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Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos (Hg): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri.

Frankfurt, New York: Campus, 2007, 316 Seiten, 29,90 Euro

Die Diskussion um „Biopolitik“ ist in linken und sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen so verbreitet wie noch nie. Das liegt an der unveränderten Attraktion der Rezeption von Michel Foucault, aber auch an der „Entdeckung“ Giorgio Agambens in den letzten zehn Jahren. Auch die Auseinandersetzung mit Migrationsregimen und die Fortsetzung der feministischen Kritik an „Bevölkerungspolitik“ beförderte das biopolitische Paradigma. Hardt / Negris „Empire“ und „Multitude“ reihen sich in diese Diskurse ein. Allerdings ist auch die „Entlarvung“ von AutorInnen, die nicht genau in ein bestimmtes Weltbild passen, sehr beliebt: „Die Rezeption in Deutschland erinnerte an jene dogmatische Ablehnung, mit der – vor allem auch in manch linken Kreisen – vor Jahren den Arbeiten Michel Foucaults und später Judith Butlers begegnet worden war“, schreiben die HerausgeberInnen in ihrem Schlusswort (S. 293) und treffen den Nagel auf den Kopf. Das Buch „Empire und die biopolitische Wende“, das auf eine Tagung „Zukunft und Visionen des Sozialen“ des Research Centre for Feminist, Gender and Queer Studies am Institut für Soziologie der Universität Hamburg im Dezember 2003 zurückgeht, versucht das Manko an Diskussion zu beheben.

Das Buch beginnt mit einem Beitrag Antonio Negris „Zur gesellschaftlichen Ontologie. Materielle Arbeit, immaterielle Arbeit und Biopolitik“, der wie eine zweite Einleitung gelesen werden kann. Negri macht klar, dass sich die Methode ändern muss, weil durch das Produktiv-Werden des ganzen Lebens kein Außen mehr möglich ist, kein transzendentales Hegelsches Ziel, keine institutionelle Versöhnung, sondern nur noch ein „Innen“ analysiert werden kann.

Die weiteren Beiträge werden in drei große Abschnitte geteilt, wobei die Aufteilung etwas willkürlich erscheint: 1. Multitude, 2. Die Autonomie der Migration und die Krise der Souveränität, 3. Immaterielle Arbeit und „biopolitische Wende“. Im Abschnitt über die „Multitude“ schreibt Paolo Virno („Multitude und das Prinzip der Individuation“) über die Produktion der Singularitäten im Individuationsprozess, der von einem Gemeinsamen (Spezies, Sprache, kapitalistische Produktionsweise ausgeht) und sich im sozialen Zusammenhang entwickelt. Rosi Braidotti („Die feministischen und nomadischen Subjekte als Figur der Multitude“) präsentiert ihr nomadisches Denken als „Figur der Multitude“ in Auseinandersetzung mit der feministischen Diskussion und den antihegelianischen Denken von Deleuze (Alternativen zur dialektischen Vermittlung). Doreen Massey („Empire und Geographien der Verantwortung“) setzt sich mit dem Widerspruch zwischen dem allgemeinen Raum und den spezifischen Ort auseinander und entwickelt in ihrer Arbeit über die Metropole London, dass der Kapitalismus keineswegs „ortlos“ geworden ist und sich auch die subversiven Bewegungen sowohl am Globalen wie am Lokalen orientieren sollten. Precarias a la deriva („Projekt und Methode einer militanten Untersuchung. Das Reflektieren der Multitude in actu“) verbinden ihre Untersuchung prekärer Arbeit, besonders von “Frauen” mit dem Umherschweifen in der Stadt, allerdings nicht im Sinne der situationistischen, männlichen Dandys, sondern entlang den Fluchtlinien der Arbeits- und Lebensverhältnisse der „Multitude“. Marion von Osten („Irene ist Viele! Oder was die Produktivkräfte genannt wird“) zeigt an der Analyse einer einzelnen Person, wie sich Arbeit und Leben nicht mehr abgrenzen lassen und somit alle Lebensbereiche „produktiv“ werden. Encarnación Gutiérrez Rodriguez („Sexuelle Multitude und prekäre Subjektivitäten – Queers, Prekarisierung und transnationaler Feminismus“) kritisiert den etwas unglücklich gewählten Begriff des „Frau-Werdens“ und entwickelt ihn  zu einer Perspektive weiter, die Prekarisierung und Queer als Charakteristika der Multitude darstellen.

Im Abschnitt über die „Autonomie der Migration“ schreibt Saskia Sassen („Die Re-Positionierung von Bürgerschaft“) über die Verortung der Kämpfe in den immer bedeutender werdenden Global Cities. Yann Moulier Boutang („Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik“) untersucht die Reaktion der Europäischen Union auf die nicht kontrollierbare Autonomie der Migration, während sich Sandro Mezzadra („Kapitalismus, Migrationen, soziale Kämpfe“) mit der Herausbildung von Subjektivitäten in der Migration auseinandersetzt. Der Beitrag von Sven Opitz und Robert Matthies („Interferenzen der Souveränität“) ist einer der wenigen Beiträge, der sich tatsächlich mit den Texten Hardts und Negris auseinandersetzt und die Entwicklung der Souveränität und Gouvernementalität, also die Herrschaft in allen Bereichen, nicht auf die staatlichen (souveränen) Institutionen beschränkt untersucht.

