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Judith Revel: Vom Leben in prekären Milieus (oder: Wie mit dem nackten Leben abschließen?)

Übersetzt von Birgit Mennel

Von Ende Oktober bis Anfang November 2005 waren viele von uns zögerlich angesichts der Frage, wie die Ereignisse in den Banlieues politisch zu lesen waren. Nicht dass die Revolte an sich eine Überraschung gewesen wäre – was das betrifft, stellte sich vielmehr die Frage, wie es kam, dass sie sich nicht schon viel eher entfesselt hatte. Auch war die dramatische Zuspitzung von Provokationen, die der Auslöser für die Geschehnisse war, keineswegs neuartig: In der Banlieue ist all das traurigerweise die Regel, leider; und man musste nicht bis 2005 warten, bis die Willkür, die uniformierte Gewalt und die täglichen Erniedrigungen mit Steinewerfereien, mitunter gewalttätigen Zusammenstößen und brennenden Autos beantwortet wurden. Nein, die eigentliche Überraschung bestand vielmehr darin, dass eine kollektive und tatkräftige Subjektivität in Erscheinung trat, die von erstaunlicher Dauer (drei Wochen) und Ausdehnung (in den „Quartiers“, der Pariser Banlieue, aber auch der Provinz) war und wenn nicht eine Organisierung, so doch zumindest eine strategische Entfaltung von offenkundiger Effizienz erkennen ließ.

Es galt daher drei Fallgruben zu vermeiden, und es bleibt ungewiss, ob es uns immer gelungen ist, den Abstand zu den interpretatorischen Verführungen zu wahren, die sie anzubieten behaupten.
Die erste dieser Fallgruben bestand darin, in jenen drei Wochen der Revolte nichts weiter zu sehen als den verdichteten Ausdruck einer Wildheit, die – je nach Diskurs – auf unterschiedliche Faktoren zurückgeführt wurde: auf ein Erziehungsdefizit, das die ErzeugerInnen ihrerseits unter Anklage stellte, indem ihnen die Schuld an einer beschämenden Abdankung zugewiesen wurde sowie an einer Reihe von Pathologien, die das Soziale im Klinischen zu verorten erlaubten (in einem erstaunlichen Revival von lombrosianischen Theoretisierungen); oder auch auf einen äußerst allgemein formulierten und sehr bequem veranschlagten „Mangel an Ordnung“, dessen Behauptung auf eine Verschärfung der Disziplinarisierungsprozesse an den für sie vorgesehenen Orten (d. h. insbesondere der Schule) hinauslief sowie auf das Eingreifen der Disziplinarinstitution schlechthin (der Armee) überall dort, wo sich die Schule als nicht ausreichend disziplinierend erwies. Wir werden hier nicht die – zahlreichen – AutorInnen zitieren, deren Vorschläge an die Eselskappen erinnerten, die man ungelehrigen oder unfügsamen SchülerInnen aufsetzte. Beschränken wir uns auf den Hinweis, dass sich besagte Vorschläge auf der Rechten wie auch auf der Linken auf eine gekonnte – und leider effiziente – Abmischung aus überkommener repressiver Rhetorik und pointierten pseudosoziologischen Behauptungen stützte, auf eine subtile Vermengung von moralischen Betrachtungen (v. a. über den Mangel an Werten bei den „Wildlingen“) und einer holprigen politischen Diagnostik, die einen billigen „kulturellen Psychologismus“ bemühte (die an der Bilingualität der Zuwandererkinder scheiternde Republik, die durch die Polygamie unmöglich gemachte Integration etc.).

Die zweite, weniger karikatureske Fallgrube bestand darin, ausländische Interpretationsmodelle zu importieren, um über die französischen Ereignisse Aufschluss zu geben. In bestimmten Fällen erlaubte es paradoxerweise eben diese Anleihe, die französische „Besonderheit“ klarer auszuleuchten.[1] Die entsprechenden Modelle kamen in drei Varianten zur Anwendung: in einer kommunitaristischen Lesart (der sich die große Mehrheit der französischen Schriftpresse anvertraute und die beinahe ausschließlich die Lesart der ausländischen Medien war); in einer Analyse, die in Begriffen ethnischer Zugehörigkeit verfuhr (mithin einer Variante der ersteren Lesart, die die „kommunitäre Tatsache“, ob kulturell, politisch oder religiös definiert, auf die Idee einer gemeinsamen „Abstammung“ bezog, bei allen Interpretationsdifferenzen, die diese ihrerseits erfahren kann: als geographische, biologische, psychologische etc. „Abstammung“); und schließlich in einer Lektüre, die sich an den existierenden „Integrationsmodellen“ orientierte, die in verschiedenen Nationen zur Anwendung kamen und Frankreich Anlass gaben, sich auf der Skala der möglichen öffentlichen Politiken dem einen Extrem zugerechnet zu sehen, während Großbritannien das entgegengesetzte Extrem repräsentierte.

Die dritte Fallgrube schließlich verband sich mit einer gegenläufigen Interpretationsrichtung. Man trug im Gegenzug einen bruchlosen Optimismus zur Schau und verschrieb sich in einem Aufwasch der Verteidigung des Spontaneistischen, einer erstaunlich unhistorischen Lesart der Geschichte sowie einer Ästhetisierung der Revolte – und zwar egal welcher Revolte –, die literarisch genug sein mag, um sympathisch zu wirken, die aber nicht ausreichend politisch ist, um wirklich zu überzeugen. Es wurde in wirrem Durcheinander von einer neuen „Pariser Kommune“, von der französischen Variante der Aufstände in Los Angeles oder (die Steinewerfereien als wahren „Krieg der Steine“ auffassend) von einer Intifada der Banlieues gesprochen  – kurz, von einer handlungsmächtigen und denkenden Multitude, die sich in vollem Umfang in der konstituierenden Geste ihrer Revolte entfaltete. Im Oktober und November 2005 aber war das alles nicht mehr als eine Hypothese: Man konnte zwar Wetten abschließen – und der Wetteinsatz war von enormer Bedeutung, dessen waren wir uns alle bewusst –, aber wir wussten nicht, was dabei herauskommen würde. In einem der ersten Bücher, die unmittelbar nach den Ereignissen erschienen[2] – einer Arbeit, der man rückblickend zu ihrer Klugheit und Vorsicht gratulieren muss –, beschränkte sich der italienische Journalist Guido Caldiron darauf, eine Reihe von Hypothesen über 2005 zu formulieren, ausgehend von der Analyse der sporadischen Banlieue-Explosionen der vergangenen 15 Jahre sowie mit Blick auf das, wozu diese „Tour de France in 80 Konfrontationen“ Anlass gab – und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt der Verschärfung von Kontroll- und Repressionsdispositiven als auch unter dem des Auftauchens mehr oder weniger selbstorganisierter „widerständiger Subjektivitäten“. Tatsache ist, dass einige Wochen verstreichen mussten, ehe nicht nur verstehbar wurde, worin keines der erwähnten Interpretationsmodelle funktionierte – das der analphabetischen, gewalttätigen und unmoralischen Wilden, das des religiösen Kommunitarismus bzw. des ethnisch-kulturellen Identitarismus und das der politischen Modelle einer Integration der MigrantInnen in den ungespaltenen Körper der Republik –, sondern außerdem klar wurde, in welchem Ausmaß die Geschehnisse wirklich neu waren und eine subjektive und politische, widerständige und konstituierende Macht in sich bargen, die auch uns dazu zwang, eine ganze Reihe von Elementen unserer eigenen politischen Grammatik zu reformulieren. Diese Wochen waren entscheidend, denn sie ermöglichten eine Art von „doppelter Verifizierung“ im politischen Sinn: durch die unmittelbare Wortergreifung seitens der betroffenen Subjekte selbst (und zwar in völlig neuen Modalitäten, auf die wir noch zurückkommen werden) sowie durch eine Reihe von politischen Verschiebungen, die auch Verschiebungen bezüglich der Konfliktstrategie bedeuteten. Mit diesen beiden Aspekten wollen wir uns nun beschäftigen.

