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Peter Birke, Max Henninger: Krisen Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte Online Berlin, Hamburg: Assoziation A 2012, 312 Seiten, 18.00 Euro Buchbesprechung von Robert Foltin Es ist auffällig, dass sich so wenige Bewegungen unmittelbar auf die 2007 einsetzende Krise beziehen, obwohl viele mit ihr indirekt in Beziehung stehen, zum Beispiel die politischen und sozialen Erhebungen des „Arabischen Frühlings“ oder die Forderungen der weltweiten Studierendenproteste. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Occupy-Bewegung. Sie stellt die ablaufende Krise in unmittelbaren Zusammenhang mit der ungleichen Verteilung des Reichtums, indem sie hierin ein die Krise verschärfenden Moment erblickt. Die leider nur mehr als Internet-Zeitschrift bestehende Sozial.Geschichte hat neben theoretischen und historischen Artikeln auch immer die aktuellen Bewegungen durch Beiträge und Kommentare begleitet. Insofern ist es nur folgerichtig, dass ein Teil dieser Artikel jetzt als Buch veröffentlicht wurde. Am Charakter der Artikel lässt sich die Stärke und Intensität der jeweiligen Bewegung, wie auch ihr „Erfolg“ ablesen, wobei Erfolg nur in Anführungszeichen stehen kann, denn welche Bewegung läßt sich schon als erfolgreich betrachten. Der Sammelband will ausdrücklich keine Ergebnisse vorlegen, was vermessen wäre, sondern Ansätze zur Diskussion stellen und hoffentlich auch dazu anregen, sich mehr mit den Ungleichzeitigkeiten der Bewegungen auseinander zu setzen, In der Einleitung von Peter Birke und Max Henninger „Krisen und Proteste: Eine Annäherung an ihre jüngste Geschichte“ wird ausdrücklich auf die Lücke zwischen „Krise“ und „Protesten“ hingewiesen. Es lässt sich offensichtlich teilweise nur eine Parallelität feststellen, wie etwa die Finanzkrise (oder Bankenkrise oder jetzt Staatsschuldenkrise) und dem Aufbegehren im „Arabischen Frühling“. Weiters wird dargestellt, dass zur Erklärung der aktuellen Situation ein Zurückgehen auf die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Entwicklung seit den 1970ern erforderlich ist: das Geschehen wird zuerst für Europa und anschließend für den globalen Süden nachgezeichnet. Diskutiert wird auch, welche Segmente der Bevölkerungen heutzutage sozialrevolutionäres Potential enthalten könnten. Die zentrale Funktion der „doppelt freien Lohnarbeiter_in“ bei Marx wird in Frage gestellt. Dass es mehr Fragen als Antworten gibt, verdeutlicht auch die Diskussion über Kontinuität und Bruch. Einerseits entstehen Bewegungen völlig unerwartet, andererseits lassen sich danach (fast) immer Kontext und Vorgeschichte in einen Begründungszusammenhang bringen. Trotzdem bleiben Fragen ungeklärt: Wieso löste der Selbstmord eines Gemüsehändlers in Sidi Bouzid eine solche Dynamik aus, aber nicht die Selbstmorde bei France Telecom in den letzten Jahren? Auch die entscheidende Frage, wie die weltweiten Bewegungen kommunizieren könnten, bleibt offen. Der Reigen der Beschreibungen beginnt mit „Die tunesische Revolte als Fanal“ von Helmut Dietrich, der die Geschichte der Aufstände in den letzten Tagen des Jahres 2010 im Landesinneren Tunesiens nachzeichnet. Die Geschichte wird von Beginn an detailliert und spannend geschildert, auch mit Ereignissen, die nicht so bekannt sind. Eindrücklich ist die Verbreiterung und Ausbreitung des Aufstandes zu erkennen, aber auch das Hinterherhinken der herrschenden Oligarchie und den Freund_innen des Ben-Ali-Regimes im Westen, besonders in Frankreich. Im deutschen Sprachraum konnten sich die deutschsprachigen Medien und Politiker_innen (aber auch sympathisierende Linke) von vornherein nur auf eine Beobachter_innenrolle beschränken. Das war und ist in Griechenland völlig anders, die deutsche Politik spielt dort eine maßgebliche Rolle, somit auch die deutschsprachige Öffentlichkeit. In „Griechenland – Epizentrum der europäischen Schuldenkrise“ von Karl Heinz Roth wird die kapitalistische Entwicklung Griechenlands im Strudel der Wirtschaftskrise nachgezeichnet, wobei die allgemeine ökonomische Struktur und die mit den Parteien verknüpfte Oligarchie ein zentrales Thema bilden. Genau wird auf die unrühmliche Rolle der so genannten Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds eingegangen und klar gemacht, dass deutsche Politik und deutsches