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Willi Baer / Karl-Heinz Dellwo: 25. April 1974 – Die Nelkenrevolution. Das Ende der Diktatur in Portugal.

Hg. von. Bibliothek des Widerstands Bd. 15, Laika-Verlag, Berlin 2012, 344 Seiten, 24,90 EURO

Buchbesprechung von Antonia Laudon

Die Nelkenrevolution: 18 Monate Selbstermächtigung

In der Bibliothek des Widerstands ist nun ein Sammelband über die Nelkenrevolution in Portugal (1974-1975) erschienen. Die unterschiedlichen Beiträge leisten einen Blick auf die unterschiedlichen AkteurInnen der portugiesischen Revolution. Geschichte wird als gestaltbarer Prozess begriffen, wobei der soziale Konflikt aufgrund unterschiedlicher Eigentumsverhältnisse ein notwendiger und unvermeidbarer ist.

Portugal befand sich Anfang der 70er Jahre nach fast 50 Jahren Diktatur in einer verheerenden wirtschaftlichen Krise. Aufgrund der hohen militärischen Ausgaben (40% der Staatskosten), die in die Kolonialländer (Mosambique, Angola, Guinea Bissau) flossen, war das Land wirtschaftlich unterentwickelt und ein großer Teil der Bevölkerung litt unter Armut.

Die Bewegung der Streitkräfte (MFA)[1]formierte sich gegen das Regime, um den aussichtslosen Krieg gegen die afrikanischen Befreiungsbewegungen endlich zu beenden und zog am 25. April 1974 mit Einheiten zu den neuralgischen Orten der politischen Machtkonzentration (Rundfunk, Flugplatz, Hauptquartier der Nationalgarde) in Lissabon. Obgleich dem Volk Ausgangssperre erteilt worden war, versammelten sich noch am selben Tag Hunderttausende auf den Straßen und feierten den Sturz des Regimes. Aus einem Miltärputsch wurde eine Revolution. Es folgten 18 Monate kollektiver Selbstermächtigung in den verschiedensten Regionen Portugals (Fabriken wurden besetzt, Landreformen im Süden wurde durchgesetzt, politsche Gefangene wurden amnestiert, die wichtigsten Exilpolitiker, Cunhal und Soares[2] kehrten zurück, Häuser wurden besetzt und in soziale Zentren umgewandelt usw.)

Der brasilianische Revolutionstheoretiker Valério Arcary begreift Portugal als letzte bedeutsame westeuropäische soziale Revolution und unterteilt die Beweggründe des revolutionären Eingreifens in zeitliche Abschnitte bis zur Konterrevolution und dem Scheitern der Revolution von unten.

Der Beitrag von Dalila Cabrita Mateus beschreibt die Hintergründe des aussichtslosen brutalen Kolonialkriegs Portugals und die Verwicklung der PIDE (Geheimpolizei) in den Kolonialkrieg. Der Kolonialkrieg war die Initialzündung für den Aufstand der Streitkräfte. Für die Befreiungsbewegungen der Kolonien war der 25. April 1974 der Beginn einer letzten Etappe zum Sieg. Es folgt ein Artikel von Luis Leira, der sich zeitlich rund um den 25. April bewegt und das Verhältnis der Streikräfte zu den Massen beschreibt. Es wird selbstverständlich auch geklärt, warum die Revolution ihren Namen trägt. Denn die Episode mit den Streitkräften und den Floristinnen ist ein bewegender Moment Revolutionsgeschichte. Diese berührende, pathetische Szenerie wird auch in anderen Beiträgen des Sammelbandes hervorgehoben, weil die Machtergreifung von den Streitkräften so unblutig gestaltet werden konnte[3].

Es folgt ein längerer Artikel über die für die LandarbeiterInnen notwendigen Agrarreformen und ihr Voranschreiten, welche der Autor Constantino Picarra in 3 historische Phasen unterteilt. Es sind die TagelöhnerInnen und angestellten LandarbeiterInnen im Südosten (in der Region Alentejo), die, nachdem die jeweiligen provisorischen Regierungen wenig für sie unternehmen, Landbesetzungen von unten organisieren. In der 2. Phase werden diese dann durch gesetzliche Maßnahmen legitimiert und die von Arbeiterkollektiven geführten Höfe erhalten finanzielle staatliche Kredite. Die 3. Phase bezieht sich auf das letzte Quartal 1975. Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass die LandarbeiterInnen, die bereits zuvor eigene Kooperativen gebildet haben, stärkere Vorbehalte gegen das von den Gewerkschaften vorgeschlagene Kollektivierungsmodell entwickeln. Festzustellen ist, dass die LandarbeiterInnen den sehr großen genossenschaftlichen Hofproduktionsstrukturen wenig abgewinnen konnten, auch wenn dieses Modell von der PCP (Kommunistische Partei Portugal) favorisiert wird. Die LandbesetzerInnen haben dennoch eine tiefgreifende Veränderung der Agrarbesitzverhältnisse im Süden Portugals erwirken können.

