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Slavoj Žižek: Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen

Hamburg: Laika 2011, 192 Seiten, Euro 19,90 

Buchbesprechung von Konrad Lotter

Es ist eine Art „Symphonie des Grauens“, die Slavoj Žižek, das enfant terrible der Gegenwarts-Philosophie, in seinem Buch über Gewalt darbietet. Den thematisch bezogenen Überschriften zu den sechs „abseitigen Reflexionen“ über subjektive und objektive Gewalt, die Politik der Angst, Formen gewalttätiger Kommunikation, die Antinomien der toleranten Vernunft oder göttliche Gewalt sind Angaben wie Adagio ma non troppo, Allegro moderato, Presto etc. vorangestellt, die gewissermaßen das Tempo der Darbietung bestimmen. Žižek selbst nennt seine Abhandlung eine (musikalische) „Reise“ durch das Gebiet der Gewalt „von der Zurückweisung einer falschen Anti-Gewalt-Haltung bis zur Befürwortung emanzipatorischer Gewalt“ (S.179). Sie beginnt mit der Kritik an der Scheinheiligkeit derjenigen, die die „subjektive Gewalt“ einzelner Individuen bekämpfen und sich dabei jener „systemischen Gewalt“ bedienen, die doch oftmals die Phänomene der subjektiven Gewalt erst verursacht hat. Am Ende fragt sie nach den geeigneten Mitteln der emanzipatorischen oder „göttlichen“ Gewalt, die vom Volk ausgeht und auf die Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet ist.

Im Verlauf des Buches werden vor allem jene neuen Formen der Gewalt diskutiert, die – von den Terroranschlägen des 11. September über die (angeblichen) Gewalt-Exzesse in New Orleans nach der Sturmflut Katrina, die gewalttätigen Proteste einiger Islamisten gegen die Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung, die amerikanischen Folterungen in Abu Ghraib oder die sexuellen Übergriffe katholischen Priester auf ihre Schutzbefohlenen – während der letzten Jahre die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregt haben. Nicht für alle trifft wohl Žižeks an Lacan geschulte psychoanalytische Interpretation zu, die die Gewalt als „Angst vor dem Nächsten“ erklärt. Und auch die These, dass diese Formen der Gewalt letztlich „in der Gewalt verankert [sind], die der Sprache selbst innewohnt“ (S.179), scheint zu kurz gegriffen und eigentlich auch nicht recht nachvollziehbar zu sein.

Mit beißendem Spott behandelt Žižek die „liberalen Kommunisten“ vom Schlage Bill Gatesʼ oder George Sorosʼ, die sich, nachdem sie  ihr Milliarden-Vermögen doch, wie jeder andere Kapitalist auch, durch Ausbeutung von Lohnabhängigen und als „knallharte Geschäftsmänner“ gemacht haben, als großzügige Stifter und Wohltäter der Menschheit in Szene setzen. Mit ihrer Ideologie eines „reibungsfreien Kapitalismus“ und einer „postindustriellen Gesellschaft“ ohne Klassen und Gewalt sind sie, so Žižek, in Wirklichkeit der „schlimmste Feind“ eines jeden Kampfes um wirkliche Emanzipation. (S.23) Ebenso überraschend wie überzeugend ist seine Analyse der Gewalt-Explosionen in den Pariser Banlieus im Jahre 2005. Als deren Hauptmerkmal hebt Žižek hervor, dass sie „ohne Programm“ und ohne eigentliches Ziel vonstattengingen. Der Zorn der Aufständischen konzentrierte sich noch nicht einmal auf die Autos des (Klassen-)Feindes, sondern richtete sich wahllos gegen alles, was ihm in die Quere kam. Es handelte sich um einen Vandalismus als Demonstration für eine gescheiterte Integration, der doch dem Wunsch der (zumeist) zugewanderten Jugendlichen entsprang, „als vollwertige französische Bürger anerkannt“ (S.74) zu werden.

