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Papadopoulos, Dimitris ; Stephenson, Niamh ; Tsianos, Vassilis: Escape Routes. Control and Subversion in the Twenty-first Century London: Pluto Press, 2008, 320 Seiten, Euro 24,99 Antonio Negri sieht in „Escape Routes“ einen Werkzeugkasten in den Händen der Multitude (Klappentext). Ob das wirklich stimmt, müssen die zukünftigen „unwahrnehmbaren“ Bewegungen zeigen. Auf jeden Fall ist es eine Beschreibung des postoperaistischen Konzepts des Exodus an Hand der konkreten Beispiele von Leben, Mobilität und Arbeit. Diese unwahrnehmbare Politik (imperceptible politics) unterscheidet sich dabei entscheidend von „Widerstand“, weil sie sich der Repräsentation entzieht. Die Beschreibung dieser Aktivitäten lässt sich mit der „Entdeckung“ der unsichtbaren Widerstandsformen wie „krankfeiern“ und „langsam arbeiten“ durch den Operaismus der 1960er vergleichen. Im ersten Abschnitt geht es um die Entwicklung der kapitalistischen Souveränität der globalen nordatlantischen Gesellschaft (global North Atlantic society): Der nationale soziale Kompromiss des fordistischen Staates wird beschrieben, der auf Rechten und Repräsentationen aufbaut (double-R axiom), mit dem Schwerpunkt auf den sozialen Rechten. Die Körper werden diszipliniert, domestiziert und klassifiziert, um für das Regime produktiv gemacht zu werden. Als Antwort auf die Subversion dagegen entsteht ein Regime der transnationalen Gouvernementalität, das den Schwerpunkt Richtung Repräsentation verschiebt, das neoliberale Regime anerkennt Differenzen[1]. Die Subjektivitäten werden als unterschiedliche Identitäten anerkannt, es gibt nicht mehr eine von außen wirkende Beziehung zwischen Macht und Körper („Disziplin“), sondern ein Netzwerk der Macht mit Knoten und Linien. Aus diesem Regime entwickelt sich das postliberale Regime, das das klassifizierende Gitter mit dem Netzwerk verbindet. Typisch sind flexible Grenzen, transnationales Regieren wird mit neuen Formen des Korporatismus (Fundamentalismen) verbunden, vertikale „Ballungen“ (vertical aggregates) genannt. Der nächste große Abschnitt ist mit escape überschrieben, was mit Flucht, Exodus oder Entkommen zu übersetzen wäre. Es wird gezeigt, dass zuerst die Mobilität der Subjekte in ihrer Flucht aus den feudalen Verhältnissen vorhanden war, woraus die mobilen Vagabund_innen entstanden, die erst dann diszipliniert wurden. Dadurch wurde es möglich, sie als Arbeitskraft zu vernutzen. Die Integration in die Fabrikarbeit war eine Antwort auf die vorher entstehenden Gemeinschaften des Exodus (communities of exodus). Repräsentation wird als eine Form der Macht gesehen, das „Entkommen“ (escape) ist nicht repräsentierbar und trotzdem das Herz der sozialen Konflikte. Die Flucht aus den Fabriken und anderen kapitalistischen Institutionen um und nach 1968 ist auch ein Entkommen, etwa der Arbeiter_innenklasse aus der Repräsentation durch Partei und Gewerkschaften. Auch die feministische Revolte ist eine Verweigerung der Repräsentation (vgl. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist), die „Frauen“ sind das nicht repräsentierbare Viele. Unwahrnehmbare Politik (imperceptible politics) entgeht der Politik (policing) und ist eine Alternative zum repräsentierten Widerstand, der immer wieder in die herrschenden Systeme integriert wird und damit seine konstituierende Macht verliert. Das „Entkommen“ (escape) ist nicht in Opposition zum System, es unterläuft und „betrügt“ das System, insofern darf es auch nicht erkennbar sein, was nicht unbedingt heißt, dass es unsichtbar sein muss. Migrant_innen aus dem Süden können oft ihre Auffälligkeit nicht verbergen, sehr wohl aber eine vermeintlich wirkliche Identität. Diese Art der Politik will keine bessere Gesellschaft errichten, sondern konstruiert allein durch ihre Existenz materielle Realitäten. Diese un/an/geeigneten[2] Zustände der Existenz (ein Zustand der Aneignung, aber nicht angeeignet durch die herrschende Ordnung) werden durch den repräsentativen Diskurs zu kontrollierbaren Objekten, Körper werden zu Identitäten, Wünsche zu staatlich orientierten Forderungen. Im ausführlicheren zweiten Teil, betitelt mit „zeitgenössische Abfolge des Entkommens“, werden an Hand von Leben, Mobilität und Arbeit zuerst die herrschenden Regime beschrieben, anschließend die „Überschreitung“ (excess), die sich nur teilweise fassen lässt und schließlich das „Entkommen“ (escape), das sich als