet z. B. nicht Konsens und auch nicht Abwesenheit von Konflikten, er ist vielmehr ein Zeichen für eine Konfliktualität, die sich nicht offen und institutionalisiert äußern kann – dagegen besagt die Voice-Lösung, dass man bleibt, Widerstand leistet und offen kämpft. So ist die Emigration aus Europa in die USA fast immer in Verbindung mit politischen Niederlagen der Arbeiterklasse erfolgt oder aufgrund von Repression gegenüber der Landbevölkerung, und aufgrund der Herausbildung neuer staatlicher Gefüge. Man denke nur an die staatliche Vereinigung Italiens, mit den Folgeerscheinungen wie allgemeine Wehrpflicht, neue Steuern usw. oder an die Enclosure-Bewegung. Für die wechselhafte Beziehung von Exit/Voice-Lösungen und ihren Entsprechungen in den Kampfzyklen der ArbeiterInnen, der Klasse und den nationalen Befreiungsbewegungen kann man beispielhaft Algerien anführen. In Algerien hat man sehen können, dass die heftigsten Migrationswellen nach Frankreich 1945 mit der brutalen Zerschlagung der illusionären Ansprüche erfolgte, die aus dem Ende des zweiten Weltkrieges und der Beteiligung am Kampf gegen den dann besiegten Nazifaschismus erwachsen war. Mit der Rückkehr der algerischen Kriegsteilnehmer schwächen sich die Migrationsbewegungen ab, genau zu dem Zeitpunkt also, in dem der Guerillakrieg um die nationale Befreiung beginnt. Die Migrationsbewegungen steigen nach dem Sieg der FLN und nach der Absetzung Ben Bellas, mit der autoritären und bürokratischen Wende und der Desillusionierung in Bezug auf die Breite und die Radikalität der Veränderungen. Wir sollten also verstehen, dass die Emigration die Massenavantgarden aus dem Geschehen des Ursprungslands herauszieht, das Land also auch in politischer Hinsicht ärmer macht und den subalternen Klassen Kraft und Bezugspunkte raubt. Die Länder, die diese Migrationsbewegungen aufgenommen haben, erhielten einen starken politischen Impuls und mussten ihr staatliches Gefüge umbauen, um die Konfliktualität im voraus zu kontrollieren, im Unterschied zu Ländern wie z.B. Italien, die sich bis vor kurzem auf einen Süden im eigenen Lande haben stützen können. Die Globalisierung der Migrationsbewegungen, die ja nicht mehr von „armen“ Ländern zu „reichen“ Nachbarländern verläuft, vermittelt uns ein viel komplexeres Bild: Beispielsweise geht ein Pakistani nach England, aber die Petrodollars von 1974 bringen ihn dann in die Golfstaaten, und so verallgemeinert sich das Migrationsphänomen. Die Emigration beginnt immer mit ein oder zwei Promille der Bevölkerung, die wegziehen, also mit einer winzigen Minderheit. Anschließend wird die Bewegung breiter und zu einem Massenphänomen, sie erreicht zwei bis drei Prozent der Bevölkerung pro Jahr, was in zehn Jahren eine enorme Anzahl ausmacht. Das sind die Dimensionen der großen Migrationswellen aus Portugal, aus Sizilien und aus allen Ländern Südeuropas, die zunächst Richtung USA und später Richtung Nordwesteuropa gingen. Wenn wir die heutigen Perspektiven auf diese Wachstumszahlen aus der Migrationsgeschichte beziehen, wenn wir die Migration nicht mehr nur auf die traditionellen Regionen beschränkt sehen können, und wenn wir heute in Europa eine illegale Immigration aus allen Teilen der Welt, sogar aus Sri Lanka oder aus Mauritius konstatieren, wenn wir die Dutzenden von „Regionalkriegen“ mit „niedriger Intensität“ und erst recht die Operationen der „Internationalen Polizei“ hinzunehmen, mit dem Gesamtergebnis von über 15 Millionen Flüchtlingen weltweit, aber vor allem aus Afrika – dann können wir ermessen, welch gigantische Dimensionen die Exit-Lösung annimmt. Zum zweiten Teil deiner Frage, welche Faktoren die Migrationsbewegungen bestimmen, warum und wie die Leute den Entschluss fassen wegzuziehen und was dabei der Hauptaspekt ist … so möchte ich zunächst auf fehlerhafte Einschätzungen hinweisen, die bei der Analyse der Migration aus dem Süden der Welt oder aus dem Osten immer wieder auftauchen, und grob skizzieren. Da ist zuallererst die große Mystifizierung, die der demographischen Analyse und ihrer Ergebnisse geschuldet ist. Der Gedanke, der in den demographischen Theorien immer wieder auftaucht, dass die Bevölkerung als solche ab einem bestimmten Punkt von Wachstum und Bevölkerungsdichte Emigration produziert, gestützt also auf eine biologistische Erklärung des Phänomens, so wie man das in dem Laboratorium mit den Mäusen untersucht, die sich in einem begrenzten Raum vermehren, so dass irgendwann ein Teil aus dem Raum in einen anderen verlegt werden muss, weil sie sich sonst gegenseitig zerstören würden – dieser Gedanke legt mehr oder weniger nahe, dass sich menschliche Gesellschaften genau wie die Mäuse regulieren würden! Historisch kann man nachweisen, dass es überhaupt keine Beziehung zwischen Bevölkerungsdichte und Migration gibt, weil andernfalls die HolländerInnen in jeden Teil der Welt ausgewandert sein müssten. Das Gegenteil ist der Fall. In Holland leben viele TürkInnen, IndonesierInnen usw. An zweiter Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Armut als solche nicht zur Emigration führt. Nehmen wir zum Beispiel die Emigration aus Irland. Wesentlich dabei war immer, dass in Irland die Emigration aus dem jahrhunderte langen Kampf gegen den englischen Kolonialismus herrührte. Die Repression des Befreiungskampfes des irischen Volks hat mit der permanenten Besetzung durch die britische Armee die Art und Weise, die Perioden und den Umfang des Migrationsflusses Richtung USA bestimmt. Es war nicht so sehr die Hungersnot, die Irland Mitte des vergangenen Jahrhunderts traf und nur die Emigration vergrößerte, die längst begonnen hatte. Du beziehst dich auf die „Kartoffelkrankheit“, die den irischen Kartoffelanbau zwischen 1835 und 1842 zerstört hat? Ja genau. Ein Drittel der Bevölkerung starb an Hunger und ein zweites