Die Mystifizierung der Unproduktivität

Während der Tage der Revolte war im Diskurs der öffentlichen Machtinstanzen – und weiter gefasst im Diskurs einer sehr großen Mehrheit der Medien – die Weigerung wirksam, dem, was in den Banlieues vor sich ging, auch nur den geringsten politischen Wert zuzusprechen. Ausgangspunkt dafür war ein doppeltes Postulat, das allgegenwärtig war, zugleich jedoch nie offen gelegt wurde : die Abwesenheit von Sprache und die zunehmende Entropisierung sozialer Verhaltensweisen. Dieses doppelte Postulat wurde seinerseits auf der Basis einer selbstverständlichen Überzeugung errichtet: Einerseits muss, wer die Sprache der politischen Repräsentation nicht spricht, aphasisch sein (oder in einer radikaleren Variante: Wer die Sprache der politischen Repräsentation nicht spricht, ist notwendigerweise in-fans, infantil, und zwar mit dem ganzen Beigeschmack einer vor jeder Erziehung angesiedelten Animalität, den eine solche Argumentation in sich birgt – daher auch das Herumreiten auf dem Alter der Aufständischen – und in dem sich ziemlich offenkundig eine Wiederaufnahme des alten Kolonialdiskurses über die „Wilden als große Kinder“ ausdrückt). Und andererseits sind diejenigen, die etwas zerstören (noch dazu mit Feuer), in Wirklichkeit zur Produktion unfähig: Wir begegnen hier dem Motiv der Unproduktivität der Banlieues (im besten Fall: einer strukturellen Unproduktivität, die fast „naturalisiert“ wirkt, so sorgfältig wird ihre Hinterfragung vermieden; im schlimmsten Fall: einer Unproduktivität, die in jener den guten – wie auch den schlechten – Wilden unterstellten „natürlichen Faulheit“ und „Liebe zur Ungezwungenheit“ wurzelt, aus der die Unordnung hervorgeht und die nicht länger nur für den sozialen Bruch, die Arbeitslosenzahlen und die Verschlechterung der Existenzbedingungen in den Quartiers die Verantwortung trägt, sondern sich schlussendlich in der pathologischen Gestalt einer blinden und destruktiven Gewalt manifestiert).

Dieser Gebrauch der Kategorie der Unproduktivität als Instrument der sozialen Disziplinarisierung ist neu genug, um einen Moment dabei zu verweilen; nach unserer Ansicht besteht sogar eben hierin im Wesentlichen die Neuartigkeit der Kontrollstrategien, die seit einigen Jahren von den öffentlichen Machtinstanzen eingesetzt werden. Gehen wir, um diese Neuartigkeit zu bewerten, zehn Jahre zurück, und lesen wir etwa erneut die außerordentlich aussagekräftigen Analysen, die Giorgio Agamben in Homo Sacer[3] in Bezug auf die souveräne Geste der Verbannung vorgetragen hat – wobei es im Kopf zu behalten gilt, dass die ban-lieue im engeren Sinn der Ort des Banns [lieu du ban] schlechthin ist. Bezüglich der Verbannung, in der er die Besonderheit der Ausübung von Souveränität erblickt, schreibt Agamben Folgendes: „Doch die Beziehung des Banns und der Verlassenheit [abbandono] ist in der Tat dermaßen doppeldeutig, dass nichts schwieriger ist, als sich von ihr zu lösen. Der Bann ist wesentlich die Macht, etwas sich selbst zu überlassen, das heißt die Macht, die Beziehung mit einem vorausgesetzten Beziehungslosen aufrechtzuerhalten. Dasjenige, was unter Bann gestellt wird, ist der eigenen Abgesondertheit überlassen und zugleich dem ausgeliefert, der es verbannt und verlässt, zugleich ausgeschlossen und eingeschlossen, entlassen und gleichzeitig festgesetzt.“[4]

