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Peter Haumer: „Wir
haben uns selber angeführt!“ Anfang Mai 2009 war in bürgerlichen Medien die Geschichte vom abgeschnittenen kleinen Finger der linken Hand des Zoran Bulatovic[1] lesen. In der deutschen Taz wurde der Artikel mit „Wenn Arbeiter zu Kannibalen werden“ betitelt, in österreichischen Tageszeitungen wurde vom „Kannibalen aus dem Sandschak“ berichtet. Durch diese Schlagzeilen wurde der arbeitslose Textilarbeiter als „Fingerfresser“ denunziert und die Selbstverstümmelung und damit der Kampf selbst in die Nähe eines psychopathischen Akts gerückt. Kaum war der 1. Mai vorbei und der aus diesen Schlagzeilen resultierende Profit realisiert, war die geheuchelte Sensibilität für die soziale Frage nicht mehr notwendig und es wurde kein Wort mehr über die Lage der TextilarbeiterInnen von Novi Pazar und über ihren Kampf verloren. Sie standen von Anfang an alleine und waren lange Zeit auch gezwungen, ihren Kampf alleine zu führen. Jetzt beginnen sie sich aber zunehmend mit Belegschaften, die auf eine ähnliche Geschichte wie sie selbst zurückblicken, zusammenzuschließen, um ihren Kampf effektiver gestalten zu können. Diese Auseinandersetzung mit Interesse zu verfolgen ist nicht nur aus solidarischen Gründen notwendig, sondern ist auch - angesichts der schweren und globalen kapitalistischen Wirtschaftskrise, die auch bei uns mit einem industriellen Kahlschlag verbunden sein wird - äußerst lehrreich. Die soziale und politische Situation der ArbeiterInnenklasse in Serbien ist katastrophal. Dieses Land ist vom nationalistischen Krieg, vom Wirtschaftsembargo, von den militärischen Angriffen der Nato[2] und der erfolgreichen Deindustrialisierung schwer gezeichnet. Seit 1993 befindet sich das Land de facto im Ausnahmezustand und die ArbeiterInnenklasse ist ständigen Angriffen ausgesetzt. Die Privatisierungswellen, aber auch Flüchtlingsströme und die Abschiebungen von AsylwerberInnen haben zu einer immensen Verarmung und sehr hoher Arbeitslosigkeit geführt. In Novi Pazar leben 125.000 Menschen, davon sind ca. 80% Muslime (2002 waren es noch 86.000 EinwohnerInnen; dann folgten Flüchtlingswellen aus dem Kosovo, aus Montenegro, Bosnien und Kroatien. Weiters kamen die wachsenden Abschiebungen aus den EU-Staaten wie Deutschland und Österreich hinzu). In Novi Pazar leben 33% unter der Armutsgrenze, 55% sind arbeitslos (in Serbien sind es 30%).[3] Novi Pazar war das Zentrum der jugoslawischen Textilindustrie. Das Textilkombinat (TK) Raska war das Herzstück des „Jeansvalleys“ in Jugoslawien. Von der Elterngeneration der heutigen TextilarbeiterInnen aufgebaut, ging es 1956 in Betrieb. In den 1990-er Jahren waren bis zu 4.000 ArbeiterInnen beschäftigt. Der Betrieb errichtete 500 Werkswohnungen sowie drei Erholungsheime. Diese Immobilien waren lukrative Ziele für die Privatisierungswellen, die über Raska hinwegzogen. Seit 1993 wird im TK Raska Personal abgebaut. Gegenwärtig sind noch 100 Beschäftigte im Werk (vor allem Direktoren, TechnikerInnen usw.). Ihre einzige Hoffnung ist ein ausländischer Investor, was allerdings bei den weltweiten Überkapazitäten in der Textilbranche kaum vorstellbar ist. Falls doch, hat dieser sicherlich keine guten Absichten, wie an einem kleinen Teil der Firma zu sehen ist, der an eine Firma namens Zet-Innovation untervermietet wurde. Hier werden unter anderem Mustang-Jeans für Deutschland weiterverarbeitet. Der Durchschnittsverdienst der 150-200 Beschäftigten beträgt dort ca. 200 €, viele von ihnen sind illegal beschäftigt.