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Olaf Kaltmeier, Jens Kastner, Elisabeth Tuider (Hg): Neoliberalismus – Autonomie – Widerstand. Soziale Bewegungen in Lateinamerika.

Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot. 277 Seiten.

In dem Beitrag von Sonia E.Alvarez / Evelina Dagnino / Arturo Escobar: „Kultur und Politik in Sozialen Bewegungen Lateinamerikas“, der ein Nachdruck einer Einleitung eines Buches von 1998 ist, muss noch begründet werden, dass der Erfolg einer Sozialen Bewegung nicht nur dadurch zu beurteilen ist, welchen Widerhall er in der institutionellen Repräsentationspolitik findet, sondern auch darin, wie dominante Diskurse und ausgrenzende Praktiken destabilisiert und verändert werden können (S. 40). Auch wenn in den „Neuen Sozialen Bewegungen“ gerade in Bezug auf Feminismus oder der Schwulen- und Lesbenbewegung die außerinstitutionellen Veränderungen entscheidend waren, orientierte sich deren Perspektive auf gesetzliche und institutionelle Maßnahmen. Nach dem Aufbrechen der „Antiglobalisierungsbewegung“ und den vielfältigen Entwicklungen in Lateinamerika von den Aufständen in Ecuador, Bolivien und Argentinien bis zu den institutionellen (und anderen) Veränderungen in Venezuela und Brasilien ist es beinahe selbstverständlich, Auseinandersetzungen und Veränderungen nicht allein unter dem Blickwinkel einer staatlichen Repräsentation zu sehen. Dem wird in den Beiträgen dieses Bandes Rechnung getragen, indem in der Analyse der Herrschaftsebene auf die Gouvernementalitäts-Theorie zurückgegriffen wird, inspiriert von den Texten Michel Foucaults. Im Gegensatz zu den linken Bewegungen der 1960er und 1970er, die sich an der Macht im Staat orientierten, werden die aktuellen Bewegungen durch Kriterien erfasst, die von die Gesellschaft durchziehenden Herrschaftstechniken und Techniken des Selbst ausgehen, von der Verknüpfung von Subjektivität und Macht. Die Interpretationen der Beiträge sind unterschiedlich gewichtet, teilweise abhängig vom Erfolg der entsprechenden Bewegungen: in einem Teil geht es um die Integration von Bewegungen in herrschende Strukturen, im anderen allerdings um die Zersetzung der herrschenden Strukturen durch den Widerstand, immer ambivalent, aber immer wieder und das wird vielfach betont, über den nationalstaatlichen Rahmen hinausreichend.

Der Einleitungsbeitrag „Cultural Politics im Neoliberalismus, Widerstand und Autonomie“ (Olaf Kaltmeier / Jens Kastner / Elisabeth Tuider) zeichnet zuerst die Entwicklung der Sozialen Bewegungen nach: nachdem diese maßgeblich am Ende der lateinamerikanischen Diktaturen beteiligt gewesen waren, wurden sie zurückgedrängt, in die demokratischen Strukturen integriert, die die neoliberale Wirtschaftspolitik fortsetzten. Der Neoliberalismus gerät ab den 1990ern in eine Krise, die sich auch in den vielfältigen Sozialen Bewegungen manifestiert. In diesem Zusammenhang wird die Ambivalenz des Konzepts der Autonomie diskutiert, das in seinen grundsätzlichen Elementen (self-help, active citizenship, personal development, empowerment) auch konstitutiv für den Neoliberalismus ist. Es wird aber auch aufgezeigt, wie sehr diese Subjektivität wieder neue Widerstandsmöglichkeiten bietet, eben auch das kapitalistische Regime des Neoliberalismus krisenhaft ist. Der schon erwähnte zweite Beitrag von Alvarez / Dagnino / Escobar begründet den Wechsel des Blickwinkels in der Betrachtung Sozialer Bewegungen unter dem Einfluss der Cultural Studies, dass zur Erfassung einer Realität mehr notwendig ist als die Analyse politischer Strukturen und ökonomischer Situationen[1].