Was hier als grundlegende Ambiguität des souveränen Banns beschrieben wird, erinnert selbstverständlich an einige der stärksten Seiten von Michel Foucaults Buch Wahnsinn und Gesellschaft bzw. daran, wie seit dem klassischen Zeitalter die Unvernunft durch die Vernunft zugleich ausgeschlossen wurde und in einen Bezirk eingeschlossen, den die Vernunft im Namen der von ihr beanspruchten Macht eben darum ausgestaltete, um ihrem Anderen einen Namen, einen Raum und eine Markierung zuzuweisen. Gelehrte bibliographische Referenzen und Effekthaschereien beiseite lassend, könnten wir indessen ebenso gut sagen, dass sich die Agamben’sche Analyse treffsicher auf die vor etwa vierzig Jahren erfolgte Konstituierung des Raums der neuen Banlieues in Frankreich anwenden lässt: Die Banlieue entsteht außerhalb der Stadt – als eine andere Stadt, die sich selbst genügt und unter dem Gesichtspunkt der Verwaltung oftmals autonom ist; als „Cité“ und Satellitenstadt der eigentlichen Stadt, von der sie abgetrennt wurde  –, und doch bleibt sie trotz allem ihre Banlieue. Dieses Possessivum muss ernst genommen werden, denn die Beziehung, die die der räumlichen Distanzierung doppeln wird, ist in der Tat eine Beziehung der Aneignung, Inbeschlagnahme und Ausbeutung: Die neuen Quartiers, errichtet während der Wachstumsperiode der Trente Glorieuses[5], dienten nämlich tatsächlich als Sammelbecken für wenig (oder nicht) qualifizierte fordistische Arbeitskräfte, die zur Einspeisung in die Produktion der benachbarten Fabriken bestimmt waren – und in eben diesen Zusammenhang, der durch die Dekolonisation zweifellos noch komplexer geworden ist, muss in Frankreich auch der massive Zuzug von migrantischen Arbeitskräften insbesondere aus dem Maghreb gestellt werden, der diese Jahre charakterisiert. Selbstverständlich gilt das, was wir hier über die in den 1960er und 1970er Jahren errichteten städtischen Ballungsräume sagen, nicht für jede Banlieue im strikten Sinn. Wenn man sich in einer Art Vereinfachung der Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie auf eine Definition der Banlieue als periurbaner Raum beschränkt, so ist der folgende Einwand zweifellos berechtigt: Saint-Denis, Aubervilliers oder Ivry sind Banlieues, Neuilly, Saint-Cloud oder Sceaux sind es nicht. Aber es wäre auch irreführend, allein die Einkommen der BewohnerInnen zur Interpretationsgrundlage zu machen; oder genauer: eben darum, weil die die „Quartiers“ betreffenden Reichtumsunterschiede vielmehr auf einer vorgängigen Struktur der Ausbeutung beruhen, repräsentierte die Banlieue seit ihrem Auftauchen den Raum der Verwaltung, Aufteilung und Disziplinarisierung der Arbeitskraft schlechthin – und wir sprechen hier selbstverständlich nicht von den vornehmen „Wohnvierteln“, den „Grünbezirken“ oder den verschiedenen bukolischen Versionen des „Landlebens an den Toren von Paris“.

Diese Verwaltung des Raumes der neuen Banlieues erwies sich daher von Anfang an als Biopolitik: Eben weil die Produktion nach Just-in-time-Prinzipien organisiert werden sollte und es sicherzustellen galt, dass nichts die Kontinuität des Produktionszyklus beeinträchtigte, war es wichtig, dass die Arbeitskräfte zufriedenstellende Lebensbedingungen vorfanden. Cités, die sicherlich weniger strahlend waren, als es Le Corbusier sich gewünscht hätte, die aber, jedenfalls ursprünglich, mit Diensten und Geschäften, Transportsystemen und kommunaler Infrastruktur ausgestattet und der gemeinsamen Organisation durch (oftmals kommunistische) BürgermeisterInnen und Betriebsräte anvertraut waren – alles in allem also einfache ArbeiterInnenschlafstätten, die sich buchstäblich in „kleine Städte“ verwandelten, damit die ökonomische Einverleibung der Lebenskraft sowie die maximale Ausbeutung der Arbeitskraft sichergestellt werden konnte. Diejenigen, die sich an die letzten Pariser Barackensiedlungen [bidonvilles] Ende der 1960er Jahre – etwa in Nanterre – erinnern, werden die Freude nachvollziehen können, mit der die Menschen sich in den neuen „Quartiers“ niederließen und Wohnungen bezogen, die mit Mauern, Türen, Sanitäranlagen und einer Zentralheizung versehen waren und in deren Umgebung es Nachbarschaftsläden, Schulen, Schwimmbäder und Kantinen gab; aber sie werden auch um den Preis wissen, der den BewohnerInnen für diese plötzliche „städtebauliche Philanthropie“ abverlangt wurde: die Einrichtung eines Dispositivs, das das gesamte Leben radikal in Arbeit versetzte, die Einbeziehung des Lebensraums in den Raum der Produktion sowie die der alltäglichen Existenz auferlegte Rentabilität.

Aber wenn die Banlieue nur von dem her verstanden werden kann, was sie war – dann auch deshalb, weil ihre Interpretation heute von dem ausgehen muss, was sie aufgehört hat zu sein. Die Krise der fordistischen Produktion führte zu einem drastischen Rückgang des Bedarfs an unqualifizierten Arbeitskräften: der Produktionstyp hat sich gewandelt, die Arbeit ebenso. Der Übergang zum Postfordismus hätte für die Banlieue eine Gelegenheit sein können, die laufende Transformation zu begleiten, zugleich aber neu zu definieren, was sie war: die Schließung der Fabriken bedeutete nicht, dass es keine Arbeit mehr gab, sondern dass die Arbeit anderswo stattfand, eine andere war und anderen Erfordernissen entsprach. Das hätte einer Investition in Ausbildung, Lehre und Qualifikation bedurft. Und genau diese Anstrengung wollten die öffentlichen Machtinstanzen nicht unternehmen. Alles lief so ab, als hätte man die BewohnerInnen der Banlieues nicht nur in einem geschlossenen Raum, sondern auch in einer längst vergangenen Zeit eingesperrt. In den „Quartiers“, wo die Jugendarbeitslosigkeit vierzig Prozent erreicht (und manchmal überschreitet), waren die Großväter Arbeiter, und ebenso die Väter, wenngleich unter schwierigeren Umständen; die älteren Brüder haben nur selten Zugang zu Beschäftigungen gehabt, und so kommt es vor, dass die Jüngsten, die Zwölf- bis Fünfzehnjährigen, niemals die Realität einer echten Beschäftigung in der Familie kennen gelernt haben. Die „Großen“ haben zumindest noch eine Vorstellung davon oder eine Erinnerung daran: Sie wurden sogar zu Gefangenen ihrer eigenen Vorstellung bzw. Erinnerung gemacht, zumal die Unmöglichkeit, der sie sich gegenüber sehen, wenn es darum geht, eine Arbeit zu finden, im Allgemeinen mit der Krise der fordistischen Produktion erklärt wird, in einem scheinheiligen Fatalismus, der die Realität des ökonomischen Ausschlusses auf „strukturelle Ursachen“ zurückführt, für die sich selbstverständlich niemand verantwortlich fühlen muss.[6] Kein Wort fällt über das neue Arbeitsparadigma heute; und auch wenn einige Politiken der lokalen Gestaltung (insbesondere in Bildungsangelegenheiten), Formen der Selbstbildung, der Solidarität, der sozialen Kooperation, der Zirkulation und des geteilten Umgangs mit Wissen – die in der Banlieue ebenso entwickelt werden wie andernorts – in diese andere Realität einzutreten scheinen, die jene der Produktion immaterieller Güter ist, so bleibt doch die gesamte Verwaltung des periurbanen Raumes so organisiert, dass das Aufkommen dieser neuen sozialen Formen verhindert wird. Eine detaillierte Besprechung der verschiedenen Filter, die von der Macht eingesetzt werden, um diesen möglichen Eintritt in den Postfordismus zu blockieren, würde hier zu lange dauern: ob es sich dabei um die Kartographie des Transports und der Bewegungsbahnen handelt (die den Raum der Metropole ausgehend von einem System sozialer „Schleusen“, Dämme, Sackgassen und Umleitungen fortwährend neu entwerfen), um die administrativen Hürden, um das völlige Fehlen von Orten der Vergemeinschaftung, der Kooperation und der subjektiven Produktion (zumindest wenn man – wozu die Definition des Versammlungsdelikts verpflichtet – die Banken, Korridore, Keller und Stiegen nicht als angeeignete Räume betrachtet), um den systematischen Abbau von Orten der Bildung und Ausbildung (der an sich schon einen eigenen Artikel wert wäre: man schreitet über Implosionen voran, ein wenig wie bei jenen Gebäuden, die man zur Gänze aushöhlt, um nur ihre Fassade intakt zu lassen, mit dem Ergebnis, dass sie einem hohlen Zahn der schönsten Sorte ähneln …) oder schließlich, allgemeiner noch, um die Kartographie der Dauerhypothek, mit der die Existenz der die Banlieue bewohnenden Frauen und Männer belastet wird – all das wird darangesetzt, um einer produktiven und reichhaltigen Realität den Anschein eines Ortes der Un-produktion und der Entropie zu geben.