Drittel emigrierte. Das war die letzte echte push-Emigration. Emigrieren war die einzige Form zu überleben. Natürlich war diese „große Flucht“ möglich geworden, weil es bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine pull-Emigration in die USA gab. Die Misere in Äthiopien oder in Bangladesh verursacht also nicht die internationale Emigration. Die Armut dort bewirkt eine starke Binnenmigration z. B. aus Bangladesh in die Assam-Region an der Grenze zu Indien, um so den Überschwemmungen und Hungersnöten zu entkommen, aber die internationale Emigration ist eine ganz andere Geschichte. Die internationale Emigration hat zur Voraussetzung, dass die Gemeinschaft, die Community funktioniert. Es muss eine echte kommunitäre Organisation vorhanden sein, die es in der absoluten Armut nicht gibt, denn die produziert nicht Organisation, sondern zersetzt die Communities. Der Tod durch Hunger oder durch Epidemien nach einem dieser „Regionalkriege“ in Afrika, das völlige Dahinsiechen ganzer Bevölkerungen hat eher ihren Grund in der Auflösung früherer kommunitärer Strukturen als in einer niedrigen Einkommenshöhe. Daher ist nicht das ökonomische Primat der Auslöser der Emigration, nicht die Ärmsten sind es, die am meisten emigrieren. An dritter Stelle ist zu nennen, dass es wahrscheinlich die „Besten“ sind, die weggehen, aber davon habe ich schon gesprochen. Und noch eine vierte Anmerkung: Die internationale Emigration steht immer in einem ergänzenden Verhältnis zur Binnenmigration, d. h. zum Exodus vom Land in Richtung Stadt, verursacht durch Industrialisierung und Entwicklung. Wenn die Entwicklung beginnt und das Land Arbeitskraft für die Städte freisetzt und wenn trotz der Kämpfe die Löhne zu niedrig bleiben, wenn die von diesem Entwicklungstyp angebotenen Lebensverhältnisse allzu unbefriedigend sind, vor allem im Vergleich mit anderen, wenn die Zukunftsaussichten kaum vorhersehbar oder uninteressant sind, dann versucht diese neue Arbeitskraft den Weg in die internationale Emigration. Ich würde sagen, dass die Emigration eine Verweigerung ausdrückt, vor allem von ArbeiterInnen, die sich der nachholenden Entwicklung verweigern. Ich behaupte, dass diese Arbeitskraft, diese Subjektivität eine ganz klare Vorstellung davon hat, was eine „korrekte und ausgeglichene“ Entwicklung sein könnte und sein müsste und was auf der anderen Seite ihre Ausbeutungsrealität ist. Dabei könnte man erwähnen, wie die Migration auf Korsika verlaufen ist, als die Leute im 19. Jahrhundert anfingen, in die Städte zu ziehen. Zuvor hatten sie so gut sie konnten in den kleinen Bergdörfern ausgeharrt und manchmal ihr Einkommen mit dem Lohn aus drei- oder viermonatiger Saisonarbeit aufgebessert. Dann in der Stadt haben sie sich der Proletarisierung widersetzt. Sie haben nämlich versucht, kleine Stücke Land, manchmal auch außerhalb der Stadt, in Besitz zu halten und zu kultivieren. Als dann der Getreidepreis in der Stadt viel stärker absank als der des Kastanienmehls, das neben dem Gemüsegarten und den Haustieren die Grundlage zur Selbstversorgung bildete, gab es keine Möglichkeit mehr dem städtischen Prozess der absoluten Proletarisierung zu entfliehen. Anstatt nun in der Stadt als einfache ArbeiterInnen für Niedriglöhne zu arbeiten, haben es die Leute vorgezogen, dann gleich nach Frankreich zu gehen. Diese korsischen Bauern haben sich für eine Migrationsart entschieden, die in ihrer Entschiedenheit der internationalen Emigration stark ähnelt. Dieselbe Sache ist in Spanien etwa ebenso verlaufen, in der Sierra Nevada in Andalusien, wo Bauern und Bäuerinnen sowie HirtInnen solange sie konnten wohnen blieben und manchmal auch als LandarbeiterInnen auf den großen Haziendas arbeiteten. Als sie nicht mehr weiter so leben konnten, sind sie, anstatt ArbeiterInnen in Madrid oder Barcelona zu werden, nach Frankreich, in die Schweiz oder nach Deutschland gegangen. Das beweist meiner Meinung nach, dass die internationale Emigration nicht so sehr ein passives Reservebecken darstellt, aus dem der Kapitalismus nach Gutdünken schöpfen kann, sondern eine „positive“, aktive Sache ist und zwar stets eine Art Verweigerung gegenüber einem besonderen Entwicklungstyp. Es ist keine Entscheidung für die Nicht-Entwicklung, das wäre nämlich verrückt, sondern eine Entscheidung für ein anderes Entwicklungsmodell. Wenn man schon ProletarierIn und ArbeiterIn werden muss, dann besser im Norden unter anderen Bedingungen als im Süden, und besser ist es auch die kleinen Fabriken mit Niedriglöhnen zu meiden, denn das heisst keine soziale Sicherheit, keine Gewerkschaftsrechte. Im Grunde sagst du, wenn jemand gezwungen ist, einen Sprung zu machen, wird er versuchen, so weit wie möglich zu springen. Ja, so ist es. Auch wenn die Logik des längstmöglichen Sprungs höchstens für 10% der Emigranten gilt. Die Logik lautet, ich gehe viel weiter weg, aber für eine viel kürzere Zeit, dann kehre ich zurück, brauche nicht arbeiten zu gehen oder werde selber eine kleine UnternehmerIn. Für die anderen Emigranten bietet diese Logik des Weggehens nicht die erhofften Chancen. So sieht der schmerzliche Mythos aus, den wohl jede MigrantIn beim Weggehen erfährt. Natürlich gehe ich weg, aber nur kurz, für ganz kurze Zeit, nach zwei, höchstens drei Jahren bin ich wieder da. Wobei es einige gibt, die in der Zwischenzeit etwas auf die hohe Kante gelegt haben … Natürlich gibt es ein paar, die es schaffen. Für den Rest ist es die reine Illusion. Und dass ihre Erwartungen Illusionen sind, haben Parteien und Gewerkschaften der ArbeiterInnenbewegung der EmigrantIn immer ins Gesicht geschrieen, sie wäre im Grunde genommen ein Dummkopf, ein Idiot … Tja. Da habe ich gewisse ExpertInnen vor Augen, WissenschaftlerInnen und ihre unglaublichen Behauptungen, die sagen doch: Nehmen wir eine ArbeiterIn, die