[4] Im Kampf standen 1523 ArbeiterInnen - 80% davon sind alleinerziehende Mütter - die allesamt zwangsbeurlaubt waren. In solchen Fällen sieht ein Gesetz vor, dass der Staat als Eigentümer die Lohnfortzahlungen übernimmt, dem ist er allerdings seit 1993 kaum nachgekommen. Die Situation spitzte sich deshalb immer mehr zu. Die Ziele der Proteste waren die Einführung einer Pensionsversicherung bei Arbeitslosigkeit sowie Lohnnachzahlungen von mindestens 36 Monatslöhnen und Schuldenerlass für die Fabrik. Der diesjährige Kampf war bereits der dritte seit 2006. Erst 2008 gab es einen sehr militanten, aber erfolglosen neunzehntägigen Hungerstreik. Nachdem dem neuerlichen Hungerstreik ab dem 23. April 2009 die nötige Aufmerksamkeit verwehrt wurde, griffen die ArbeiterInnen noch vor dem 1. Mai zu dieser dramatischen Aktion der Selbstverstümmelung. Eigentlich hatte Senada Rebronja[5], Bulatvics Stellvertreterin und Herz und Seele des Widerstands, den Plan sich den Finger abzuhacken. Warum es aber schließlich Zoran Bulatovic machte, dafür hatte er selbst die verschiedensten Erklärungen. Der entscheidende Grund war wohl der, dass Senada Rebronja Muslimin und Zoran Bulatovic Serbe ist. Hätte sie diesen Kampf angeführt, so wäre sie als Terroristin denunziert worden und dem Konflikt selbst wären separatistische Ziele unterstellt worden.[6] Die wichtigsten Solidaritätserklärungen für die Streikenden kamen aus Bosnien, Kroatien, Slowenien und Montenegro, weil sie so in ihrer multiethnischen Überzeugung bestärkt wurden. Die Angst kursiert in Belgrad, dass der soziale Konflikt jeglicher Kontrolle entgleiten könne. Verhandlungen wurden angeboten, in Belgrad wurden Kommissionen und Arbeitsgruppen gebildet, der zuständige Direktor der Privatisierungsagentur setzte sich anlässlich dieser Auseinandersetzung in die USA ab. Der vorläufige Kompromiss, der der Regierung nach 110 Streiktagen abgerungen wurde, sieht eine Einmalzahlung von ca. 300 € für die Streikenden des Textilkombinates Raska vor, wohingegen für ähnliche Fälle im Serbien etwas mehr als 50 € ausbezahlt werden. Der materielle Erfolg des Kampfes ist somit sicherlich nicht der zentrale Punkt in dieser Auseinandersetzung; vielmehr ist es vor allem der moralischen und psychologischen Komponente des Kampfes zu verdanken, dass sich das Kräfteverhältnis endlich wieder zugunsten der ArbeiterInnenklasse zu verändern beginnt. Ohne den Kampf der ArbeiterInnen von Raska wären viele der derzeitigen Arbeitskämpfe in Serbien nicht vorstellbar. So lautet zum Beispiel eine der Losungen von Streikenden in Kragujevac (Südserbien): „Mit dem kleinen Finger Serbien bewegen!“. Mehr als 30.000 ArbeiterInnen aus 29 Unternehmen stehen in Serbien gegenwärtig im sozialen Kampf (Streiks, Betriebsbesetzungen usw.) und die Kampfwelle wird zunehmen. Am 11. September 2009 war in Novi Sad eine gesamtserbische Demonstration geplant. Bei dieser und ähnlichen Aktionen ist der Transport wegen chronischem Geldmangel das größte Hindernis für eine weitergehende Solidarisierung. Es konnte aus Novi Pazar nur ein Bus hinfahren. Benzin ist in Serbien so teuer wie in Deutschland und Österreich! Einen Bus zu mieten kostet um die 200 €. Radikalität ist in Serbien mittlerweile Normalität. Die Politiker haben geredet und geredet und den TextilarbeiterInnen Versprechungen um Versprechungen gemacht. Die glauben denen da „oben“ jedoch nicht mehr, auch wenn sie gerne immer einmal jemandem kurz wieder Glauben schenken - ohne Glauben, auch religiösen, geht es noch nicht. Aber sie sind Heißsporne geworden und stolz auf ihre Radikalität. Deshalb blicken sie auch nach Frankreich, weil sie glauben, dort ihre Radikalität wieder zu finden. Sie machen zwar kein Bossnapping, aber die Streikenden fanden es etwa einmal notwendig, den Raska-Direktor solange zu würgen, bis dieser bereit war, ihnen Einblick in die Geschäftsbücher zu geben. Ein anderes Mal vertrieb Senada die Polizei, als diese Zoran aus dem Streiklokal zerren wollte, mit einem