|
Michael Hardt, Antonio Negri, “Multitude. War and Democracy in the Age of Empire”New York: The Penguin Press 2004, 427 Seiten, 26,50 Euro. Eine Kritik am Buch Empire derselben Autoren war, dass das Konzept der „Multitude“ zu wenig ausgeführt werde. Im August ist der Nachfolgeband Multitude erschienen (in Kürze wird die deutsche Übersetzung folgen). Es bestätigt die Erwartung der „genauen Erklärung“ und doch hat der wieder Text Manifest-Charakter und sollte darum auch als Aufforderung zum Handeln gelesen werden. Im Vorwort vergleichen die Autoren Empire und Multitude mit den beiden Büchern von Thomas Hobbes, De Cive (veröffentlicht 1642) und Leviathan (1651): De Cive beschreibt den sozialen Körper, der in den Leviathan der Souveränität verwandelt wird, während Hardt und Negri von der Beschreibung der Souveränität (Empire) zur lebendigen Demokratie der Multitude kommen. Es geht um den Anfang und das Ende der bürgerlichen Gesellschaft. Der erste der drei großen Abschnitte mit dem Titel Krieg beschreibt die augenblickliche Situation im Übergang zum Empire. War in der Moderne der Krieg der Ausnahmezustand, so nähern wir uns jetzt der Situation an, in der permanent Krieg oder BürgerInnenkrieg herrscht. Durch den permanenten Ausnahmezustand (besonders seit dem 11. September 2001) sowohl nach innen wie nach außen wird der Unterschied zwischen Polizei- und Militäraktionen immer geringer. Der Kriegszustand ist der intensivste Ausdruck der Biomacht, die Produktion der Kontrolle über die Bevölkerung. Die Überwachung reicht bis in die intimsten Bereiche des Lebens. Technologische Revolutionen im militärischen Bereich ließ den Körper der SoldatInnen vom Schlachtfeld verschwinden. Während der militärischen Interventionen des letzten Jahrzehnts starben beinahe nur die Feinde des Westens und der USA. Gegen die herrschende Asymmetrie der militärischen Macht entwickelte sich die Strategie des Guerillakriegs. Eine Guerilla bildet polyzentrische Netzwerke und ist durch eine militärische Hierarchie nicht zu bekämpfen. So muss die unilaterale Kriegführung durch die USA scheitern, ein Rückgriff auf die gesamten strukturierenden Netzwerke des Empire wird notwendig sein. Die Produktivität des Widerstands war immer vor den herrschenden Strukturen da. In der modernen revolutionären Entwicklung vereinigten sich die Banden und Guerillas zu einer Volksarmee (etwa in China oder in Vietnam). Als Kritik an undemokratischen Strukturen wurde ab Mitte der 1960er wieder das polyzentrische Guerillamodell favorisiert. Oft war aber auch der Guerillakampf nicht mehr als die Kopie einer Armee. Erst mit der Veränderung der Produktion, etwa dem Verschwinden der Grenzen zwischen Arbeit und Leben (Stichwort: Postfordismus) wurden Netzwerkkämpfe neu erfunden: Durch identitätspolitische AktivistInnen (Schwule, Lesben, Feministinnen, Minderheiten), besonders aber durch die Ende der 1990er entstehende globale Protestbewegung. Ein Netzwerk ist nicht prinzipiell emanzipatorisch, wie der islamische Terrorismus zeigt. Um die Unterschiede festzustellen, müssen die Veränderungen in der Produktion beleuchtet werden. Womit wir beim nächsten Abschnitt wären: Multitude. Diese ist kein politischer Körper (es gibt keine Hierarchien: Kopf und Glieder etc), sondern eine Menge von Singularitäten, eine unreduzierbare Vielfalt, sowie das Subjekt postmoderner Produktion. Die jetzt dominierende immaterielle Arbeit ist materiell, es werden Körper und Hirne eingesetzt, aber die Produkte sind immateriell wie etwa Wissen und Kommunikation. Die Hegemonie dieses Arbeitstypus ist qualitativ, nicht quantitativ. Im weltweitem Maßstab nahm die Zahl der in der Produktion materieller Güter beschäftigten ArbeiterInnen zu, aber der Charakter aller Arbeiten hat sich geändert, wurde immaterialisiert, etwa durch die Informatisierung von Industrie und Landwirtschaft oder durch die Aufwertung sozialer und emotioneller Qualitäten in jeder Produktion. Die Manipulation und Erzeugung körperlicher und mentaler Zustände (Affekte) als Teil der Arbeit zeigt die besondere Intensität der Entfremdung, da dabei etwas sehr Intimes dem kapitalistischen