Zwei Anmerkungen zu diesem Punkt

Bei einem kürzlich gehaltenen Vortrag formulierte Giorgio Agamben die Hypothese, dass sich die Metropole in den Raum verwandelt habe, in dem die beiden großen historischen Paradigmen der Menschenführung, die Foucault beschrieben hat, nunmehr gleichzeitig zur Anwendung kommen: das der Lepra und jenes der Pest.[7] Zur Lenkung der Leprakranken nämlich, so Foucault, sperrte man diese in geschlossenen Orten außerhalb der Stadtmauern ein und dämmte also ihre Existenz auf das Innere eines abgesonderten Raumes ein, ohne dass eine Kommunikation mit einem „Innerhalb“ der sie verstoßenden Stadt möglich gewesen wäre. Im Fall der Pest war dies nicht möglich, da die epidemische Entwicklung zu einer Ausbreitung in der Stadt selbst führte und damit jeden Versuch der Einschließung oder Eingrenzung völlig vergeblich werden ließ. Der Eingriff nahm folglich eine andere Form an, die sich im Inneren der Stadt selbst abspielte, nämlich die der Rasterung und der Zählung (Haus um Haus, Viertel um Viertel: wie viele Todesfälle, wie viele Genesungen, welche Ansteckungsrate etc.); das heißt, der Eingriff vollzog sich in Wirklichkeit über eine Form der Verinnerlichung der Kontrolle inmitten des städtischen Raums selbst – und in den Köpfen der dort lebenden Individuen.

In Anlehnung an diese beiden historischen Analysen legt Agamben nahe, dass die Machtstrategien gegenüber der Banlieue heute zugleich als Dispositive der Einschließung/Auslagerung und der Kontrolle/Verinnerlichung beschrieben werden können, das heißt gleichzeitig als Verbannung und als Rasterung. Eine verführerische Idee, die aber, wie uns scheint, in zumindest zwei Aspekten problematisch ist. Erstens siedelt Foucault die von ihm beschriebenen Paradigmen ausdrücklich im Rahmen einer Analyse der Moderne an – und es bleibt ungewiss, ob moderne Modellbildungen heute noch stichhaltig zur Anwendung kommen können. Zweitens entlehnt die Foucault’sche Beschreibung sowohl im Fall der großen Einschließung als auch in jenem der inneren „Rasterung“ ihre Beispiele der Verwaltung von Krankheiten (Lepra und Pest). Genau deshalb aber, weil wir uns in einem Zusammenhang des Aufkommens von Biomächten bewegen und die Medikalisierung der sozialen Kontrolle eines ihrer wesentlichen Merkmale ist, wird diese Beschreibung beinahe unverzüglich durch eine Analyse demographischer und ökonomischer Natur gedoppelt, das heißt ausgehend von der Idee, dass die Verwaltung und Steuerung des Raumes – sowie der dort lebenden Menschen – notwendigerweise auf die Organisationsanforderungen der seriellen Produktion antworten muss. Wir werden uns hier nicht damit aufhalten: Es sei uns jedoch erlaubt, beispielsweise daran zu erinnern, wie die Rasterung in Überwachen und Strafen als Maßnahme der Kontrolle des Raumes beschrieben wird, und zwar von einer tatsächlich die Gesundheit betreffenden Argumentation ausgehend (die der Struktur des Hafenspitals gewidmeten Stellen sind vielen sicherlich in guter Erinnerung)[8], und zugleich als Prozess der Einrichtung einer „Zuweisung von Funktionsstellen“, was in Wirklichkeit darauf hinausläuft, die Prinzipien der Fließbandarbeit im gesamten städtischen Raum zum Einsatz zu bringen (atomistische Separierung der Individuen an den jeweiligen Plätzen und gleichwohl Annullierung ihres Wertes außerhalb der Totalität des Fließbands; äußerste Individualisierung der Plätze und gleichwohl völlige Freiheit, jedes Individuum ungeachtet des ihm zugewiesenen Platzes zu ersetzen oder auszutauschen; vollständige Gleichheit der Plätze – zur Gewährleistung der Austauschbarkeit bzw. Ersetzbarkeit – und gleichwohl Segmentierung und Hierarchisierung des kollektiven Raums in Subräume etc.). „Die Arbeitskraft wird übersichtlich auf die aneinandergereihten Einzelkörper aufgeteilt und damit in individuellen Einheiten analysierbar. Gleichzeitig mit der Teilung des Produktionsprozesses stößt man bei der Geburt der Großindustrie auf die individualisierende Zerlegung der Arbeitskraft; beides wurde durch die Gliederungen des Disziplinarraumes ermöglicht. [...] Indem sie die ‚Zellen‘, die ‚Plätze‘ und die ‚Ränge‘ organisieren, fabrizieren die Disziplinen komplexe Räume aus Architektur, Funktionen und Hierarchien. Diese Räume leisten die Festsetzung und sie erlauben den Wechsel; sie schneiden individuelle Segmente ab und installieren Organisationsverbindungen; sie markieren Plätze und zeigen Werte an; sie garantieren den Gehorsam der Individuen, aber auch eine bessere Ökonomie der Zeit und der Gesten“[9], schreibt Foucault. Der doppelte Prozess der Individualisierung (Segmentierung, Verteilung, Hierarchisierung) sowie der Vermassung (Entsingularisierung der Menschen, Produktion von sowohl entsubjektivierten wie atomisierten „Individuen“, vollständige Austauschbarkeit der „individuell“ genannten Elemente, Einbeziehung dieser in das neu zusammengesetzte Ganze der Arbeitskraft ...), der durch die Rasterung durchgesetzt wird, soll also eine uneingeschränkte Maximierung der Produktion ermöglichen – in der Fabrik, aber noch allgemeiner in der gesamten Gesellschaft (über das Fließband hinaus: in den Schulklassen, den Zellen der Klöster und Gefängnisse, den Spitalzimmern, den Büros der Verwaltungsdienste, der Organisation der Armee).[10]