konstituierende Macht der postliberalen Kontrolle entzieht. Um 1900 taucht das „Leben“ als Objekt der Politik auf, das als Lebenskultursystem (life/culture system) jeden Aspekt des Lebens erfassen und planen möchte. Schließlich führt das zum Faschismus, weshalb die Idee einer Formbarkeit des Lebens in der Nachkriegszeit tabuisiert ist. Die vielfältigen Rebellionen um 1968 erfordern aber eine neuerliche Kontrolle des Lebens durch die herrschenden Regime. Als Beispiel für die Steuerung des sich verändernden auftauchenden Lebens (emergent life) werden die unkontrollierten Krankheiten beschrieben – wie AIDS und die (vermeintliche) Vogelgrippe-Pandemie. Die Maßnahmen der Institutionen lassen sich nicht auf Nationalstaaten beschränken, müssen sich aber trotzdem auf diese beziehen. Sie sind Ausdruck des postliberalen Regimes, in dem die Akteur_innen sowohl transnationale Konzerne wie auch Staaten sind. Die Ausbeutung der Medizinen aus den Regenwäldern oder die Nutzung der Gentechnik sind vom Kapitalismus produziertes Leben gegen das unkontrolliert auftauchende Leben (emergent life) der Krankheiten / Viren. Gegenüber dem Kapitalismus besteht der Primat der alltäglichen Erfahrung, wobei diese in die herrschende Repräsentation eingepasst wird, von den Autor_innen „optisch“ benannt, also sichtbar gemacht. Im Gegensatz dazu besteht das „Haptische“, das „Fühlende“, das sich dieser Kontrolle entzieht. Die Problematik der Sichtbarkeit wird an Strömungen des Feminismus und Antirassismus gezeigt, die auf Anerkennung und damit Sichtbarkeit hinarbeiten, dadurch aber in die herrschende Gesellschaft des Spektakels kooptiert werden. Im Gegensatz zur Brustkrebskampagne „Pink Ribbon“, die von einem der größten Kosmetikkonzerne finanziert wird, wird am Beispiel der Beschreibung des Lebens einer Frau mit Eierstockkrebs und eines AIDS-Aktivisten gezeigt, wie das „Haptische“ sich zumindest teilweise dem Spektakel entzieht. Das ist die Überschreitung (excess)[3], die Materialität des kranken Körpers liegt außerhalb der Wahrnehmbarkeit. Die Materialität des körperlichen Empfindens lässt sich zwar beschreiben, ist dann aber nicht das Empfundene, sondern kann höchsten Empathie hervorrufen, jedoch nicht die gleichen Gefühle. Außerdem steht es außerhalb eines Common Sense der herrschenden Gesellschaft. Im postliberalen Kapitalismus entsteht ein System der Mobilitätskontrolle, das die Autor_innen „liminale porokratische Institutionen“[4] nennen. Die Schwelle zwischen Schengenland und außerhalb ist keine stabile Grenze mehr, sondern die Kontrollen finden über den gesamten Raum verteilt statt. Grenzen haben sich in den virtuellen Raum verschoben, in die Datensätze von ZAST, SIS, Eurodac und wie sie alle heißen. Für Flüchtlinge gilt der permanente Ausnahmezustand, und dadurch der Wunsch, möglichst nicht erfasst zu werden. Zugleich sind die Grenzen keine undurchlässigen Mauern. Ein Durchsickern ist möglich, im Sinne der Migrant_innen, in einem regulierten Ausmaß aber auch für den Kapitalismus. Am Beispiel des Ägäischen Transitraumes (der Grenze zwischen Griechenland, das innerhalb des Schengenraums liegt, und der Türkei) wird gezeigt, dass Mobilität nur funktioniert, weil die Wahrnehmbarkeit unterlaufen wird, Identitäten geändert, Biographien manipuliert werden. Die Lager sind nicht dazu gedacht, Migration zu verhindern, sondern in einen kontrollierbaren Rahmen zu bringen. Sie bedeuten die Entschleunigung der Mobilität, um sie dadurch der kapitalistischen Vernutzung anzupassen, als eine Form der „Porokratie“. Die Autonomie der Migration ist das Gegenstück zu den liminalen porokratischen Institutionen, sie ist das lang andauernde Ankommen, das Jede-Werden (become everyone), ein Unwahrnehmbar-Werden. In der Organisation dieser Autonomie werden aber immer wieder materielle Realitäten produziert, alltägliche Lebensverhältnisse. Prekäres Leben und Arbeiten unterliegt einem Regime der Arbeitskontrolle, das als verkörperter Kapitalismus (embodied capitalism) bezeichnet wird. In prekärer Arbeit wird die Zukunft bereits in der Gegenwart ausgebeutet (wie etwa Gratispraktika im Wissenschaftsbetrieb zeigen). Die Überschreitung in Richtung einer Veränderung der herrschenden Gesellschaft findet nicht mehr in (leninistischen) Parteien statt, nicht mehr in den Gewerkschaften, aber auch nicht mehr in der Mikropolitik, wie sie nach 1968 entwickelt wurde. Die letztere bleibt nämlich auf der Ebene einer integrierbaren