in einem unterentwickelten Land lebt und wenig verdient, man gibt ihr dort 500 Franc im Monat, und davon lebt sie. Wenn dieser Mensch nun z. B. nach Frankreich emigriert um dort 5000 Franc im Monat zu verdienen, in der Überzeugung, dass sie dort groß sparen könnte, denn sie vergleicht natürlich die Löhne im Norden mit den Preisen im Süden und dann entdeckt sie, dass sie jetzt viel mehr Miete zahlen muss usw. Diese tollen WirtschaftsexpertInnen rechnen ihr dann haarklein vor: Sie verdiene 5000 und 5000 gebe sie wieder aus. Sie habe nichts gespart, sie habe nichts gewonnen. Sie vergessen schlicht und einfach, dass es einen Riesenunterschied macht, ob man 500 Franc in Dakar ausgibt oder 5000 in Paris. Und was für einen. Man muss da nur mal nachfragen. Wir können also sagen, die EmigrantIn ist überhaupt kein Dummkopf und ihre Argumente wegzugehen, ihre kalkulierten Überlegungen klingen eher realistisch wie eine Bekräftigung seiner Würde und Identität, ja wie eine Art Verteidigung. Sie hält sich hier nicht für immer auf, sie ist nicht auf der Suche nach einem kleinen und bescheidenen Plätzchen in unserer Gesellschaft, sie hat keine Befürchtungen zu stören; ich habe mein Häuschen und meine Familie in meinem Heimatland, so stellt sie sich vor, und dahin will ich zurück. Das ist ein ganz normaler psychologischer Verteidigungsmechanismus, wohl der elementarste und spontanste, aber nach meiner Einschätzung wieß die Mehrheit der MigrantInnen ganz genau, dass es sich mit der Rückkehr verzögern wird, bis zur Rente oder … … Oder dass sie nie zurückkehrt! Ja, oder nur in den Ferien, dann wird das so eine Art Feriendomizil; die Heimat für die Ferien und den Ort hier für die Arbeit! So ist das den sizilianischen oder überhaupt den süditalienischen Metallarbeitern in den 50er und 60er Jahren ergangen, und so auch dem portugiesischen, spanischen und algerischen Arbeiter. Die ImmigrantIn lässt sich auf diese Kalkulation dann ein, aber auch die Ferienbeziehung verändert sich ebenfalls mit der Zeit. Die Integration in den Norden wird zum Hauptaspekt ihres Lebens. Es sollte auf keinen Fall vergessen werden, dass ein Teil der ImmigrantInnen durch Sparen „reicher“ im Verhältnis zu ihrer Heimat geworden sind, weil sie etwas zurückgelegt haben, weil sie für die Familie ein Haus haben bauen lassen, das sie an TouristInnen vermieten können usw. Ohne hier große Analysen anzustellen, kann man doch sofort sehen, dass es sich hier um ein Spiel handelt, bei dem doch etwas herauskommt. Da läuft ein realer Prozess an der Basis, ein Prozess der Selbstwertsetzung, denn anders würde das nicht funktionieren. Wenn das nur ein Scheissspiel wäre, wie das die IdeologInnen der Linken behaupten, eine reine Fata Morgana, eine schlichte Illusion … Ich denke aber, dass das eine ganz verbreitete Argumentation ist, nicht nur bei der Staatslinken … Dann setzen wir uns doch mit diesem Diskurs auseinander, der auch ein gewisses Maß an Rassismus enthält. Haben etwa die Emigranten mit ihrem Exit „nichts gesagt“? Wenn man sich das Verhalten der Emigranten ansieht, wird die Emigration doch positiv erlebt, auch wenn der Preis dafür sehr hoch und das individuelle Leiden groß ist. Für die Ausbeutung sieht es anders aus, aber man darf die Ausbeutung nicht mit der vollständigen Entfremdung der Individuen verwechseln. Das Leben ist hart für die EmigrantInnen, aber gleichzeitig haben sie eine unglaubliche gesellschaftliche Veränderung durchgemacht, was beispielsweise für ihre Kinder nicht mehr nachvollziehbar ist. Die Kinder können nicht mehr ähnliche große gesellschaftliche Veränderungen erleben, sie haben einfach nicht mehr solch eine Gelegenheit für diesen großen Sprung nach vorn. Für viele eröffnete die Auswanderung den Weg zunächst in die Arbeitsverhältnisse hinein, nach 15 bis 20 Jahren wurden sie dann TechnikerInnen, schließlich gingen sie in den Dienstleistungsbereich. Für ihre Kinder gilt das nicht mehr, sie haben keine Möglichkeiten, ganz andere neue Verhältnisse zu erfahren und häufig gelangen sie nicht mehr in die Arbeitsbereiche ihrer Eltern. Wenn man von den Auswanderungsursachen spricht, sollte man diese Faktoren nicht übergehen oder unterschätzen. Schließlich möchte ich noch darauf kommen, dass die Auswanderung auch ein autonomer Fakt ist. Das heisst, es gibt eine Autonomie der Auswanderung gegenüber der Politik der Staaten und das gilt sowohl für die Emigration wie für die Immigration. Es handelt sich dabei nämlich um ein Fakt, der in der Gesellschaft ohnehin existiert, und erst im Nachhinein findet dieses Phänomen in der Regierungs- und Staatenpolitik entsprechende Beachtung. Das ist anscheinend schwierig zu kapieren, aber trotzdem wichtig; auch wenn sich Myriaden von ExpertInnen und BeamtInnen in den Behörden und staatlichen und internationalen Einrichtungen mit der Emigration beschäftigen, haben sie keine Ahnung von dieser Selbständigkeit, dieser Autonomie der Migrationsflüsse. Sie haben vielmehr die Vorstellung, dass alle miteinander verbundenen Faktoren und Phänomene auf die Wirtschaftspolitik zurückzuführen und daher nur Gegenstand der verwaltungsmäßigen Regulierung wären. Natürlich wird bei diesem Denkansatz die Objektivität der Politik und speziell der Wirtschaftspolitik grotesk überschätzt, es wird völlig vergessen, dass es eine Eigendynamik der Auswanderung gibt. Man kann zwar der Emigration mit repressiven Mitteln begegnen, die Rückkehr der ImmigrantInnen „fördern“, aber man kann nicht die Flüsse nach Programmierung und Dafürhalten öffnen und sperren. Schon Adam Smith sagte, dass von allen Waren die am schwierigsten zu verschiebende der Mensch sei … Klar kann man den Leuten Anreize geben, damit sie weggehen, aber man kann das nicht so hinkriegen, dass jemand, der nicht weg will, doch geht, oder dass jemand bleibt, der unbedingt weg