Dieses Modell der Disziplinarisierung des Lebendigen als Möglichkeitsbedingung der Produktion – das bei Foucault der ersten Etappe der Einrichtung eines biopolitischen Paradigmas entspricht – funktioniert jedoch nur im Rahmen der seriellen Produktion von materiellen Gütern, das heißt in einer ökonomischen Realität, die gänzlich auf der Ausbeutung einer unqualifizierten Arbeitskraft aufbaut und innerhalb einer Struktur begründet wurde, die im Wesentlichen die des Fließbands ist. Wozu aber dient die Rasterung, wenn es nicht länger um Fließbandproduktion geht? Wozu das Leben kontrollieren, um maximale Ertragsbedingungen der manuellen Arbeitskraft gewährleisten zu können, wenn es nicht mehr Letztere ist, die die kapitalistische Valorisierung ermöglicht? Agambens These ist faszinierend, aber sie bleibt modern und fordistisch zugleich: sie auf die gegenwärtige Situation anzuwenden ist also problematisch.

In den Banlieues geht man heute nicht mehr in die Fabrik arbeiten – denn es besteht immer weniger Bedarf an diesem Typ von Arbeitskräften. Unter dem Gesichtspunkt der Macht hat die Rasterung ihren Zweck verloren: Warum Kontrolle ausüben, wo es nichts mehr zu gewinnen gibt? Die Valorisierungsprozesse haben sich verändert, und auch die Produktion ist zu etwas anderem geworden. Die Banlieue wird daher offiziell zu einem Ort der Unproduktivität erklärt. Zu diesem Urteil einer Unproduktivität gelangt man einerseits ausgehend von der Feststellung, dass die Produktion fordistischen Typs in der Krise ist – so als läge das in der Verantwortung der Banlieue-BewohnerInnen, als hätte nicht ein sehr viel weiter reichender Paradigmenwechsel stattgefunden, als wäre nicht eine andere Produktionsweise zutage getreten, die tendenziell hegemonial ist. Und es bildet sich andererseits auf der Grundlage einer Strategie aus, die darin besteht, die Banlieue in dieser Krise einzuschließen, ohne ihr einen Zugang zu postfordistischer Arbeit zu gewähren. Die Banlieue wird also im Namen einer Sache verdammt, die nicht mehr existiert. Man verweigert ihr jene andere – soziale, kooperative, sprachliche und subjektive – Produktivität, an der sie nichtsdestotrotz so reich ist. Es wird behauptet, die Banlieue sei das Nirgendwo der Produktion oder sogar der Ort einer radikalen Unproduktivität. Nichts geht daher leichter von der Hand, als diese angebliche Unfruchtbarkeit in eine Metapher der sozialen Entropie umzuwandeln, die sehr oft moralisch konnotiert ist („die Vielen [multitude] und das Böse“, die „Wildheit“ der Jugendlichen, die blinde Gewalt etc.): Wer nicht mehr produzieren kann, hat nicht nur sozial zu existieren aufgehört, sondern frisst sich schlussendlich selbst auf. Die Animalisierung ist also unvermeidlich: Dressur (im „militärisch-humanitären“ Rahmen von Umerziehungslagern), Zähmung (des Abschaums [racaille]) und Säuberung (mit dem Kärcher) sind Variationen ein und desselben Themas. Denn das (falsche) Dekret der Unproduktivität, das sich aus überkommenen Kriterien herleitet, erlaubt es flugs, den mit ihr geschlagenen Subjekten jeglichen sozialen Wert abzusprechen (daher auch die Überlagerung des Diskurses über die Banlieues mit dem über die Integration und die BürgerInnenschaft: wer nicht produktiv ist, kann auch nicht im vollen Sinn Bürger sein) und gestattet somit die Zermalmung und Zertrümmerung des Lebens der Banlieue und seines außerordentlichen Reichtums, seine Reduktion auf das bloße Überleben. In Wirklichkeit versucht die Macht – kraft der Mystifizierung, die sie durch das Urteil der Unproduktivität herstellt –, den bios in zoé zu verwandeln, die soziale und politische Existenz in nacktes Leben zu transformieren.

Kommen wir nun zur zweiten Anmerkung, immer noch von der Arbeit Giorgio Agambens ausgehend. Auf mittlerweile weithin bekannten Seiten verwendete Agamben mehrmals das nazistische Vernichtungslager als biopolitisches Paradigma der Moderne.[11] Ohne uns hier neuerlich auf eine Diskussion über die Gültigkeit und Legitimität dieses Paradigmas einlassen zu wollen, die mit einiger Ausdauer geführt wurde – und oft immer noch geführt wird –, beschränken wir uns auf eine Feststellung. Die Tötungsindustrie des Nazismus war eine Schrecken erregende Parodie auf die Effizienz der Produktion und der Zeitrentabilität. Man denkt natürlich an den Einsatz von Arbeitsorganisationsplänen im Zuge der Planung und Durchführung der „Endlösung“; man muss sich außerdem in Erinnerung rufen, dass die ganze Arbeit der Propaganda und der Informationsmanipulation durch nazistische Kommunikationsdienste immer wieder Werkstätten und Montagebänder in Szene setzte (deren Bilder dann außerhalb der Lager und in der Presse verbreitet wurden). All das findet im Terror von „Arbeit macht frei“ seinen Zusammenhang. Wenn denn nicht eine todbringende Produktivität in sich selbst die Negation ihrer eigenen Kohärenz ist (weil eben kein Mehrwert abgeschöpft, sondern Wert abgezogen wird) und die buchstäbliche Produktion der Vernichtung eines Gutes (die industrielle Produktion des Todes) in Wirklichkeit die Auflösung der Idee der Produktion selbst bedeutet. Kommen wir nun auf die Banlieues zurück. Die Banlieues sind lebendig, und doch wird ihnen die Fähigkeit zur Produktion abgesprochen. Wo die Nazis die Möglichkeit einer Produktion des Todes affirmierten, erklärt man heute, dass das Leben der Banlieues unproduktiv ist. Produktion des Todes, Unfruchtbarkeit des Lebens: Die Symmetrie der Mystifizierungen ist Furcht erregend – und es wäre vielleicht eine gute Idee, ein wenig darüber nachzudenken.