Im dritten Teil geht es um Biopolitik. Die Ausnahme bildet ein Beitrag von Maurizio Lazzarato („Leben und Lebendiges in der Kontrollgesellschaft“), der die Ausübung der Macht durch die Disziplinen auf den Körper und durch Biomacht auf die Regulation des Lebens, durch eine „Modulation des Gedächtnisses durch informatische Netzwerke, Telekommunikation, die Konstitution der Öffentlichkeiten, öffentliche Meinung sowie kollektive Wahrnehmung und Intelligenz“ (S. 266ff) ergänzen möchte, was er dann „Noopolitik“ nennt. Den Beitrag von Marianne Pieper („Biopolitik – Die Umwendung eines Machtparadigmas. Immaterielle Arbeit und Prekarisierung“) möchte ich als einen der kreativsten hervorheben. Ausgehend vom Konzept der Biopolitik Foucaults und Hardts und Negris wird versucht, die konkreten Entwicklungen aufzuzeigen und durch einen feministischen Blickwinkel zu ergänzen, also die Leerstellen des Konzepts der „affektiven Arbeit“ aufzuzeigen und zu beheben. Von Judith Revel („Biopolitik“) ist ihre Definition der Biopolitik (und Biomacht) abgedruckt, während Isabell Lorey („Als das Leben in die Politik eintrat“) die biopolitischen Konzepte von Foucault und den nachfolgenden GouvernementalitätstheoretikerInnen denen von Giorgio Agamben gegenüberstellt. Dabei arbeitet sie die Problematik heraus, die im geschlechtlich blinden Blickwinkel Agambens liegt und dass selbst seine entscheidende Kritik des Dualismus von Menschen- und BürgerInnenrechten sich nur auf den Flüchtling bezieht und nicht auf andere Ausgegrenzte wie Frauen, Arme, Schwarze und JüdInnen.

Der Sammelband erscheint ein bisschen zusammengewürfelt, die Beiträge beziehen sich wenig aufeinander und sind nur eine geringe Weiterentwicklung der Theorie. Meistens wird nur über die „zufälligen“ Arbeitsbereiche berichtet. Das scheint der Ausdruck der mangelnden Diskussion zu sein, ist aber auch ein Hinweis auf die Nichtbeziehung zu sozialen Bewegungen, wie er etwa in Lateinamerika und Italien selbstverständlich ist. Bezeichnend die Erwähnung der Diskussion in den Sozialwissenschaften (S. 307ff), was den unangenehmen Eindruck erweckt, dass sich die Diskussion auf den akademischen Bereich beschränkt.

Positiv hervorzuheben ist, dass neben der üblichen Prominenz (Antonio Negri und Paolo Virno) auch eine Reihe von Personen zu Wort kommen, die nicht unbedingt dem so genannten „postoperaistischen“ Spektrum zuzuordnen sind, wie Rosi Braidotti, Saskia Sassen, Sven Opitz oder Robert Matthies. Das gibt Aufschluss über die Breite der internationalen Diskussion. Die erwähnte Kritik des mangelnden Bezuges zu Bewegungen bezieht sich nicht auf einen Teil der feministischen Beiträge, die etwa wie die Precarias al la deriva versuchen, von konkreten sozialen Bedingungen und Beziehungen auszugehen und mit einer „militanten Untersuchung“ tatsächlich zu intervenieren, um an einer emanzipatorischen Gesellschaftsveränderung zu arbeiten. Es mag der Austragungsort der Konferenz gewesen sein, aber fast erscheint es so, als würde der „Postoperaismus“ in Deutschland fast nur in feministischen und queeren Zusammenhängen diskutiert, was aber auch eine weitere Qualität dieses Buches ausmacht. Endlich wird einmal die Dominanz des „geschlechtsneutralen männlichen“ Denkens im internationalen Postoperaismus[1] in Frage gestellt. Es muss allerdings anerkannt werden, dass dieses Buch einen neuerlichen Ansatz zur Diskussion bietet, dass sich die postoperaistischen Theorie in Zusammenhang mit den feministischen, queeren, migrantischen Bewegungen weiterentwickeln kann und damit die Perspektive zur Überwindung des kapitalistischen Systems, des Empire erweitert.

Robert Foltin


[1] Obwohl die Theorie des Postoperaismus sehr gut kompatibel mit feministischen und queeren Theorien ist, auch wenn sich die entsprechende explizite Behandlung in den Hauptarbeiten Hardts und Negris auf Fußnoten beschränkt, ist sie hauptsächlich männlich dominiert.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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