Wie in anderen Büchern würzt Žižek seine Darstellung durch Witze, die Nacherzählung von Filmen oder literarische Anspielungen. In Abwandlung von Brechts bekannter Sentenz „Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank“ formuliert er in Bezug auf die Ereignisse des 11. September ebenso wie auf die Kämpfe im Nahen Osten: „Was ist schon ein terroristischer Anschlag gegen die Staatsmacht, die einen Krieg gegen den Terror führt.“ (S.107) Eine Provokation, die wohl zum Denken anregen soll, ist nicht nur die Austauschbarkeit des Terror-Vorwurfs, sondern auch die Deutung der amerikanischen Folterungen im Irak. Hatten die traditionellen Diktaturen ihre Opfer im Verborgenen zu Tode gequält, so ging es den Folterknechten in Abu Ghraib in erster Linie darum, ihre Opfer moralisch zu erniedrigen und diese Erniedrigung durch Fotos oder Videos festzuhalten. Auf diese Weise würden die irakischen Gefangenen, wie Žižek schreibt, „in die amerikanische Kultur initiiert“ (S.154). Folter als Initiationsritus: Da schlägt die Provokation allerdings in Zynismus um.  

Am Ende seiner Abhandlung stellt Žižek die Frage, was aus seinen „abseitigen Reflexionen“ gelernt werden könne und beantwortet sie auf dreifache Weise. Erste Lektion: Die bloße Ablehnung der Gewalt (als „böse“ Gewalt) ist eine „ideologische Operation“ und eine „Mystifizierung“, die nur dazu dienst, die fundamentalen Formen der systemischen Gewalt, d.h. der Gewalt, auf der die kapitalistische Gesellschaft selbst beruht, zu verschleiern. Zweite Lektion: Es ist schwierig, „richtig“ (im Sinne der emanzipatorischen Gewalt) gewalttätig zu sein; nicht nur weil es „anstrengend“ ist, „böse“ zu sein, sondern auch weil damit die weitergehende Frage verbunden ist, gegen wen oder was sich die emanzipatorische Gewalt eigentlich richten soll. Eine dritte Lektion kündigt Žižek zwar an, macht dann aber keine genaueren Angaben dazu. Vielleicht ist ja der Schlusssatz des Buches als eine Antwort gedacht: „Manchmal ist nichts zu tun die äußerste Gewalt.“ (S.187) Dieser Satz kann auch als Kritik an denjenigen gelesen werden, die die bestehende „systemische Gewalt“ einfach hinnehmen und sich nicht gegen sie zur Wehr setzen.

In seinen Überlegungen, wogegen sich die emanzipatorische Gewalt richten könnte, macht Žižek sogleich zwei Einschränkungen. Zum einen soll sich diese Gewalt nicht gegen einzelne Individuen richten, die doch immer nur Funktionsträger oder Repräsentanten von korrupten Konzernen oder Institutionen und nicht diese selbst sind. Zum anderen soll sie sich auch nicht (wie dies z.B. in der chinesischen Kulturrevolution geschehen ist) gegen Baudenkmäler richten, die doch nur als „Zeugen“ einer verabscheuten Vergangenheit „bestraft“ würden. In diesem Kontext findet sich der zwielichtige Satz, den Žižek auch in dem Buch über Die bösen Geister des himmlischen Bereichs (ebenfalls im Jahr 2011 erschienen) wiederholt: Hitler sei „nicht radikal genug“ gewesen. (S.182) Falls damit gemeint ist, dem Nationalsozialismus sei es, obwohl er Millionen Menschen ermordet hat, nicht gelungen, den Kapitalismus zu besiegen, so ist dieser Satz gleich in mehrfacher Hinsicht unsinnig. Erstens lag es gar nicht in Hitlers Absicht, den Kapitalismus zu besiegen; er lehnte (in Anlehnung an Gottfried Feder) nur das „raffende“ Handels- und Finanzkapital zugunsten des „schaffenden“  Gewerbe- und Agrarkapitals ab. Zweitens würden die Juden damit (in Übereinstimmung mit Hitler) als Repräsentanten des Handels- und Finanzkapitals und ihre Ermordung als antikapitalistische Maßnahme hingestellt. Und drittens würde die Ausrottungspolitik Hitlers in die Nähe dessen gerückt, was Žižek als göttliche oder  emanzipative Gewalt befürwortet. Da wäre doch einiger Klärungsbedarf anzumelden!

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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