Die Vergütung der Produktivität des Lebens: Bedingungsloses Grundeinkommen und neue BürgerInnenschaft

Zu Beginn dieses Textes haben wir daran erinnert, wie schwierig es für einige von uns war, die Banlieue-Revolte im Oktober/November 2005 unmittelbar als politisches – und multitudinäres – Geschehen einzuschätzen. Drei aufeinanderfolgende Momente haben dazu beigetragen, dass diese anfänglichen Zweifel zu Recht überwunden wurden. Zuerst, und zwar sehr rasch nach den Ereignissen, war da die Entdeckung, dass in den „Quartiers“ selbstorganisierte Mikrountersuchungen auftauchten: Der Anspruch auf Selbstdarstellung – in völliger Differenz zum Kanon der politischen Repräsentation –, die Notwendigkeit der Wiederaneignung eines Raumes (der „Banlieue“), der zur Sahnetorte des soziologisch-politischen Expertendiskurses geworden war, sowie zugleich einer Subjektivität, die unter den ständigen Versuchen objektiver Reduktion begraben lag, der Wille, die eigene Existenz als bios und nicht als zoé geltend zu machen (auch dort, wo sich der bios von Problemen eingekreist sieht, die das bloße und einfache Überleben betreffen: Recht auf Gesundheit, Recht auf Wohnung, Recht auf Ernährung) – all das trug dazu bei, mannigfaltige Prozesse einer kollektiven Subjektivierung in Erscheinung treten zu lassen. Diese Mikroprozesse existierten in einigen Fällen sicherlich bereits vor den Ereignissen, aber sie blieben im Allgemeinen auf die Ränder beschränkt und gingen sehr oft nur jene an, die Kontakte zu den lokalen Vereinsstrukturen hatten (von denen es im Übrigen aufgrund budgetärer Restriktionen immer weniger gab); zudem fungierten diese Vereinsstrukturen, freiwillig oder nicht, mitunter auch nur als ein weiteres Kontrolldispositv mit menschlichem Antlitz, als Sicherheitsventil, das man bedachtsam am Deckel eines Schnellkochtopfes anbrachte, dessen Ränder zuvor luftdicht versiegelt worden waren – ihre Subjektivierungsfunktion konnte also auch einiges an Ratlosigkeit auslösen. Nach der Revolte kam der Anspruch, das Subjekt der eigenen Rede und Handlungen zu sein, wie eine Losung in Umlauf: Diese Wiederentdeckung des Subjektivierungsvermögens auf der Grundlage einer Dimension des Gemeinsamen, die sich – ob es den kommunitaristischen Lesarten gefällt oder nicht – im Kern mit dem betroffenen Territorium (die Banlieue) und den entsprechenden materiellen (politischen, sozialen, ökonomischen) Bedingungen verband, erlaubte es erstmals, zu verstehen, dass es sehr wohl um eine Multitude ging: Zum Vorschein gekommen war ein Gefüge von Singularitäten mit unzähligen Differenzen, die Erfindung eines provisorischen „Wir“ – „die aus der Banlieue“ –, das sich strategisch artikulierte und sich örtlich und zeitlich im Zusammenhang mit spezifischen Zielen positionierte, das durch einen kämpferischen Kontext hervorgebracht worden war und neu definiert werden konnte, wo es auf andere kämpferische Kontexte, Strategien und Situationen traf. Es gibt keine schlechte Multitude, es gibt nur schlechte Ballungen – falls der Begriff „schlecht“ hier überhaupt angebracht ist, was wir stark bezweifeln. Aber wenn das Kriterium, das die Multitude von der geballten Menge oder der Masse zu unterscheiden erlaubt, das ontologische Vermögen ist, das Erstere im Augenblick der Hervorbringung von etwas Gemeinsamen impliziert, so ist offensichtlich, dass die Revolte der Banlieues das Auftauchen einer Multitude möglich gemacht hat.

Wir beharren auf der „provisorischen“ Dimension der gemeinsamen Identität der Multitude (eine sehr wenig identitäre Identität, zumal ihre Entfaltung von der Artikulation von Differenzen als Differenzen ausging: das einzig Gemeinsame war die Subjektivierung, der Konflikt). Der zweite und der dritte Übergang ließen ihre strategischen Neuverfugungen präzise sichtbar werden: zuerst im Zuge der Demonstrationen gegen den CPE (Contrat première embauche)[12] von Ende Februar bis Ende April; ein zweites Mal anlässlich der medialen Berichterstattung über die Probleme der Sans-Papiers (von den Fällen von Kindern ohne Papiere, die in der nationalen Presse seit Ostern ausführlich behandelt wurden, bis hin zur Episode von Cachan[13] von Mitte August bis Ende September). Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Banlieues sind in großer Mehrzahl französische StaatsbürgerInnen mit entsprechenden Papieren; und sie werden nur unter beträchtlichen Schwierigkeiten Zugang zu universitären Studiengängen erhalten, über die sie wirkliche Qualifikationen erwerben können (das heißt zu Studien, die nicht nur lange dauern, sondern ihnen Zugang zu Bildung und Wertschätzung ermöglichen). Nichtsdestotrotz zeigten die Jugendlichen der Banlieue (und sehr häufig unmittelbare AkteurInnen der Revolte) in den Demonstrationszügen der Pariser Studierenden massive Präsenz: Und wenn die Medien versuchten, diese Präsenz auf 5000 „Gewalttätige“ zu reduzieren, die an den Rändern und im Gefolge der Demonstrationen – tatsächlich – knallhart Zwietracht säten, dann eben auch deshalb, weil es darum ging, die zehntausenden Anderen vergessen zu machen, die selbstorganisierte Teile des Demonstrationszuges bildeten und die wochenlang ihre Schulen blockiert hatten, um zu diskutieren, Versammlungen zu organisieren, zu reflektieren, zu lesen, sich auszutauschen, zu handeln, zu kämpfen und Entscheidungen zu treffen.