Kapital auf die griechischen Verhältnisse Einfluss nehmen. Im zweiten Beitrag „Die Demokratie in Griechenland zwischen Ende und Wiedergeburt“ von Gregor Kritidis wird die Gegenwehr von unten und von links beleuchtet. Die unterschiedlichen Positionen werden vorgestellt und eingeordnet, von der PASOK[1] über die sich selbst isolierende KKE[2] bis hin zu den Anarchist_innen. Aber auch der neu auftauchende Faktor der „Empörten“ (motiviert durch die Platzbesetzungen in Spanien) wird beschrieben und gezeigt, dass im letzten Jahr ein neues der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber antagonistisches Element aufgetaucht ist. Das Buch war im Februar 2012 abgeschlossen. Deshalb konnten zwar die verschiedenen Wellen der Massenmobilisierungen berücksichtigt werden, nicht aber die Wahlen im Frühjahr. So bleibt der Achtungserfolg des linken Bündnisses SYRIZA wie der Katzenjammer wegen des Siegs der Sparprogrammparteien unbehandelt. Aber trotz ihres Sieges mußten die regierenden Oligarchieparteien sich auf Grund des Druckes von unten gegen die Auflagen der Troika stellen. Die „Empörten“ in Spanien werden in „Niemand repräsentiert uns: Die Bewegung 15. Mai im spanischen Staat“ von Andy Durgan und Joel Sans beschrieben. Es wird gezeigt, dass die „spontane“ Bewegung sehr wohl eine Vorgeschichte hat, aber auch wie sie im Widerspruch zur „traditionellen Linken“ steht. Die Widersprüchlichkeit innerhalb des breiten Spektrums der Platzbesetzungen als „unpolitischem“ Aufbruch zu beschreiben, ist eine gelungene Darstellung, wie auch das Herausarbeiten des mehr politischen, ich würde sogar sagen, anarchistischen, Charakters der Bewegung in Barcelona im Vergleich zu Madrid. Diese Bewegung ist so vielfältig wie die Menschen, die sich daran beteiligen. Das gilt auch für das in New York entstehende „Occupy“. Das Interview mit der daran beteiligten Feministin Silvia Federici („Wir erleben das Ende einer Epoche. Ein Gespräch über die Occupy-Bewegung in den USA“) ist leider zu kurz, trotzdem eine sehr genaue Darstellung sowohl was die Vorläufer_innen in der Bewegung der Studierenden betrifft, als auch den Einfluss der internationalen Bewegungen. Hierher gehört die Betonung, dass zuerst die Kämpfe im globalen Süden begannen (Besetzungen von Brasilien bis Afrika). Spannend ist es auch, über die soziale Zusammensetzung und die Einflüsse durch Feminismus, Anarchismus und die „Commons“-Bewegung zu erfahren. Die weltweiten Aufbrüche waren in unterschiedlichem Ausmaß mit Arbeitskämpfen verbunden, wobei sehr oft die institutionalisierten Strukturen von linken Parteien und Gewerkschaften eine systemkonforme Funktion erfüllten. Besonders auffällig wird das in Deutschland, wo nach einer Welle sich teilweise selbst ermächtigender Arbeiter_innenkämpfe zwischen 2003 und 2007 scheinbar Flaute eingekehrt ist (das Vorkrisenjahr 2006 zeigte die meisten Streiks). Peter Birke zeichnet die Probleme in „Macht und Ohnmacht des Korporatismus. Eine Skizze zu den aktuellen Arbeitskämpfen in Deutschland“ nach. In diesem Beitrag werden zwei Elemente hervor gehoben, einmal, dass die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen für die meisten Arbeitenden nicht in direkter Beziehung mit dem Kriseneinbruch stehen, sondern bereits im Trend der letzten Jahre (oder Jahrzehnte?) angelegt sind, dann dass sich die Kämpfe in immer mehr „weibliche“ und prekäre Bereiche verlagerten, also Bereiche, in denen Gewerkschaften wenig präsent sind und in denen Streiks sich häufig als schwierig erweisen und selten spektakulären Charakter annehmen. Die Verlagerung der Kämpfe, in einem Fall von der Fabrik auf die Stadt zeigt ein weiterer Beitrag von Peter Birke: „Herrscht hier Banko? Die aktuellen Proteste gegen das Unternehmen Hamburg“). An der Besetzung des Gängeviertels, hauptsächlich durch Künstler_innen, werden die neuen Zonen der Auseinandersetzungen um oder gegen die „Entwicklung der Stadt“ beschrieben. Dabei wird die Widersprüchlichkeit der Stadtpolitik deutlich, welche einmal von der künstlerischen Aufwertung profitiert, andrerseits deren kreative Freiheit und autonome Strukturen nur bedingt zu akzeptieren bereit ist. In den letzten beiden Beiträgen wird sichtbar, dass ein Teil der Auseinandersetzungen nicht um und gegen die Krise stattfindet, sondern parallel dazu und nicht beschränkt auf die