Der nächste große Abschnitt mit dem Titel „Neoliberale Herrschaftsverhältnisse“ behandelt Länder, die durch ihre spezifischen Bedingungen eher schlechte Ausgangsbedingungen für Soziale Bewegungen bieten. Bettina Reis beschreibt die Situation in Kolumbien, wo der Bürgerkrieg, besonders aber die Verwobenheit der Paramilitärs mit dem Staat die Bedingungen für autonome Bewegungen beinahe verunmöglicht. Verónica Schild beschreibt am Beispiel der chilenischen Feministinnen, wie eine starke Soziale Bewegung gegen die Diktatur in der demokratischen Phase Teil des neoliberalen Projekts wird. Die Frauen werden zu selbstregulierenden ökonomischen Akteurinnen, das empowerment führte zu einer vielfältigen Diversifizierung und dadurch zu einer Methode der Macht. Stefanie Kron beschreibt die Situation in Guatemala, wo die Bedingungen für emanzipatorische Projekte durch die beinahe totale Vernichtung des indigenen Widerstands in der ersten Hälfte der 1980er besonders schwierig sind und sich aus diesem Grund nicht einmal eine gesellschaftlich bedeutende linke Alternative herausbilden konnte.

Bei der „Ambivalenten Autonomie“ geht es im Artikel von Olaf Kaltmeier um die Bewegungen der Mapuche, einer indigenen Bevölkerung im Süden Chiles. Neben der Beschreibung ihrer Identitätsbildung und Geschichte geht es um die Widersprüchlichkeit, wenn sich indigene Bewegungen auf territoriale Einheiten beziehen. Es wird beschrieben wie die aus der Situation entstehenden Auseinandersetzungen über den Nationalstaat hinausweisen. In Bernhard Leubolds Beitrag geht es um das widersprüchliche Verhältnis der Sozialen Bewegungen zur PT („Arbeiter-Partei“) in Brasilien. Es wird aufgezeigt, wie die Institutionen Teile der Bewegungen trotz des Konzepts der partizipativen Demokratie konstitutiv für den „nationalen Wettbewerbsstaat“ machen können. Elisabeth Tuider zeichnet die Entwicklung der Frauenbewegung in Mexiko nach: diese war im Gegensatz zu den Industriestaaten immer stärker durch Unterschichten geprägt. Die Gouvernementalisierung im Zusammenhang mit dem Neoliberalismus spaltete diese in eine frauenpolitische Elite, während die indigenen und Unterschichtfrauen zu Klientinnen feministischer Programme gemacht werden. Die gegenseitige Durchdringung von Macht und Subjektivität schafft allerdings doch wieder neue Orte von Widerstand.

Im letzten Abschnitt geht es um „AkteurInnen des Widerstands“. Martina Blank zeichnet die Entwicklung des sozialen Protagonismus in Argentinien nach den Aufständen 2001/ 2002 nach, während Dario Azzellini den bolivarianischen Prozess in Venezuela als wenn auch widersprüchliche Form einer „konstituierenden Macht“ im Sinne Hardt / Negris analysiert, dessen Ausgang aber noch weitgehend offen ist. Simón Ramírez Voltaire zeichnet die Entstehung des neuen indigenen Selbstbewusstseins im Bolivien der letzten Jahre nach und sieht darin sowohl defensive (Antirassismus) wie auch konstruktive Elemente, nämlich die Konturen eines repräsentativ-partizipativen Demokratiemodells. Stefan Thimmel beschreibt die Schwäche der Sozialen Bewegungen in Uruguay, die u.a. mit der integrativen Dominanz der repräsentativen Demokratie zu tun hat. Den Abschluss bildet ein Beitrag von Jens Kastner über den Zapatismus, indem er an diesem Beispiel aufzeigt, dass aktuelle soziale Bewegungen sich unmöglich auf einen nationalen Rahmen beschränken können. Und es war gerade der Zapatismus, der als erste „postfordistische Guerilla“, eine bedeutende Anstoßfunktion für eine Reihe von Bewegungen nicht nur in Lateinamerika hatte.

Obwohl manche AutorInnen versuchen, ihre Theorien als wichtig für die „Bewegungsforschung“ zu definieren und dabei ein bisschen akademisch werden, ist dieser Band eine geglückte Auswahl über die Möglichkeiten und Grenzen Sozialer Bewegungen in Lateinamerika. Die Veränderungen durch die Vielfalt der Widerständigkeiten, Aufstände, aber auch von Linksentwicklungen, die sich von früher unterscheiden, werden plastisch dargestellt. Zugleich wird auch aufgezeigt, wie sich die Bewegungen in und gegen die neoliberale Gouvernementalität verorten.

Robert Foltin


[1] Es ist offensichtlich, dass sich der Paradigmenwechsel in der Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen durch verschiedene Theoriekonzepte ausdrücken lässt: vom Aufgreifen der Hegemonietheorie Gramscis über die ideologischen Staatsapparate Althussers und die Gouvernementalitätstheorie (die diesen Band dominiert) bis hin zu den Cultural Studies.

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