Dieser Politisierungsprozess war in der Banlieue nur in sehr geringem Ausmaß durch gewerkschaftliche Organisationen strukturiert: Die Rolle der Fédération Indépendante et Démocratique Lycéenne [Unabhängige und Demokratische Gymnasialföderation] beschränkte sich, was die Gymnasien angeht, im Wesentlichen auf eine Art „logistische“ Unterstützung. Wie erklärt sich also jenes Zusammenfließen genau an dem Punkt, an dem die politischen Machtinstanzen verzweifelt versuchten, neuerlich Streitigkeiten zu schüren (Banlieusards gegen PariserInnen, Arme gegen Reiche, Schwarze gegen Weiße, Wilde gegen Studierende, Indigene gegen die Republik, blinde Gewalt gegen das universitäre Wissen etc.)? Das Gemeinsame dieser Multitude war ausdrücklich – so war es aus dem Mund der AkteurInnen selbst zu vernehmen – die Prekarität. Eine nicht gewählte, sondern erlittene Prekarität, die sowohl die materiellen Existenzbedingungen (die Prekarisierung des Lebens ist de facto das, was den bios in zoé, das Handlungsvermögen in einen Überlebensreflex verwandelt) als auch die Reproduktionsbedingungen betrifft; besser gesagt, in jener sonderbaren Bewegung im Frühling 2006 gab es die außerordentlich klare Überzeugung, dass es in Wirklichkeit um dieselbe Sache ging – denn es ist immer das Leben, das produziert, und eben dass das Leben voll und ganz in Arbeit versetzt wird, macht die Produktion von Wert heute möglich. Doch wenn das Leben produktiv ist, dann war es genau diese – subjektive, soziale und politische – Produktivität, die es zu verteidigen, zu schützen, zu bekräftigen und zu vergüten galt. Die Prekarität des Lebens und die Prekarität der Arbeit ist ein und dasselbe  – einmal abgesehen davon, dass sich, wenn die (entlohnte) Arbeit eine Produktionsform ist, die (soziale) Produktion darauf nicht reduziert, und dass es heute eben Letztere ist, die im Zentrum des Konflikts steht.

Die jüngsten Kämpfe im Umfeld der Sans-Papiers haben diese neue Dimension ihrerseits verstärkt deutlich gemacht. Das Problem der Sans-Papiers existiert nicht erst seit gestern: Die Geschichte der Kämpfe, die sie geführt haben, der Kollektive, die sie begründeten, und der Kraft, mit der sie Dispositive des Widerstands einzusetzen wussten – sowie auch der immer größeren Gewalt, mit der die Macht auf Letztere geantwortet hat – ist beeindruckend. Relativ neu ist hingegen, zum einen, die beträchtliche, in alle Gesellschaftsschichten reichende Ausweitung von Verhaltensweisen des sozialen Ungehorsams im Zusammenhang mit dem Phänomen von Minderjährigen ohne Papiere (so wurden Kinder von ProfessorInnen, SchuldirektorInnen, SozialarbeiterInnen, Eltern von SchülerInnen, NachbarInnen aus dem Viertel etc. versteckt), das heißt eine kapillare Streuung und „Banalisierung“ (im positiven Wortsinn) von Kampfformen. Neu ist zum anderen auch, seitens der Jugendlichen aus der Banlieue – und zwar ob sie nun Papiere haben oder nicht –, die politische Wiedereinspeisung des Kooperations- und Konfliktwissens, das sie während der Revolte und im Zuge der Demonstrationen gegen den CPE angesammelt haben, in den Problemzusammenhang von Abschiebungen und willkürlichen Rückführungen an die Grenze. Auch hier wurde das multitudinäre „Gemeinsame“ direkt durch den Einsatz des Konflikts erzeugt: die Anerkennung des Umstands, dass die BürgerInnenschaft nicht länger an Formen gebunden werden kann, die, mögen sie auch die der Moderne gewesen sein (Grenzen, Nationalstaat), nicht mehr die unseren sind; die Notwendigkeit, dem Leben, wo es sich auch vollzieht und woher es auch kommen mag, die Anerkennung seines Vermögens zuzusichern sowie die materiellen und immateriellen Bedingungen, damit es dieses Vermögen zum Ausdruck bringen kann. So wie es über ein universelles und bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken gilt, und zwar entkoppelt vom Rahmen der Lohnarbeit, ebenso muss also auch an eine BürgerInnenschaft gedacht werden, die von der Territorialisierung der Souveränität und der alleinigen Geltung der Rechtsform entkoppelt wird (das heißt von den Rechtsnormen als Ausdruck der modernen Souveränität). Bedingungsloses Grundeinkommen und deterritorialisierte BürgerInnenschaft: zwei Kraftlinien, von denen aus eine mögliche Biopolitik vorstellbar wird – wenn denn dieses Mögliche nicht bereits existiert, vor unseren Augen, in der mächtigen Intelligenz eines Lebens, dem zurückerstattet wurde, was es sein muss: politisches, produktives, singuläres und gemeinsames Leben. Das Leben ist niemals nackt – aber die Macht kann es werden.

Judith Revel lebt und arbeitet als Philosophin und Übersetzerin in Paris; bis vor kurzem war sie Redaktionsmitglied der Zeitschrift Multitudes, Paris, in der dieser Artikel erstmals abgedruckt wurde.

email: judith.revel@univ-paris1.fr

 


[1] Vgl. zu diesem Punkt etwa die Arbeit von Hugues Lagrange und Marco Oberti (Hg.), Emeutes urbaines et protestations. Une singularité française [Städtische Aufstände und Proteste. Eine französische Besonderheit], Paris: Presses de la Fondation des sciences politiques (Reihe „Nouveaux débats“) 2006. Die in diesem Band vorgestellte kollektive Untersuchung, die oft außerordentlich feinsinnige soziologische und politische Analysen zur „Neuartigkeit“ der Ereignisse von 2005 anbietet, übernimmt jedoch beträchtliche Versatzstücke einer „identitären“ Lesart, und zwar insbesondere im Kapitel 3 „Communauté d’expérience et diversité des trajectoires“ [Erfahrungsgemeinschaft und Diversität der Werdegänge]. Diese Lesart von „Diversität“ – die im Wesentlichen auf der Gegenüberstellung von FranzösInnen mit maghrebinischem Hintergrund und FranzösInnen/MigrantInnen mit subsaharischem Hintergrund beruht – beschränkt sich nicht darauf, die realen Differenzen auszumachen, die sich etwa in Bezug auf die Einreisebedingungen in Frankreich oder Faktoren wie Regularisierung, Zugang zu Arbeit, Wohnung und Einschulung feststellen lassen – eine Differenz, die ihrerseits analysiert werden kann, und zwar je nach dem Zeitraum, in dem die Einreise nach Frankreich im Allgemeinen erfolgte, das heißt im Rahmen eines ökonomischen, sozialen und politischen Kontexts, der sich in vierzig Jahren radikal verändert hat. Die verschiedenen Werdegänge werden zudem an die Diversität der Familienmodelle, der politischen Schemata sowie des jeweiligen Verhältnisses zur aus den Herkunftsländern nach Frankreich „importierten“ Religion rückgebunden: eine ethnisch-kulturelle Unterscheidung, die einer historisch-sozialen Differenzierung vorgelagert wird. Wenn dies auch nicht immer falsch ist, so kann man doch skeptisch bleiben angesichts der Art und Weise, wie dieser Überlegungstyp umstandslos der Hypothese kommunitaristischer Spannungen einen Auftritt verschafft, die die aus der Zuwanderung hervorgegangene Bevölkerung in ihrem Inneren durchziehen, und ebenso kann man gegenüber dem amerikanischen Modell eine gewisse Skepsis bewahren – das heißt gegenüber einem Modell von Bruchlinien, welche die verschiedenen Integrationseigenschaften der Gemeinschaften kennzeichnen und diese gegeneinander aufbringen, wodurch sie sich dann zur Radikalisierung ihrer eigenen Zugehörigkeit gezwungen sehen. Wir ziehen es für unseren Teil vor, den Analysen von S. Beaud und M. Pialous („La ‚racaille‘ et les ‚vrai jeunes‘. Critique d’une vision binaire de la société“ [„Der ‚Abschaum‘ und die ‚wahre Jugend‘. Kritik eines binären Gesellschaftsbilds“]; online abrufbar unter: www.liens-socio.org) zu folgen und zu postulieren, dass die einzige wirklich bedeutsame Gemeinschaft und Zugehörigkeit diejenige ist, die durch das Territorium (die Banlieue) sowie durch materielle Existenzbedingungen bestimmt ist: Bevor man schwarz oder weiß ist, kommt man „aus diesem oder jenem Quartier“. Andernfalls muss man das Risiko in Kauf nehmen, die binäre – und selbstverständlich soziologisch falsche – Lesart von „Abschaum“  und „wahrer Jugend“ in den Banlieues selbst zu reproduzieren, und zwar über eine Kommunitarisierung, die ein doppeltes Dispositiv der Segmentierung und der Hierarchisierung zur Geltung bringt (MaghrebinerInnen/Schwarze, Schwarze/Weiße, sehr jung/jung etc.). Dieser Segmentierungstyp war de facto die tragende Achse der Analysestrategien des Innenministeriums. „Teile und herrsche!“: das aktuelle Schicksal einer sehr alten Lebensweisheit?