will. Es gibt also gewichtige Einschränkungen bei dieser Art von Regulierungsmaßnahmen. Als mehrere Regierungen Nordwesteuropas glaubten, den ausländischen ArbeiterInnen Prämien anbieten zu können, damit sie in ihr Herkunftsland zurückgingen (z. B. in Frankreich mit einer Geldprämie, in Deutschland mit der Möglichkeit für die türkischen ArbeiterInnen, dass sie ihre Rente auf einen Schlag ausbezahlt bekommen, unter der Bedingung, dass sie damit nicht nur wegzögen, sondern auch auf jeden Rentenanspruch verzichteten, mit dem Risiko der Geldabwertung durch Inflation) hat diese Strategie so gut wie gar nicht funktioniert, und wenn, dann ganz anders, als von den Regierungen vorgesehen. Im Wesentlichen ist es so gelaufen, dass diejenige, die sich sowieso schon für den Wegzug entschieden hatte oder diese Möglichkeit gerade erwog, diese Gelegenheit beim Schopf ergriff und mit ein bisschen mehr Geld abgefahren ist. Aber damit wurde nicht das Regierungsziel erreicht, den ImmigrantInnenanteil zu reduzieren. Das ist mit „Anreizen“ in der Wirtschaftspolitik gemeint, aber auf einem ganz anderen Blatt steht die tatsächlich sehr beschränkte Möglichkeit, Verhaltensweisen vorzuschreiben. Das ist dieselbe Geschichte, wie wenn man den Leuten Geld gibt, damit sie mehr Kinder zeugen. Wir haben gesehen, dass das in Frankreich nicht funktioniert. Es ist inzwischen klar, dass diejenigen, die sich entschieden haben, Kinder zu bekommen, dann auch diese Gelder mitnehmen, es kommt aber ganz selten vor, dass jemand Kinder bekommt, weil sie das finanziell interessant finden. Man bräuchte eine Riesensumme Geld, damit dieses Schema wirklich funktionierte. Nochmals zu den politischen „Rückkehrmaßnahmen“. In Frankreich wurden wahnsinnige Summen für Studien und Projekte ausgegeben, die ihre Untersuchungen auf ein paar Hundert Fälle im Jahr, eben die offiziell Zurückgekehrten, gestützt haben. Diese Projekte waren mindestens so idiotisch wie angeberhaft. Denn es handelte sich dabei um ganz lächerliche Zahlen, wenn man sie auf die Tausende im Jahr bezieht, die nicht wegziehen wollten, auf die Tausende, die weiterhin hereinkommen, auf die Tausende, die sich für die nichtoffizielle, geheim gehaltene Rückkehr entscheiden, um nicht registriert zu werden und schon morgen wieder zurückkommen zu können. Es hat sich eine riesige Schere aufgetan, eine Art Nichtzusammenhang zwischen den angestrebten Zielen der Prämienpolitik und der Regulierungsmaßnahmen des Staates auf der einen Seite und den autonomen, sozialen Verhaltensweisen der Migrationsbewegungen und der Rückkehr auf der anderen Seite. Ich möchte an dieser Stelle auf ein anderes großes Thema kommen, nämlich auf die push- und pull-Faktoren der Emigration. Kannst du die Begriffe genauer erklären? Also nach der angelsächsischen Terminologie meint push-Faktor den Druck in Richtung Emigration, ausgelöst durch Ereignisse wie Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen usw. Außergewöhnliche Ereignisse sind das, wobei für uns hierbei der Hauptaspekt auf dem praktischen Zwang zur Emigration besteht. Es ist keine subjektive Entscheidung, keine individuelle Verhaltensweise und erst recht nicht marktorientiert; wenn überhaupt kommt das später hinzu, mit der Zeit. Als Beispiel für die push-Emigration können wir die Deportation der Schwarzen aus Afrika nehmen, ein Grenzfall sicherlich, aber hier wird ganz klar, dass push-Emigration Zwangsauswanderung heißt. Ganze Familien wurden auf den Nord- oder Südamerikanischen Kontinent deportiert. Der Terminus pull-Emigration meint die Emigration, die vom gesellschaftlichen Reichtum, von den „Lichtern der Großstadt“ angezogen wird. Hier kommt es zu autonomen Verhaltensweisen, hier gibt es die Subjektivität in der Entscheidung. Es handelt sich in gewisser Weise um eine freie Entscheidung, wie die der Lohnabhängigen im Vergleich zum Sklaven oder zum an die Scholle gebundenen Leibeigenen. Es ist wahr, dass die Lohnabhängige gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und dass ihr nichts groß zur Auswahl steht, aber es ist eben auch wahr, dass die Lohnabhängigkeitsverhältnisse sich durchaus unterscheiden von denen der Sklaven oder Leibeigenen. Sie kann zumindest weggehen, sie kann wählen, wo sie sich so teuer wie möglich verkauft. Auf der anderen Seite ist es wahr, dass das Proletariat nicht sehr viel Auswahlmöglichkeiten hat. Man würde aber völlig von den Verhältnissen absehen, wenn man, wie häufig die neoklassischen WirtschaftswissenschaftlerInnen, von der Annahme ausgeht, dass das Migrationspotential rational die Alternativen kalkuliert, also ob man bleibt oder emigriert und sich dementsprechend entscheidet. Die Verhaltensweisen sind viel komplexer. Die Emigration wird nur dann ein Massenphänomen, wenn die ersten „Pioniere“ bereits den Weg geebnet haben, das führt dann zu einem fast automatischen Verhalten. Es wird zu einer Automatik, dass eine SizilianerIn nach Turin geht, dass eine GriechIn oder TürkIn nach Deutschland geht, das wird Teil der Existenz, der täglich gelebten Welt der ProletarierInnen. Man hat also ein bestimmtes Maß an Organisation bei der Auswanderung vorauszusetzen, sowohl an dem Ort der Abfahrt wie am Ankunftsort? Natürlich, das ist ganz wichtig. Der push-Faktor ist allzu häufig betont worden, so als ob das der Hauptaspekt des Migrationsphänomens wäre, man sollte dagegen korrekt beide Faktoren miteinander abwägen, push und pull bei der Auswanderung. Wenn wir von der Auswanderung als Massenbewegung sprechen, wenn sie ein solches Niveau erreicht hat, wir also die MassenemigrantIn [Wortbildung analog zum Massenarbeiter] vor uns haben, dann ist der bestimmende Faktor sicher die pull-Emigration. Das bedeutet hauptsächlich zweierlei: Der individuelle Entschluss, die subjektive Verhaltensweise ist sicher wichtig, aber ebenfalls