Interessant ist der Beitrag von Ricardo Noronha, der sich mit dem Finanzkapital zunächst Ende der 60er Jahre beschäftigt. Er stellt fest, dass 7 Monopolisten, genannt die Glorreichen Sieben, 75% der größten portugiesischen Unternehmen (ca. 400 Unternehmen wurden einbezogen) in den verschiedenen Wirtschaftssektoren besaßen und ihnen 80% der Banken und 55% der Versicherungen gehörten. Die Mitglieder der Gewerkschaft der Bankangestellten leisteten hier Wesentliches, um aufzudecken, wie das Finanzkapital funktionierte. Ohne den Großteil der Beschäftigten aus diesem Sektor hätte sich das Verstaatlichungsprogramm der Banken nicht durchsetzen können. Die gesetzliche und praktische Umsetzung des Programmes erfolgte im März 1975 und ist eines der eindrucksvollsten Ereignisse der Revolution, da die Glorreichen Sieben, soweit sie nicht schon Kapital ins Ausland transferiert hatten, enteignet wurden.

Raquel Varela beschäftigt sich mit der Fragestellung, ob die PCP eine Machtergreifung in der Revolution geplant habe. Ein Vorteil der PCP liegt ihrer Meinung nach darin, dass sie nachdem sie sich jahrzehntelang bedingt durch die Diktatur in der Illegalität formiert hatte, die Straße als wesentlichen Ort der Informationsweitergabe für sich beanspruchte, sie versuchte basisorientiert zu agitieren. Neuere sozialempirische Ergebnisse zur portugiesischen Revolution ergeben aber zweifelsohne, dass die PCP trotz ihrer Basisarbeit auf den Straßen nicht ausreichend für die Massen glaubwürdig war, was ja auch in den miserablen Wahlergebnissen bekräftigt wurde. Sie orientierte sich programmatisch zu wenig an den Bedürfnissen der Massen, und leistete stattdessen als Regierungspartei Oppositionsarbeit gegenüber der PS (Sozialistischen Partei) und paralysierte in gewisser Hinsicht damit ihren eigenen Veränderungswillen. Sie hätte systemisch den Klassencharakter einer parlamentarischen Demokratie aufdecken und weiter bekämpfen müssen. Ihre beanspruchte Avantgarderolle konnte sie gegenüber der Basis jedenfalls so nicht verteidigen.

Der zweite Beitrag von Varela verteidigt gegenüber konservativer Geschichtsschreibung den Revolutionsbegriff für die Ereignisse von April 1974 bis fast Ende 1975 und lehnt den Transitionsbegriff vehement ab. Die Historikerin kritisiert, dass die sozialen Kämpfe der ArbeiterInnen (Land-, Fabriksbesetzungen, Streiks) nicht detailliert von der Forschung untersucht werden, denn erst die Aufklärung über die Praxis der sozialen Subjekte der Revolution zeigt deren wesentliche Rolle im revolutionären Prozess.

Ein Aufsatz von Jorge Fontes über linke Sektiererorganisationen und deren Zersplitterungstendenzen zeigt wiederum, dass die PCP ohne ernsthaftes politisches Korrektiv versagen musste. Die kleineren linken Organisationen waren sich zu uneinig, um eine Machtalternative gegenüber der parlamentarischen Demokratie zu entwickeln. Es darf nicht unterschätzt werden, dass die ArbeiterInnenbewegung der späten 70er Jahre sich international vom sowjetischen Modell bereits abgewendet hatte.

In den Beiträgen des Sammelbandes wird auf die Rolle der Streitkräfte Bezug genommen und ein erfrischendes Interview mit Oberst Otelo Saraiva de Cavalho zeigt dessen ungewöhnliches gesellschaftliches Interesse an einer direkten Demokratie, aber auch die gelebten unerträglichen Loyalitätskonflikte mit den provisorischen Regierungen.

Insgesamt ist der Sammelband mit den zeitgenössischen Fotografien aus der Revolutionszeit erfreulich, weil er viele Argumente sammelt, um daran zu erinnern, dass es eine bewegte soziale Revolution in Portugal war, die die verschiedensten Kräfte in der Bevölkerung prägten. Es sind 2 Dokumentarfilme beigelegt, die argumentativ untermauern, wie breit der revolutionäre Kampf gesellschaftlich getragen wurde. Der Film „Viva Portugal!“ eröffnet ein Verständnis für das Zusammenspiel der beteiligten Gruppen und ihrer Aktionismen. Der fehlende Beitrag über die Geschichte von unten, der den Sammelband abgerundet hätte, wurde, so gesehen, durch das anregende Filmmaterial glücklicherweise kompensiert.


[1]           Die Offiziere, die sich in der MFA organisiert hatten, um den Kolonialkrieg zu beenden, kamen aus proletarisierten Familien, denn niemand aus den höheren Schichten war noch bereit, eine Laufbahn als Militär in Übersee einzuschlagen. Der blutige Kolonialkrieg war diesen zu gefährlich.

[2]              Cunhal war Führer der kommunistischen Partei und Soares Führer der Sozialistischen Partei, insbesondere letzterer hat mit zu verantworten, dass die Revolution in parlamentarische Kanäle verödete und die Revolutionsführung sich von den Aufträgen der Massenbasis entfernte.

[3]              Der Blumenmarkt war zu dieser Jahreszeit voll von roten Nelken, die dann von vielen Soldaten in ihre Gewehrläufe gesteckt wurden.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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