[2] Guido Caldiron, Banlieue. Vita e rivolta nelle periferie delle metropoli [Banlieue. Leben und Revolte in den Peripherien der Metropolen], Rom: Manifestolibri 2005.

[3] Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002; wir beziehen uns insbesondere auf das Kapitel 6: „Der Bann und der Wolf“, S. 114–121.

[4] Ebd., S. 119.

[5] Als Trente Glorieuses („die dreißig Glorreichen“) werden in Frankreich die von starkem Wirtschaftswachstum geprägten drei Jahrzehnte zwischen Mitte der 1940er und Mitte der 1970er Jahre bezeichnet.

[6] Die Geschwindigkeit, mit der sich die Situation in den letzten fünfzehn Jahren verschlechtert hat, lässt sich beispielsweise an einer Gegenüberstellung der Anfang der 1990er Jahre unter der Leitung von Pierre Bourdieu durchgeführten kollektiven Untersuchung Das Elend der Welt (Konstanz: UVK 1997) und der von Stéphane Beaud, Josep Confavreux und Jade Lindgaard geleiteten Untersuchung La France invisible (Paris: La Découverte 2006) ermessen. Das jugendliche Alter der HandlungsträgerInnen der Banlieue-Revolten von 2005 muss im Kontext dieser Entwicklung gelesen werden: Im Jahr 2005 zwischen zwölf und achtzehn Jahren zu sein heißt, zwischen 1987 und 1993 zur Welt gekommen zu sein, also zur Zeit der Veröffentlichung von Das Elend der Welt, und im Rhythmus jener schwindelerregenden Beschleunigung von sozialen Bruchlinien sowie einer systematischen Prekarisierung des Lebens groß geworden zu sein. 

[7] Giorgio Agamben, Vortrag für die Zusammenkunft „Métropole/Multitudes: séminaire en trois actes et (peut-être) une conclusion“ [Metropole/Multituden: Seminar in drei Akten und (vielleicht) einer Konklusion“, Uninomade, 11. September 2006 (zweiter Akt), Architekturfakultät der Universität Venedig (IUAV).

[8] Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 184–185.

[9] Ebd., S. 186–190.

[10] Es wäre übrigens möglich (wir haben diesen Versuch in den letzten Jahren bereits in mehreren Anläufen unternommen), diese Lesart des – im Wesentlichen an den industriellen Produktionsaufschwung und den Bedarf an gefügiger Arbeitskraft gekoppelten – zweifachen Dispositivs der Individualisierung/Vermassung der Menschen zu doppeln, und zwar über eine Analyse der Art und Weise, wie parallel dazu die Konzepte des „Bürgers“ [citoyen] und des „Gemeinwillen“ in der modernen politischen Theorie entworfen wurden. Bürger ist derjenige, der es akzeptiert, von seiner Singularität abzusehen, da er allen anderen gegenüber völlig gleich sein muss (wie Roussau sagt, er muss auf die Vorrechte der „Person“ verzichten, um in den Vertrag einzutreten), derjenige, der die elementare und völlig austauschbare Einheit – das Atom – des sozialen Lebens repräsentiert, und doch zugleich derjenige, der nichts ist außerhalb dessen, was sich eben gerade nicht auf die einfache Addition von verschiedenen „Bürger-Atomen“ reduzieren lässt: des Gemeinwillen. Die Entsingularisierung und die Neuzusammenfügung als Masse entsprechen daher der gleichen Ordnung, die Foucault in Bezug auf die Disziplinen beschreibt (und kurz danach, die Individualisierung durch die Vermassung doppelnd, in Bezug auf die biopolitische Lenkung der „Bevölkerungen“ beschreiben wird). Vgl. zu diesem Punkt Judith Revel, Fare moltitudine, Cosenza: Rubbettino / Università della Calabria 1984; zur Foucault’schen Lektüre von Rousseau sowie zur Frage, wie sich diese Lektüre mit der Analyse der Disziplinen verknüpft, vgl. Judith Revel, Michel Foucault. Expériences de la pensée [Michel Foucault. Denkerfahrungen], Paris: Bordas 2005, S. 148–167.

[11] Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, op. cit. (insbesondere den dritten Abschnitt), und ders., Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo Sacer III), übers. v. Stefan Monhardt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. 

[12] Beim CPE handelt es sich um einen Erstanstellungsvertrag für Personen unter 26 Jahren; er war Teil eines von der Regierung Villepin Anfang 2006 vorgestellten Gesetzesentwurfs zur Neuregelung des französischen Arbeitsrechts, der im Februar 2006 zunächst ratifiziert, im April 2006 jedoch nach anhaltenden Protesten teils zurückgezogen wurde. (Anm. d. Übers.)

[13] Im Jahr 2006 besetzten einige hundert Sans-Papiers etwa zwei Monate lang ein Gymnasium in Cachan, einer Gemeinde im Ballungsraum von Paris; die Besetzung wurde von der Polizei durch Räumung beendet und war in den französischen Medien Gegenstand ausführlicher Berichterstattung. (Anm. d. Übers.)

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