Regime unterworfen wird. Das ganze Leben wird zum Produktionsprozess, der Begriff biopolitische Arbeit würde diese Immaterialisierung treffender charakterisieren. Die BäuerInnen gelten als besondere Herausforderung für das Konzept Multitude. Hardt / Negri zeigen, dass auch diese maßgeblich an der biopolitischen Produktion beteiligt sind, sie nutzten schon immer Wissen, Intelligenz, Innovation. Ebenso gilt das für die Armen, die formal aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen sind. Aber gerade ihre Fähigkeit zur Organisation des Lebens und Überlebens ist biopolitische Produktivität, auf die auch die herrschenden Ausbeutungsstrukturen nicht verzichten können. Der globale politische Körper des Empire befindet sich in einem Stadium des Übergangs, eines Interregnums. Dieser Zustand ist die Verallgemeinerung der Ungleichheit auf globaler Ebene, ein System der Apartheid, das nicht mehr ausschließt (wie zu Zeiten des Kolonialismus), sondern einschließt. Mit der Verringerung der Bedeutung der Nationalstaaten ist Regulation und politische Ordnung aber nicht verschwunden. Diese organisiert sich um drei Gruppen als internationales Netzwerk: die KonzernvertreterInnen, die VertreterInnen der (wichtigen) Nationen und die der internationalen Bürokratien wie IWF und Weltbank. Sie müssen sich auf starke Staaten stützen, die die Marktordnung garantieren, da die immateriellen Produkte neue „Sicherheitsprobleme“ schaffen, da kulturelle Ausdrucksformen und Computerprogramme – im Gegensatz zu materiellen Produkten – beliebig reproduzierbar sind. Ein neuerlicher Kampf gegen die Einhegungen (enclosures) gemeinsamer, allgemeiner Güter (commons) hat begonnen. Ein Teil davon ist auch die Auseinandersetzung um das Eigentum an Wissen und an lebenden Organismen (Stichwort Biopiraterie). In der heutigen Situation des Übergangs haben sich die traditionellen sozialen Körper aufgelöst. Das „Fleisch“ (sowohl Geist wie auch Körper, das elementare Alles) der Multitude wird zur ungeformten Lebensmacht (daher die vielfältige Angst vor der Auflösung der herrschenden, etwa auch der sexuellen, Ordnungen). Das Produktive des formlosen Fleisches liegt in Kommunikation, Kooperation, Sozialität, die das Gemeinsame (common) erzeugen, das wiederum neue Kommunikation, Kollektivität etc möglich macht, eine endlose Spirale. So wie uns die geschlechtliche Performativität dazu zwingt, innerhalb der Geschlechterordnung agieren, wir diese aber durch unser Agieren verändern können. Die „sprechende“ immaterielle oder biopolitische Arbeit erzeugt immer etwas Gemeinsames, ist daher potentiell gegen die Eigentumsordnung gerichtet. Dieses Gemeinsame weist auch den Weg aus der Alternative Privatisierung oder Verstaatlichung. Öffentliche Güter sollen nicht vom Markt bestimmt werden, aber auch eine bürokratische Organisation („Staat“) ist nicht mehr notwendig. Die jetzt bestehende Demokratie (so der Titel des dritten Abschnitts) gerät durch die Globalisierung in eine Krise. Auf der linken Seite versuchen Sozialdemokratien den Nationalstaat wieder zu stärken, während Liberale die Demokratie in der Überwindung des Nationalstaates sehen. Die Rechten sehen entweder die Durchsetzung der Demokratie in der weltweiten US-Hegemonie oder sie sehen durch die Globalisierung ihre konservativen Werte gefährdet. Alle wollen sie von oben einführen, was einer echten Demokratie widerspricht. Die Entwicklung der modernen Demokratie brachte zwei maßgebliche Fortschritte: Die Idee, dass alle beteiligt werden sollen und das Prinzip der Repräsentation. Gerade im zweiten zeigt sich jedoch der Mangel bisheriger Demokratiemodelle. Repräsentation ist immer Verbindung und Trennung. Die Repräsentierenden sind abgelöst von den Repräsentierten, sie üben den Willen eines vereinheitlichten Souveräns aus, der nichts mit der Multitude zu tun hat. Darum sind radikale Innovationen notwendig, eine Neuerfindung der Demokratie. Ein solcher Versuch war im Sozialismus die Rätedemokratie, welche ökonomische und politische Macht verbinden sollte. Aber auch dort blieb die Demokratie unverwirklicht, sie wurde in Parteidiktatur verwandelt. Die