das Gewicht des „Zentrums“, das heißt der Immigrationsländer des entwickelten Nordens. Deren Anziehungskraft ist entscheidend. Und was ist derart anziehend? Der Arbeitsmarkt. Ohne die Zentralität, die der Arbeitsmarkt in den Industriedemokratien einnimmt, ohne die großen Arbeitsmöglichkeiten gäbe es die Emigration eben nicht, jedenfalls nicht als Massenphänomen, wie wir sie kennen gelernt haben und wie sie heute gängig ist. Dadurch kommen wir zu der Feststellung, dass die Analyse der dem produktiven Zyklus, dem Arbeitsmarkt und dem kapitalistischem Entwicklungsmodell innewohnenden Tendenz in den „reichen“ Ländern uns erlaubt nachzuvollziehen, wie der große Anziehungsmechanismus verläuft, der hier Immigrationsländer par excellence schafft, der die große Mehrheit der Emigration anzieht. Wie sieht denn der Arbeitsmarkt in den „reichen“ Ländern aus, also in den typischen Immigrationsländern? Ich meine, grundsätzlich ist der Arbeitsmarkt unserer Gesellschaften stark segmentiert. Es stimmt nicht, oder es stimmt nicht mehr, dass ein undifferenzierter Arbeitsmarkt existiert, auf dem der Preis der Arbeitskraft frei durch Konkurrenz und durch den Aufprall und durch die Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage von Arbeit festgesetzt würde. Den Marktpreis gibt es zwar, aber nur im Inneren von separierten Zonen, von Sektoren, die extrem voneinander abgeschottet sind. Man könnte fast behaupten, dass es einen abgetrennten Arbeitsmarkt der LandarbeiterInnen gibt, der anders funktioniert als der in der Bauwirtschaft; dass es einen Markt für wenig Qualifizierte und einen für Hochqualifizierte gibt; dass es einen Markt für berufsbezogene FacharbeiterInnen und einen für die MassenarbeiterInnen gibt. Die Beziehungen verlaufen dort getrennt voneinander und die Preise schwanken im Innern eines jeden Sektors. An dieser Stelle sollte man daran erinnern, dass in unserer Industriedemokratie die Arbeit, die Arbeitsorganisation und die Arbeitsteilung auf einen „historischen Kompromiss“ gegründet sind sozusagen. Dieser „Kompromiss“ sieht folgendermaßen aus: für die Arbeit wird die Garantie vergeben, dass der Lohn, der Preis der Arbeitskraft nicht streng dem Markt folgen muss, dass er z. B. in einer Depression, in Phasen starker wirtschaftlicher Rezession nicht ins Bodenlose absinkt. Darin liegt ein Stück ArbeiterInnenmacht seit den 30er Jahren und außerdem ein bestimmtes Maß an Würde der subalternen, der lohnabhängigen Arbeit … Du beziehst dich dabei auf die Lohndynamik als Gleichgewichtsmoment in einer Phase der Dialektik zwischen ArbeiterInnenkämpfen und kapitalistischer Entwicklung, auf der der Keynesianismus basierte, so wie es der operaistische Marxismus der 60er Jahre analysiert hat? Genau, all das ist schon zu Genüge analysiert worden, aber dabei wurden andere Aspekte unterschlagen, wahrscheinlich hat man damals diese strikte Einheitslohnpolitik nie ausreichend analysiert. Heute wissen wir, dass es sich dabei nicht um den Reallohn handelte, sondern dass das eine rein nominale Rigidität war. Was konnte man tun, um die Kaufkraft zu garantieren, um ihre wenn auch begrenzte Progression zu gewährleisten, wo doch die Geldpolitik, die Kreditpolitik, die Inflation, alles Waffen der Regierung, der UnternehmerInnen sind? Welche Garantien gibt es für die ArbeiterInnenklasse, dass sie sich am Ende eines Inflationszyklus nicht auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen sieht? Wie kann man zumindest eine geringe aber reale Lohnsteigerung festschreiben, die dann nicht hineingezogen werden könnte in instabile Verhältnisse der kapitalistischen und gesellschaftlichen Produktionsbeziehungen? Auf diesem Feld haben sich ja beachtliche Zyklen von ArbeiterInnenkämpfen abgespielt, besonders der MassenarbeiterInnen, die auf die Beziehung Lohn-Produktivität, Lohn-Inflation, automatische Lohnangleichung entsprechend der Inflationsrate setzten. Lohn wurde also als unabhängige Variable begriffen, auch wenn der Spielraum an Unabhängigkeit immer begrenzt geblieben ist. Das stimmt ja. Auf der anderen Seite ist aber auch wahr, dass fast schleichend in derselben Zeit einem viel substantielleren Kompromiss die Bahn gebrochen wurde. Zu dem Zeitpunkt, in dem die entqualifiziertesten und prekärsten Tätigkeiten, die „schmutzigsten“ und gesundheitsschädlichsten Arbeiten, die die ArbeiterInnenklasse gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert hat, einer anderen Kategorie von Arbeitskraft zugeordnet wurden, die sich nicht direkt in Konkurrenz mit jener ArbeiterInnenklasse befand, denn deren juristischer Status hinderte sie am Aufstieg zu den „höheren“ und „qualifizierten“ Tätigkeiten der Werksarbeit – zu dem Zeitpunkt also konnte so der „nationalen“, autochthonen ArbeiterInnenklasse garantiert werden, dass mit der Rigidität des Einheitslohns eine weitere Rigidität aufgebaut wurde: die Abschottung der Arbeit der „nationalen“ ArbeiterInnenklasse gegenüber den niedrigen Arbeiten. Praktisch hieß das für die nationale DurchschnittsarbeiterIn, dass sie vor dem Abstieg auf die unterste Stufe der sozialen Leiter, der sozialen ArbeiterInnenhierarchie bewahrt wurde. Wie entwickelt sich in diesem Rahmen die Lohndynamik? Die Lohngarantie verwandelte sich mehr und mehr von einer nominalen Lohnrate in eine substantielle Angelegenheit, in dem Sinne, dass mehr als der Nominallohn nun die Stellung auf der sozialen Stufenleiter zählte, in der sozialen Arbeitshierarchie, d. h. der Ort in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. In Italien registrieren wir in derselben Zeit die Abschaffung von Lohnkategorien und der scala mobile [der automatischen Lohnangleichung entsprechend der Inflationsrate]. Italien stellt tatsächlich einen einzigartigen Fall dar, mit der nationalen Mobilität von Süd- nach Norditalien, ohne dass es