Sichtbarkeit, der Suche nach Identität und Anerkennung. Während die Vielfältigkeit der mikropolitischen Widerstände ins kapitalistische Eigentumssystem eingepasst wird (Diversity Management, homosexuelle Konsument_innen etc), kann die prekäre Arbeit nur produktiv werden, indem sie gegen das kapitalistische Regime des Eigentums agiert. So sehen wir uns jetzt in einer Phase der vielfältigen Kämpfe um Eigentumsrechte, was rund um die Frage des Copyrights offensichtlich wird (welche prekär Lebende ist nicht darauf angewiesen, entweder Raubkopien von Programmen zu verwenden oder die technischen Möglichkeiten von Institutionen und Firmen auszunützen). Die prekären Arbeiter_innen produzieren nur im und durch das Gemeinsame, das der Kapitalismus verwerten und seinen Eigentumsrechten unterwerfen will. Der verkörperte Kapitalismus braucht für seine Ausbeutung den ganzen lebendigen Alltag, hat aber keine Kontrolle über dieses Leben. Die un/an/geeignete Sozialität (inappropriate/d sociability), das Zusammenleben, ist notwendig für die kapitalistische Produktion, findet aber außerhalb seiner Regulierung statt. Das alltägliche Leben wird angeeignet, indem es in die Produktion eingeht, ist aber zugleich außerhalb des Kapitalismus, es bleibt ein Überschuss an Kreativität, an konstituierender Macht. In den postliberalen Arbeitsverhältnissen entsteht die Subjektivität für einen historischen Wandel nicht mehr aus der Produktion, sondern aus dem, was zwar in die Produktion eingeht, aber das Produktionsregime überschreitet. Das alltägliche Leben ist wieder die unwahrnehmbare Politik (imperceptible politics). Um die „unwahrnehmbare Politik“ noch einmal zusammenzufassen, möchte ich noch einige Beispiele bringen. Körperliche Empfindungen (das „Haptische“) der Krankheit lassen sich nur sehr begrenzt vermitteln, darum wird dort nur die Überschreitung beschrieben und nicht das „Entkommen“. Anders ist es in der „Autonomie der Migration“, wo die listige (cunning) Verwendung unterschiedlicher Pässe die „autentische“ Identität zum Verschwinden bringt, aber keineswegs die Sichtbarkeit im rassistischen und antirassistischen Diskurs und erst recht nicht an öffentlichen Orten. Das prekäre Leben organisiert sich schließlich zwischen dem Bezug von Sozialleistungen, dem Verschleiern von Einkünften und dem Versuch des Überlebens außerhalb fixer Identitäten. Die Autor_innen sehen die revolutionäre Potentialität des Exodus im Entzug der Wahrnehmbarkeit der körperlichen Kontrolle, in der unregulierbaren Mobilität der Migrant_innen und der un/an/geeigneten Gemeinsamkeit des prekären Lebens. Sie setzen die unwahrnehmbare Politik gegen das spektakuläre und dadurch repräsentierbare Ereignis des Widerstandes, des Aufstandes und der Revolution. Es ist schon richtig, dass der soziale Wandel, der auf dieser unwahrnehmbaren Ebene stattfindet, immer wieder vernachlässigt wurde. Aber genügen diese unsichtbaren Bewegungen, um das kapitalistische System entleeren? Meiner Ansicht nach müssen diese unsichtbaren Kämpfe durch Brüche (Ereignisse) ergänzt werden, die als soziale Bewegungen ebenso Formen konstituierender Macht bilden. Und ich habe keine Probleme damit, wenn es zu einer „Vermittlung“ zwischen der sich verändernden Revolutionierung des Alltags und der Selbstorganisation in den kleinen und großen Revolten kommt. Robert Foltin [1] Der fordistische Staat ist eine Antwort auf die Arbeiter_innenbewegung, während das nachfolgende Regime die Antwort auf unterschiedliche Kämpfe um Anerkennung ist (unterdrückte Minderheiten, Feminismen etc.). [2] Der Begriff inappropriate/d wurde von der feministischen Autorin Trin Minh-ha übernommen, der deutsche Begriff un/an/geeignet aus der Übersetzung von Donna Haraway (1995): Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays. Hamburg: Argument Verlag (S. 234). [3] Bücher, die das Leben und Sterben mit/an Krankheiten beschreiben, sind natürlich Teil des herrschenden Spektakels. Aber es geht um die Überschreitung, die nur teilweise außerhalb des „Optischen“ liegt (Rose G. 1997: Love’s Work. London: Vintage; und Michaels, E. 1990: Unbecoming: An AIDS Diary. Rose Bay, NSW: Empress Publishing.) [4] Die Erfindung neuer Begriffe führte in einem Artikel zu dem entsprechenden Thema zu Diskussionen über die „Unverständlichkeit“: Tsianos, Vassilis (2008): Die Karte Europas und die Ströme der Migration. In: grundrisse 27, S. 29-33. |
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