Krise vor der französischen Revolution ließ die Monarchie eine Reihe von Beschwerden sammeln. Auch jetzt lassen sich die Unzulänglichkeiten des herrschenden kapitalistischen Regimes sammeln. Sie können als Kritik an den Formen der Repräsentation (der Demokratie), an der mangelnden Verwirklichung von Rechten und Gerechtigkeit, am Bestehen von Ungleichheit und Armut verstanden werden. Sie lassen sich mit anderen als biopolitischen Forderungen (es geht um das ganze Leben) verbinden. Die daraus entwickelnden Reformvorschläge stoßen auf die beinahe unüberwindbare Unnachgiebigkeit des Empire. So stellt sich heute die Frage nach Reform oder Revolution nicht mehr. Die Multitude steht dem Empire ohne Vermittlungsmöglichkeit gegenüber. Es wird aber der weit verbreitete Wunsch nach echter Demokratie offensichtlich. So wie im 18. Jahrhundert auf die griechische Polis als Modell verwiesen wurde, dann aber die anders funktionierende nationalstaatliche Demokratie entwickelt wurde, so müssen jetzt neue Wege der globalen Demokratie erfunden werden. Alle Formen der Macht (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) reduzieren die Multitude durch Repräsentation auf eine Einheit. Aber alle Formen der Macht haben Schwächen: Sie sind von der Zustimmung der Unterdrückten und Ausgebeuteten abhängig. Diese muss immer wieder produziert werden, Repression und Unterdrückung stören das Funktionieren der Ausbeutung empfindlich. Durch die Veränderung der Art der Produktion hat sich auch die Entscheidungsmacht in die produktive Struktur verlagert. Die Netzwerke der biopolitischen Arbeit machen das erste Mal Demokratie verwirklichbar, in einem Netzwerk ist keine Entscheidungsmacht einer/s Einzelnen mehr notwendig, Kooperation und Kommunikation ersetzen alle Hierarchien (im Buch „Empire“ wurde das noch als eine Art spontaner und elementarer Kommunismus bezeichnet). Diese Möglichkeiten der Demokratie stoßen auf das Hindernis des Krieges, den permanenten Ausnahmezustand, die andauernde Drohung der Gewalt. Auch der Widerstand der Multitude muss nicht gewaltfrei sein, aber es müssen neue Waffen gefunden werden, mit den Waffen der Herrschenden werden wir immer unterliegen. Beispiele für neue Waffen sind etwa Massenverweigerungen oder karnevaleske Demonstrationsformen, vieles muss aber erst entdeckt werden. Die konstituierende Macht der Multitude besteht im biopolitischen Gemeinsamen (commons), in den kooperativen und kommunikativen Netzwerken und in der kollektiven Entscheidungsmacht. Der Zustand des permanenten Krieges macht es nicht leicht, aber der Kampf um Reformen muss zu einem radikalen aufständischen Begehren führen, zu einem Sprung in eine lebendige Zukunft: „Das wird der echte politische Akt der Liebe.“ (S. 358) Neben literarischen Einschüben als Übergänge unterbrechen drei Exkurse die Argumentation des Textes; sie sind es aus verschiedenen Gründen wert, getrennt behandelt zu werden. Im ersten Exkurs beantworten die Autoren eine Frage, die bereits nach dem Erscheinen von Empire zu lebhafter Diskussion in der grundrisse-Redaktion führte: Das Marxsche Wertgesetz, so Hardt und Negri, gilt heute nicht mehr, weil die veränderten historischen Verhältnisse (Arbeit und Leben) eine Neubestimmung verlangen. Der Wert der abstrakten Arbeit war immer mit dem Maß (dem Zeitmaß, den Arbeitsstunden) verbunden. Im Zeitalter der immateriellen Arbeit löst sich das Maß auf - durch die Verwischung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit, besonders aber durch die Veränderung der Produktion. Während die materielle Arbeit Lebensmittel (means of social life) erzeugte, produziert immaterielle Arbeit das Leben selbst (social life). Die lebendige Arbeit für das Leben ist nicht mehr messbar. Außerdem sind die Produkte, etwa Wissen, durch ihre Reproduzierbarkeit maßlos, exzessiv. Eine Theorie über die Beziehung von Arbeit und Wert muss heute am Gemeinsamen (commons) ansetzen und nicht mehr an der Mehrarbeit. Die heutige Ausbeutung erfolgt durch die Expropriation des Gemeinsamen, die Grenzenlosigkeit dieser Produktion wird beispielsweise durch die exzessive Finanzspekulation repräsentiert, die