in dieser Zeit zu einer großen Immigration gekommen ist. Die scala mobile in Italien ist im Vergleich zum Rest Europas und zu den USA eine Ausnahme, wo von Anfang an dieser substantielle Kompromiss Wirkung zeigte, von dem ich vorher sprach. Für die nationale ArbeiterInnenklasse sah das alles nach einer Art Eroberung aus, nach einer gewissen Garantie, und teilweise war das ja auch so. Höchst selten kam es dazu, dass jemand zurück musste und wieder Bauer bzw. Bäuerin oder LandarbeiterIn werden musste, aber vor allem kam es kaum vor, dass man zu den schlimmsten, den gefährlichsten und gesundheitsgefährdendsten Arbeiten abstieg, mit den härtesten Arbeitszeiten, mit Nachtschicht und Feiertagsarbeit. Es war also nicht sehr wahrscheinlich, so tief zu fallen, aber das hatte enorme und bis dahin unvorstellbare Konsequenzen auf der Ebene des Arbeitsmarktes, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsteilung. Diese Abschottung wurde nötig, da die ImmigrantInnen gezeigt haben, dass man mit ihnen doch nicht alles machen kann. Ihre Bereitschaft, Arbeit auf den untersten Stufen der sozialen Leiter anzunehmen, dauert nicht ewig! Als Perspektive wird das nur kurzzeitig akzeptiert, sehr viel weniger mittelfristig und langfristig steht da die Verhandlung und Verweigerung. Wie gesagt setzt sich die internationale Emigration nicht aus potentiellen SklavInnen oder DienerInnen zusammen. Natürlich kommt es immer wieder vor, dass die ausländischen und Nicht-EG-ImmigrantInnen bei ihrer Ankunft dort, wo diese ganz besondere Art von Arbeit auf sie wartet, sie die auch akzeptieren. Sie akzeptieren die Bedingungen, um hineinzukommen. Das ist ihr Pass, ihr Ticket. Denn um vor allem in Nordwesteuropa (das ist bis zu einem gewissen Grad anders gewesen als in den USA und in all den Ländern, die wie Australien, Neuseeland eine Einwanderungspolitik betrieben, so dass die dort Ankommenden vorhaben, ihr ganzes Leben dort zu verbringen) staatlich anerkannt hereinzukommen, muss man schon einen Arbeitsvertrag in der Tasche haben, die Arbeit und der Lohn sind also vorherbestimmt. So ist das z. B. für die ItalienerInnen in Frankreich oder in der Schweiz gewesen, für die TürkInnen in Deutschland, für die GriechInnen, SpanierInnen, SlawInnen usw. Dieses System wollen sie jetzt gegenüber den Nicht-EG-ImmigrantInnen durchsetzen. Wenn die ImmigrantIn den Arbeitsvertrag bricht, riskiert sie natürlich die Ausweisung. Sobald sie hier ist, bemerkt sie, dass das, was sie machen muss, eine Scheißarbeit ist, die „schmutzigste“ und schlecht bezahlteste, und vor allem bemerkt sie, dass sie mehr Geld hätte bekommen können, wenn sie sich allein und frei auf dem Arbeitsmarkt bewegt hätte. Aber genau das kann sie nicht! Sonst würde sie die Aufenthaltsgenehmigung verlieren und zur Illegalen werden. Also jemand, der in jedem Moment entdeckt und zurückgeschickt werden kann. Deswegen wird die ImmigrantIn zu Beginn an die untersten Stufen der sozialen Arbeitsteilung rigide gefesselt, und zwar mittels der beschränkten Aufenthaltsrechte. So sieht grob skizziert das derzeit gültige System der legalen, staatlich geregelten Immigration aus. Aber natürlich versucht die ImmigrantIn zu fliehen, genauso wie die SklavInnen, sie versucht sich auf dem Arbeitsmarkt zu befreien, während die staatlichen Behörden und das Bündel der Ausländergesetzgebung im Gegenteil zu verhindern versuchen, dass sie in der sozialen Leiter aufsteigt, weil das den oben erwähnten „historischen Kompromiss“ brutal in die Krise stürzen würde. Da aber die industriellen Demokratien kein System totaler Sklaverei vertragen können, haben sie ein etwas schlaueres System ausgearbeitet, das eine gewisse Mobilität auf der sozialen Stufenleiter doch zulässt. So erklärt sich, dass die ImmigrantIn in Frankreich ein papier de travail [Arbeitserlaubnis] für eine bestimmte Anzahl von Jahren, normalerweise für drei, sieben oder zehn Jahre erhält. Somit ist sie für mindestens zehn Jahre an die untersten Ebenen gefesselt. Danach ist die Einbürgerung möglich, wodurch sie sich dann auf dem Arbeitsmarkt frei bewegen kann. Nun sind aber die ImmigrantInnen eine riesige Bevölkerungsgruppe, so dass für sie sofort Ersatz geschaffen wird von denen, die herein wollen, den Illegalen, die die fürchterlichsten Bedingungen haben akzeptieren müssen und die sich nun legalisieren lassen wollen. Daraus entsteht eine Segmentierung des Arbeitsmarktes. Der Ausdruck Segmentierung stammt aus den USA. Damit sollte ein Arbeitsmarkt beschrieben werden, der in feste Sektoren unterteilt ist, die nicht in Konkurrenz zueinander stehen und auf unterschiedlichen Preisniveaus angesiedelt sind. Bevor aber die Analyse des segmented labour market vertieft wurde, belegt durch eine bemerkenswerte Zahl an Studien auf diesem Gebiet, hatte ein amerikanischer Wissenschaftler, Kerr, von einer „Balkanisierung“ des Arbeitsmarktes gesprochen und damit eine heute ganz aktuelle Debatte in großen Stücken schon vorweggenommen.