Molotow-Cocktail in der einen, ein brennendes Feuerzeug in der anderen Hand. An den Verhandlungstisch kamen sie prinzipiell nur mit Motorsägen und immer wieder drohten sie mit weiteren Selbstverstümmelungen. Der kämpferische Teil der ArbeiterInnenklasse in Serbien hat bereits damit begonnen, sich über die einzelnen Orte hinweg zu vernetzen. Aus Kragujevac, eine Autoindustriestadt (Zastava) kam schon vor einem Jahr der Vorschlag zur Bildung einer ArbeiterInnenvereinigung Serbiens. Jetzt dürfte die Zeit schön langsam für eine nationale Vernetzung heranreifen. Wir werden sehen.[7] Die 1523 TextilarbeiterInnen[8] vertreten sich selbst. Sie haben sich zusammengeschlossen, weil sie keiner der vorhandenen Gewerkschaften oder Parteien mehr trauen. Die ehemaligen „Milosevic-Gewerkschaften“ besitzen ohnehin kein Vertrauen mehr bei den ArbeiterInnen, und was die so genannten „unabhängigen“ Gewerkschaften betrifft, so sagte Zoran Bulatovic nur lakonisch dazu: „Die Frage stellt sich, wovon die denn eigentlich unabhängig sind; und eines ist auf alle Fälle klar - die sind gänzlich unabhängig von uns ArbeiterInnen.“ Es hat folglich auch keine der unzähligen Gewerkschaften in Serbien den Kampf der Raska-ArbeiterInnen unterstützt. Lediglich einzelne Gewerkschaftsfunktionäre vor Ort, wie zum Beispiel Esad Nicevic[9], haben den Kampf solidarisch mitgetragen. Die Mitglieder des Verbandes versammeln sie sich jeden Tag aufs Neue. Jede/r die oder der will, kann an diesen Versammlungen teilnehmen. Sie haben keine Infrastruktur, keine Technologie. Zu Beginn hatten sie auch keine Räumlichkeiten. Jetzt haben sie einen Raum im Stadtzentrum, wo sie sich treffen und wo auch der Hungerstreik stattgefunden hat. Aber was viel wichtiger ist: die 1523 haben ihre Versammlungen, ihre Einigkeit, ihre Entschlossenheit, ihr Kollektiv, ihr gegenseitiges Vertrauen und ihre gegenseitige Hilfe. Übereinstimmend sagen sie: „Wir haben uns selber angeführt.“ Und sie haben damit einen beachtlichen Teilsieg errungen und gezeigt, dass Kämpfen doch einen Sinn macht, selbst im zerstörten Serbien. Post Scriptum: Ende September wird bekannt, dass das TK Raska in Insolvenz gehen müsse. Jeder/m ist klar, dass dies das Ende aller Arbeitsplätze bedeuten würde. Daraufhin versammelten sich binnen Stunden ca. 1500 ArbeiterInnen vor dem Fabrikgebäude und erklärten, dass sie keine Insolvenz akzeptieren würden. Sie stellten der Regierung ein fünftägiges Ultimatum um den Insolvenzbeschluss zurückzunehmen, ansonsten würden sie zu radikaleren Kampfmitteln greifen müssen. Am dritten Tag der Frist zog die Regierung ihre Insolvenzabsichten zurück und erklärte, dass das Land die Schulden vom TK Raska übernehmen würde. Damit haben die TextilarbeiterInnen einen wichtigen Teilsieg errungen. Ihre Fabrik wird vorläufig noch weiter existieren, und ihre Arbeitsplätze werden keine Seifenblasen. Ihr Kampf kann und wird damit weitergehen. Nach dem IWF-Diktat sollen die Privatisierung bis Ende 2009 über die Bühne gegangen sein. Durch den Widerstand vieler Belegschaften ist dieser Zeitplan ins Wanken geraten und nun droht jenen Betrieben, die sich bis jetzt erfolgreich gegen die Privatisierung zur Wehr gesetzt haben, eine Zwangsversteigerung. Dieses Damoklesschwert schwebt auch über dem TK Raska und den 1523 TextilarbeiterInnen. Wien, 28. 10. 2009 Peter Haumer arbeitet bei „Jugend am Werk“ und seit Jahrzehnten politisch aktiv, zuletzt in der Solidaritätsbewegung für serbische Arbeiter_innen [1] Zoran Bulatovic ist Vorsitzender des Verbands der TextilarbeiterInnen, 52 Jahre und war von 1985–1993 bei Raska beschäftigt. Er ist Vater von drei Kindern und ehemaliger Fußballballspieler bei Novi Pazar. Als er sich den kleinen Finger abschneidet, schickt seine Tochter ein SMS: „Mir fehlen die Worte, der ist ja nicht normal!