schon auf diese zukünftig entstehenden Werte setzt. Subjektivität entsteht heute nicht mehr im Kampf gegen die Mehrwertabpressung in der Arbeit, sondern in der gesamten biopolitischen Produktion, deren deutlichster Ausdruck „die Armen“ sind. Der zweite Exkurs behandelt die Kritiken der Linken an den Vorstellungen, wie sie von den Autoren in „Empire“ entwickelt wurden. Da wäre einmal der Vorwurf des Anarchismus, weil sie die Spontaneität der Revolten idealisieren. Tatsächlich findet sich aber die notwendige Organisation in der Kommunikation, Kooperation und Kollektivität der Multitude. Auch der komplementäre Vorwurf, sie würden wie LeninistInnen ganz bestimmte Kämpfe privilegieren (die globale Protestbewegung), wird mit dem Argument der Breite der Multitude zurückgewiesen. Weiters würden sie die ArbeiterInnenklasse ignorieren und die immateriellen ArbeiterInnen als neue (leninistische) Avantgarde sehen. Die Autoren zeigen jedoch auf, dass das ganze Leben Produktion ist und damit alle Arten von „Arbeit“ berücksichtigt werden müssen. Weiters betonen Hardt und Negri ihre Ablehnung der Dialektik, weil sie nicht von einer gegenseitigen Abhängigkeit von Empire und Multitude ausgehen: Das Empire ist abhängig von der Multitude, die Multitude aber nicht vom Empire. Auch die Kritik, dass sie nur Teile der Unterdrückten berücksichtigen würden und Philosophen der Eliten des Nordens seien, weisen sie mit ihrer Integration der BäuerInnen und der Armen ins Fleisch der Multitude zurück. Den Vorwurf des Utopismus sehen sie in der Beschreibung der Organisation der Multitude widerlegt. Exkurs Nummer drei behandelt eine neue Geopolitik. Multinationale Konzerne und gewichtige Nationalstaaten (die Aristokratie) stehen dabei in Widerspruch zum Unilateralismus der USA (dem Monarchen). Die Autoren schlagen strategische Bündnisse der Multitude mit diesen AristokratInnen vor, indem sie eine Magna Charta für einen Multilateralismus befürworten. Durch diese Allianzen sollten dann neue Möglichkeiten der Subversion entstehen. Für die zukünftige Entwicklung sehen sie aber weder eine Zukunft für den Unilateralismus der USA noch für einen Multilateralismus, wie er von den europäischen Mächten vertreten wird. Wenn die Multitude unrepräsentierbar ist, wer sollte dann solche Allianzen schließen (Hardt / Negri erwähnen Protestierende in den Straßen, Sozialforen und NGOs)? Sind sie dabei nicht recht nahe an Vorstellungen einer Idealisierung der „Zivilgesellschaft“? Ist das auch der Grund, warum nur mehr Demokratie vorkommt, nicht mehr aber der Begriff des Kommunismus? Mit dem Vorschlag des strategischen Bündnisses sind sie schon sehr nahe an einer Etappentheorie, die aus taktischen Gründen einen unterlegenen Imperialismus unterstützen will. Um das politische Konzept nicht zwischen diesem seltsamen Taktizismus und dem träumerischen aufständischen Begehren der Liebe versanden zu lassen, möchte ich noch einmal die Beschreibung der augenblicklichen Situation im historischem Vergleich rekapitulieren. Zwei Beschreibungen beziehen sich auf die Situation direkt vor der französischen Revolution. Der Alleingang der USA im Krieg gegen den Irak provozierte eine Revolte der Aristokratie (des alten Europa), auch weil die USA unfähig sein werden, die Kosten des Krieges zu tragen und dadurch auf das Geld der Aristokratie zurückgreifen muss (S, 61ff). Ähnlich wurde die französische Revolution durch eine Revolte des Adels 1788 eingeleitet. In einer Überschrift (Cahiers de Doléances, S. 268) wird noch einmal auf das 18 Jahrhundert hingewiesen. Diese Briefe leiteten vor der Revolution die Konstituierung der Generalstände ein, die als neue soziale Macht den Sieg der Bourgeoisie vorbereiteten. Hardt / Negri sehen heute keine entstehenden Generalstände, weil die Multitude keine repräsentative Form haben kann und diese für eine demokratische Revolution auch nicht notwendig ist. Wir befinden uns aber schon im revolutionären Prozess, wo der Widerstand gegen das Empire mit dem Aufstand und der konstituierenden Macht, wie sie in ihrer Keimform in der biopolitischen Produktion besteht, zusammenfällt. Robert Foltin |
|