[3] Um ein Beispiel zu nennen: Je mehr du ein Weißer bist, ein „national“ Dazugehöriger und – in Frankreich lange Zeit – auch katholisch bist, möglichst ein Mann, desto eher kannst du in der sozialen Arbeitshierarchie, der Arbeitsteilung nach oben kommen. Und je mehr du ein Immigrant bist, schwarz, coloured und auch noch eine Frau, desto tiefer wirst du angesiedelt werden! Das ist nach meiner Einschätzung die Ethnisierung des Arbeitsmarktes, im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn wir uns Begriffe vor Augen halten, wie Solidarität, ArbeiterInneneinheit, Klassenzusammensetzung, dann hat das Geschilderte natürlich ganz enorme Konsequenzen diesbezüglich. Im Schutze eines Kompromisses, den die nationale ArbeiterInnenklasse als Eroberung und als Möglichkeit zur Flucht aus den subalternsten ArbeiterInnenverhältnissen aufgefasst hat, hat sich ein System von Ausbeutung und permanenter Spaltung etabliert und institutionalisiert, und damit wurden die oben genannten Begriffe vollständig ihres Inhalts entleert. Nach meinem Dafürhalten fehlt uns an dieser Stelle ein wirklicher Kampf um die BürgerInnenrechte, um die berühmte Einheit der ArbeiterInnenklasse wieder zu erobern. Denn es kann keine Einheit unter ArbeiterInnen, die sich auf dem Arbeitsmarkt frei bewegen können und denen, die das nicht können, geben, weil die, die sich nicht frei bewegen können, vor allem darum kämpfen müssen, dass sie genau das können! […] Die illegale Einwanderung erfolgt heute dadurch, dass sich die internationale Arbeitsmobilität beschleunigt, und auf der anderen Seite die Festung Europa entsteht … Es gibt überhaupt keinen natürlichen Hang der internationalen Wanderungen hin zur Illegalität. Auf den ersten Blick kommt es offensichtlich zu illegalen Migrationen von Arbeitskraft, wenn der Migrationsdruck, der von gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Faktoren abhängt, abgewürgt, niedergeschlagen, wenn Abschreckungs- oder Kanalisierungsversuche unternommen werden, die aber auf Grund der Umstände oder weil im Kern falsch konzipiert sind, ihr Ziel nicht erreichen und fehlschlagen. Die internationale illegale Emigration gibt es weltweit, wenn es auf der einen Seite zwar ein international anerkanntes Recht auf Auswanderung gibt, auf der anderen Seite aber kein international anerkanntes Recht auf Einwanderung. Diese Asymmetrie in der Kodifizierung des Migrationsrechts und das Auseinanderklaffen zwischen personenbezogenen Rechten und Rechten des Menschen als Arbeitskraft – bei der internationalen EmigrantIn, dem „homo oeconomicus“ ohne BürgerInnenrechte – haben die internationale Emigration in eine illegale Wanderung verwandelt. Daraus folgt, dass die „Illegalen“ nicht an sich schon Kandidaten für die Illegalität waren – je stärker in einem Einwanderungsland der Migrationsdruck ist und je heftiger eine Politik der geschlossenen Grenzen betrieben wird, desto mehr übersetzt sich dieser Fluss in illegale Migration. Man sollte also die Untersuchung der „Illegalen“ nicht von der der Emigration im Allgemeinen trennen, vielmehr sollte man erstere als Fortsetzung der zweiten betrachten. Wir sehen in Italien zum Beispiel, dass dort die „Illegalen“ eine Vorreiterfunktion in der Einwanderung übernommen haben. Wie verträgt sich das mit dem, was du gerade gesagt hast? In wirtschaftlicher Hinsicht weisen die „Illegalen“ als Teil der internationalen Emigration dieselben Charakteristiken auf wie alle Wanderungsbewegungen. Gleichzeitig treten jedoch in konzentrierter Form die Anfangsmomente von Wanderungsbewegungen hervor. Das ist ja auch nur logisch. Vor dem Hintergrund von geschlossenen Grenzen und blockierten Zutritten findet sich der Teil der Erstmigration, der nicht auf den Wegen der Familienzusammenführung läuft, als brain drain oder als Asylsuchende im Strom der unterirdischen oder informellen Zugänge wieder.[4] Wenn diese erste Phase jedoch abgeschlossen, ist verschwindet die „Illegale“ nicht, sondern wird zu einem stabilen Element auf dem Arbeitsmarkt auch der „ältesten“ Einwanderungsländer wie der USA, Britannien, Frankreich und Deutschland und das, obwohl es immer wieder beträchtliche Legalisierungswellen gegeben hat. Handelt es sich dabei nicht um ein strukturelles Problem? Neben den allgemeinen Faktoren der Nachfrage nach einer dem Status nach minderwertigeren Arbeitskraft, völlig illegal und mit viel weniger Möglichkeiten, sich auf dem Arbeitsmarkt zu bewegen, stellt sich die Illegalität von EinwanderInnen dar als Antwort auf die spezifische Nachfrage von Arbeitskraft in bestimmten Sektoren, die große Flexibilität verlangen. Aber dennoch ist in jedem Falle die Dynamik des Arbeitsmarkts unabhängig von der Dynamik der Migrationsflüsse: Es gibt sie ob mit oder ohne internationale Emigration, und sie wird zum bestimmenden Faktor, je mehr der Migrationsdruck der Ursprungsländer nicht mehr allein ausreicht, um die stabile und lang anhaltende Migrationsbewegung zu gewährleisten. Gewisse Unternehmen passen sich sicherlich an die per Statut minderwertigere Arbeitskraftskategorien an, aber das Ganze macht nur Sinn, wenn man sich den globalen Rahmen davon vor Augen hält. Die Tendenzen der Beschäftigungspolitik sind dabei ausschlaggebend. Wenn sich das glorreiche Maßnahmenbündel zur Gegensteuerung gegen die illegale Immigration als so wenig geeignet herausstellt, so liegt das ohne Zweifel daran, dass die unvergleichlich stärkeren Kräfte des Arbeitsmarkt und der Arbeitsorganisation mit ihrem strukturellen Bedarf an informeller Arbeitskraft durchschlagen. Müsste deiner Meinung nach der Grund für die beständige Neuerzeugung von illegaler Immigration in der Flexibilisierung der Produktion gesucht werden, was du bereits als institutionalisierte Hierarchisierung des Arbeitsmarkts beschrieben hast? Wie und in welchen Sektoren werden diese Beziehungen deutlich? Bestimmte Sektoren in den Einwanderungsländern beschäftigen konstant illegale Arbeitskraft. Das sind im Wesentlichen die Landwirtschaft, die Textilbranche, die Subunternehmen auf den Baustellen und in den Dienstleistungen für Unternehmen oder private Haushalte. In diesen Sektoren muss die Produktionsorganisation - ganz gleich, wie unterschiedlich sie im Einzelnen sein mag - auf eine kaum zu vermeidende Diskontinuität hin angelegt sein. Da sind natürliche Unregelmäßigkeiten wie im Falle der Landwirtschaft, also Saisonarbeit und Beschäftigungsintensivierung zu bestimmten Jahreszeiten, oder aber Schwankungen, die aus der Optimierung der Produktionsflüsse herrühren: Die Lagerhaltung soll auf Null gefahren werden, die Auslieferungszeiten verkürzen sich, so dass die Rückwirkung der Nachfrage auf Quantität und Qualität der produzierten Waren immer schneller wird.