letzten (Krisen)Jahre. Wer sich im daran anschließenden Artikel „Let England Shake“ von „The Free Association“ erwartet, eine Beschreibung der Riots im August 2011 zu finden, wird enttäuscht. Es geht um mehr, dem Beginn von Kämpfen in drei Bereichen, die nebeneinander existieren, sich aber sicher aber in gewisser Hinsicht zusammengefunden haben: die organisierte Arbeiter_innenklasse, die Graduierten ohne Zukunft und die städtischen Armen. Bei der Demonstration „Marsch für eine Alternative“ am 26. März 2011 ergänzten sich die meist getrennt Kämpfenden mit ihren unterschiedlichen Kampfformen. .Die Organisierten waren auf der Veranstaltung ihrer Gewerkschaftsführung präsent, die von UK Uncut besetzten ein Luxuslebensmittelgeschäft und ein Black Block, der politische Ausdruck der Massenarmut, randalierte. „The Free Association“ sieht im Zusammenkommen dieser drei „Stämme“ die Perspektive, gegen die zunehmende Austeritätspolitik Widerstand zu leisten. Immer wieder war Italien für die deutschsprachige Linke ein Bezugspunkt, weil dort mehr und radikalere Kämpfe stattfanden. Um so erstaunlicher ist die augenblickliche Ruhe, wo doch Italien von der Krise härter betroffen ist als die nördlich liegenden Länder. Kristin Carls beschreibt in „Krise und Bewegung in Italien – Die Stille vor dem Sturm?“ die aktuelle Situation. Trotz der laufenden Verschlechterungen der sozialen Situation beschränkte sich der Widerstand auf die ritualisierten Generalstreiks der großen Gewerkschaften. Radikale Bewegungen orientieren sich trotz der Krisenszenarios am Kampf gegen die Schnellbahntrasse zwischen Turin und Lyon. Die Platzbesetzungen durch „Empörte“ fanden im Gegensatz zu vielen anderen Städten Europas keine Resonanz. Den Herausgebern ist bewusst, dass die Krise und die Bewegungen nicht nur in Europa stattfinden, so ist es nur folgerichtig, dass sich die letzten beiden Beiträge über den Tellerrand des globalen Nordens hinausbegeben. In den Medien werden die Hungerrevolten im Süden kaum beachtet. Im Beitrag von Max Henninger „Ernährungskrisen und Hungersnöte“ geht es um diesen Aspekt der aktuellen Krise, wobei allerdings die Revolten nur als Symptom betrachtet werden, hier im Zusammenhang mit der Zerstörung der lokalen Nahrungsmittelproduktion sichtbar gemacht. Im letzten Beitrag von Pun Ngai und Lu Huilin „Unvollendete Proletarisierung. Das Selbst, die Wut und die Klassenaktionen der zweiten Generation von BauernarbeiterInnen im heutigen China“ wird eine Region behandelt, die nicht im Zentrum der Krise liegt, aber immer im Zusammenhang mit den USA und möglicher „Lösungen“ genannt wird. Der Schwerpunkt ruht auf den Lebensbedingungen der zweiten Generation von WanderarbeiterInnen. Es zeichnet sich ab, dass diese Generation mit ihren Lebensverhältnissen wenig zufrieden ist und sich in Zukunft kollektive Aktionen entwickeln werden. Entscheidend ist, dass (im Gegensatz zu Europa im 19. Jahrhundert) durch die gesetzlichen Bedingungen (Houkou – Wohnsitzbeschränkung) Urbanisierung und Proletarisierung auseinanderfallen, wodurch ein zusätzlicher Widerspruch entsteht, weil die Wanderarbeiter_innen ihren Lebensmittelpunkt trotz aller Beschränkungen in die Stadt verlagern. Einige Lücken müssen angemerkt werden, was aber nicht den Herausgebern anzulasten ist. So wird z.B. in Zusammenhang mit dem arabischen Frühling Ägypten übergangen, wie auch die unterschiedliche und differenzierte Situation in den Staaten des Mittelmeerraums. Auch die Besetzung des Kapitols in Madison / Wisconsin, bei der es um die Einschränkung von Gewerkschaftsrechten ging, wird nur am Rande erwähnt. Wichtig finde ich die Hereinnahme Chinas, das ja als „Werkbank der Welt“ eine entscheidende Bedeutung haben wird, auch wenn die revolutionären Aufbrüche dort – wenn überhaupt – entweder ohne überregionalen Zusammenhang geblieben sind oder von Europa aus gesehen, kaum wahrnehmbar sind. Wie die Herausgeber bereits in ihrer Einleitung vermerkt haben, läßt sich die Abfolge der Proteste nur in Parallelität zur Krisenentwicklung darstellen. Nur indirekt ist zu erkennen, dass die Proteste mit der Krise in Verbindung stehen, Dies läßt den die Leser_in ein bisschen ratlos zurück. Trotz aller Lücken ist dieses Buch ebenso unverzichtbar wie die Zeitschrift „Sozial.Geschichte“. |
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