“ [2] Am 31. 05. 1999 wurde auch Novi Pazar Opfer der NATO-Aggression. Bei den Luftangriffen wurden 10 BewohnerInnen der Stadt ermordet. [3] Nach einer Visite einer Delegation des Internationalen Währungsfond kündigte vor kurzem Wirtschaftsminister Mladen Dinkic an, dass zehn Prozent (d. h. 60.000 Menschen) im öffentlichen Dienst gekündigt werden müssten. Betroffen wird davon hauptsächlich der Sozial-, Gesundheits- und Erziehungssektor sein. In Serbien, mit seinen 7,5 Mio. EinwohnerInnen, wird für 2010 erwartet, dass erstmals die Zahl der EmpfängerInnen staatlicher Leistungen die der Beschäftigten übersteigen wird! [4] In der Region beträgt der Durchschnittsverdienst 260 €, im Landesdurchschnitt 350 €. [5] Senada Rebronja ist stellvertretende Vorsitzende des Verbandes der TextilarbeiterInnen, 48 Jahre alt und allein erziehende Mutter von drei Mädchen. Die jüngste Tochter, Arabella, 17 Jahre, ist ebenfalls schon Mutter. Das zweitjüngste Mädchen hat das Down-Syndrom. Senada hat 25 Jahre lang in der Textilfabrik Raska gearbeitet. Bekommt für ihr Kind mit Down-Syndrom 65 € Sozialhilfe monatlich. Pro Kind gibt es monatlich 90 € Kindergeld. Von diesem Geld lebt die Familie in einem Raum bei Senadas Vater. [6] Von den 1523 kämpfenden TextilarbeiterInnen sind nur ca. 10% SerbInnen, aber fast 90% sind BosniakInnen, sowie Roma und 2 Slowenen. Die TextilarbeiterInnen betonen immer wieder mit Stolz, dass es unter ihnen keinerlei Form von Nationalismus gebe und sie weiterhin in einer multiethnischen Gemeinschaft leben wollen. Versuchen, den nationalistischen Streit in ihre Stadt hineintragen zu wollen, wurde und wird von ihnen energisch entgegengetreten. Wenn etwas im alten Jugoslawien gut gewesen war, dann das Jahrzehnte lang funktionierende Zusammenleben der verschiedenen Ethnien. Zoran Bulatovic hätte als Serbe in den Kosovo marschieren sollen. Er hat dies, mit wenigen anderen, mit Erfolg verweigert. In Novi Pazar gibt es drei große Parteien: 1) Sandzacka demokratska partija (23 Mandate, muslimisch); 2) Stranka demokratske akcije (18 Mandate, moslemisch); und 3) Srpska lista (6 Mandate, serbisch). [7] Ende August, Anfang September haben sich - ausgehend von Aktionen der Belegschaft von Zastava Elektro in Raca in der Nähe von Kragujevac - die ersten Streikkomitees begonnen, zu einer Koordination zusammen zu schließen. Am 7. September 2009 haben vier Streikkomitees einen ersten Aufruf herausgegeben, der auch die vielen anderen unabhängigen Basiskomitees aufruft sich ihrem „Koordinationskomitee für den ArbeiterInnenwiderstand in Serbien“ anzuschließen. Bis jetzt (28. September 2009) haben sich die Streikkomitees von Zastava Elektro (Raca), TK Raška (Novi Pazar), Ravanica (Ćuprija), Srbolek (Belgrad), Trudbenik (Belgrad), Šinvoz (Zrenjanin), und BEK (Zrenjanin) in dem Koordinationskomitee zum gemeinsamen Kampf zusammengefunden. [8] 1523: Zahl der Mitglieder des Verbandes der TextilarbeiterInnen, der 2004 gegründet worden war, weil Gewerkschaften und Parteien die Interessen der arbeitslosen TextilarbeiterInnen von Raska nicht mehr vertreten haben. Mittlerweile gibt es den Verband auch in einigen anderen Städten von Sandžak; er nennt sich daher „Vereinigung der TextilarbeiterInnen von Novi Pazar, Sjenica und Tutin“. [9] Esad Nicevic ist Gewerkschaftskoordinator einer unabhängigen Gewerkschaft. Obwohl seine Zentrale in Belgrad den Kampf nicht unterstützt, steht er 100% dahinter. Er ist ein Vertrauter der Raska-ArbeiterInnen. Arbeitete vorher bei Iskrametall in Novi Pazar. Dort war er Sicherheitstechniker. 1991 arbeiteten 350 ArbeiterInnen bei Iskrametall. 2005 wird der Betrieb geschlossen, nachdem er 2004 privatisiert worden war. |
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