[5] Das Ergebnis ist eine beträchtliche Fluktuation beim Einsatz der Arbeitskraft, sowohl in Ausmaß wie in Intensität. Nachgefragt ist vor allem gewöhnliche, banale Arbeit, die sich insbesondere für den Einsatz jenseits der Norm des Arbeitsstundentags eignet, wie für pausenlosen wochenlangen Einsatz oder solchen mit unregelmäßigem Rhythmus. Vor dem Hintergrund, dass sich in den letzten zwanzig Jahren die Produktionsformen technisch vereinheitlicht haben, dass sich die Normen der Industrieproduktion ausgeweitet und die Lohnarbeit mehr und mehr einheitlich geregelt worden ist, stellt die „Gelegenheits“-Arbeit für die Unternehmen einen lebensnotwendigen Randbereich dar. Die typische industrielle Arbeitsorganisation wird immer mehr in Frage gestellt, seitdem die Flexibilisierung der Produktion für die Unternehmen zu dem wichtigen Schlüssel der Lohnflexibilisierung geworden ist.[6] Je zentraler diese Sache wird, desto geringer das Interesse des jeweiligen Unternehmens, diese Arbeitskraft in genormte, geregelte Verhältnisse zu überführen. […] Wenn ich richtig verstanden habe, heißt das, dass neben dem „informellen“ Sektor ein weiterer Arbeitsmarkt oder besser ein Sekundärsektor existiert, der ebenso informell ist … Sekundär, aber keinesfalls randständig! Der Arbeitsmarkt aller Länder zeichnet sich zur Zeit dadurch aus, dass besondere Beschäftigungsverhältnisse derart massenhaft auftreten, dass sie nicht mehr ein randständiges Phänomen bei der Entwicklung der „nicht verwalteten“ Wirtschaft darstellen. Inzwischen gehört ein Viertel bis ein Fünftel der Arbeitskraft zu diesem „Sekundärsegment“. Von daher lässt sich das tendenziell als Abschaffung formaler Lohnverhältnisse bezeichnen. Wir erleben einen immer häufigeren Übergang von Lohnverhältnissen zu Nichtlohnverhältnissen und umgekehrt, dabei werden dann die (familiären, ethnischen und sogar politischen) Gemeinschaftsbande in den Arbeitsbeziehungen aktiviert oder reaktiviert. Diese grobe Skizzierung geht von einer wachsenden Balkanisierung des Arbeitsmarkts aus. Mit der zunehmenden Flexibilisierung der Produktion geht eine forcierte Hierarchisierung der Arbeitskraft einher, sie wird immer wieder erneuert, ist deswegen aber nicht weniger wirksam. In den großen Metropolen, sowohl in den „entwickelten“ Ländern wie in denen, die sich auf dem Weg der „Entwicklung“ befinden, muss man bereits nicht mehr nur von Ethnisierung der Arbeit sprechen, sondern auch von ihrer „Tribalisierung“ [Aufsplitterung in Stämme]. […] Restrukturierung, Ausschluss von Arbeitskraft, Dezentralisierung der Produktion hatten Höhepunkte, in einem ununterbrochenen, seit 1975 forcierten Prozess. Parallel dazu hat sich eine „subjektive Strömung“ entwickelt: Die Flucht der ArbeiterIn aus der taylorisierten Großfabrik und das Aufgreifen neuer Themen durch die jungen Generationen. Und doch geriet die Verweigerungshaltung mit anderen Elementen in Widerspruch, die deren positiven Aspekte in ihr Gegenteil verkehren ließen. Wenn man auf eigene Rechnung arbeitet, nach Dingen sucht, die man in einer Art Tauschhandel anbieten kann, um so die Steuern zu umgehen usw., dann sind darin ebenfalls Manifestationen der Flucht und der Verweigerungshaltung zu sehen, von der wir sprechen. Das Paradox liegt darin, dass diese Suche nach einer größeren Freiheit im Vergleich zur Großfabrik, zur tayloristischen Arbeitsteilung, etwas anderes enthüllt, ob man das will oder nicht: Sichtbar werden nämlich die wahren Netze der intensivierten Produktion, im Unterschied zur rein extensiven Erhöhung der Produktion.[7] Diese Intensivierung der Produktion heißt: Dezentralisierung der Produktion; Einbeziehung der intellektuellen Arbeit und eine immer größere Vergesellschaftung der Arbeitskraft; Homogenität des Arbeitskollektivs; Verinnerlichung der Hierarchie, die in der Wissenschaft immer stärker objektiviert wird, wo die Technisierung vor allem als Rationalisierung der Handgriffe und als Handhabbarmachung der Information verstanden wird; und weiter, zu den „Blüten“ der Kreativität, die aus der „Schattenwirtschaft“ erwächst und mit der Ausbeutung unterbezahlter Abhängiger, der illegalen ImmigrantInnen, gedüngt wird, hervorgezaubert in phantomartigen Handwerksbetrieben, oder von den Laufburschen des „Frei-Haus-Lieferservices“, oder in den Firmen der Computerberatung, in den Kursen der beruflichen Fortbildung, in den „Laboratorien“ der Auftragsforschung usw. […] [1] Siehe auch Y. Moulier-Boutang, R. Silberman und J. P. Garson, Economie politique des migrations clandestines de main-d’œuvre, Publisud, Paris 1986. [2] A. O. Hirschman, „Exit, Voice and the State“, in: Essays in Trepassing Economics to Politics and Beyond, Cambridge, Cambridge University Press, 1981. [3] C. Kerr, Labour Markets and Wages Examination. The Balcanisation of Labour Market and Other Essays, University of California Press, Berkley 1977 (Der Aufsatz über die Balkanisierung des Arbeitsmarkts stammt aus dem Jahr 1955). [4] Vgl. J. Brun, America, America, Gallimard, Paris 1980. [5] Vgl. zu diesem Punkt F. Stankiewicz (Hrsg.), Les strategies d'entreprises face aux res-sources humaines, l'apres taylorisme, Paris, Economica 1988 [6] Dieser höchst wichtige Punkt ist Gegenstand in einem Beitrag von R. Byer, „New Directions in Management Practises and Work Organization. General Principes and National Trajectories“, in OECD, Akten, Konferenz über Technical Change as a Social Process: Society, Entreprises and Individual, Helsinki, 11. – 13. Dez. 1989. [7] Antonio Negri, Le nouvel espace europeen des entreprises: les PME italiennes, l'example de Benetton, le nouveau chef d'entreprise en Europe. GRAMI (Gruppe Forschung u. Analyse internationaler Migrationen), Ecole Normale Superteure, Paris, Dez. 1989. |
|