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Juliane Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz.

Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2012, 396 Seiten, Euro 16,50

Buchbesprechung von Philippe Kellermann

Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie/Ästhetik in Offenbach, bemüht sich in Die Kunst der Freiheit um eine „Apologie der Ästhetisierung“ (S.11), die sie als grundlegenden Bestandteil der Demokratie, um genauer zu sein, der repräsentativen Demokratie versteht. Der Großteil des Buches widmet sich der Diskussion der Kritik dieser Ästhetisierung bei Platon, Rousseau, Kirkegaard, Carl Schmitt und anderen. Der Rückgriff auf Platon wird damit begründet, dass die von ihr diskutierte Problemstellung keineswegs ein „neues Problem“ sei (S.13), sondern bis auf die in der Antike an der attischen Demokratie formulierte Kritik zurückreiche.

Der Grundgedanke ihrer durchaus sehr anregenden Ausführungen – vor allem wenn man sich für politische Philosophie unter dieser Fragestellung interessiert – besteht in einem nicht unbedingt atemberaubenden, aber schön aufbereiteten Gedanken: Das Subjekt ist nicht mit sich identisch, sondern in vielfältige Beziehungsgeflechte eingelassen und gerade das begründe seine Freiheit und ethische Existenz, denn: „nur weil die Einzelnen im lebendigen Austausch mit der Welt in eine Differenz zu sich selbst, und das heißt immer auch: zu ihrer jeweiligen Rolle als TeilnehmerInnen an einer sozialen Praxis geraten können, kann sich die normative Frage nach dem individuell wie sozial Guten überhaupt als Frage stellen“ (S.21). Werde diese grundsätzlich mit dem Subjekt verbundene Struktur von diesem bewusst reflektiert und bejaht, existiere man als „demokratische[s] Subjekt“ (S.363). Mit sehr viel Mühe widmet sich Rebentisch dann dem Nachweis, dass dieses „demokratische Subjekt“ weder ein opportunistischer Wendehals noch wankelmütig sei, sondern sich in der dialektischen Struktur „zwischen stets voreiliger Entscheidung und der Möglichkeit ihrer nachträglichen Reflexion und Revision“ (S.266) bewege.

All dies ist sympathisch und erscheint mir im Großen und Ganzen richtig. Umso erstaunter war ich, dass Rebentisch mit dem Dritten Teil: „Demokratie und Ästhetisierung“ zu einer erstaunlich unkritischen Affirmation der repräsentativen Demokratie ansetzt. Sie knüpft dabei an einen in der „Einleitung“ geäußerten Gedanken an (den sie auch fast wortwörtlich im Interview mit Pascal Jurt in der „Grundrisse“ vertritt): „Die Regierungsform aber, welche die Möglichkeit der Infragestellung seiner jeweiligen Bestimmungen in ihren Begriff des Guten mit aufgenommen hat, ist, bereits Platon hat das klar gesehen, die Demokratie. Sie ist die einzige Regierungsform, in der es erlaubt ist, alles öffentlich zu kritisieren, alles öffentlich infrage zu stellen – einschließlich der jeweiligen konkreten Ausgestaltungen der Demokratie selbst.“ (S.21; vgl. Rebentisch 2012: S.42) Sieht man einmal davon ab, dass sich diese Erlaubnis (Wer erlaubt da eigentlich: Eine anonyme Struktur, ein Ideal, Menschen und wenn, dann welche und mit welchem Recht?) realhistorisch immer in gewissen Grenzen bewegt hat und keineswegs grundsätzlich gewährleistet ist, könnte man jedenfalls irgendeine kritische Nachfrage in Bezug darauf erwarten, ob diese „Blitzableiter“-Funktion von Parlamentarismus und Wahlrecht (denn Rebentisch geht es eigentlich immer nur um die repräsentative Demokratie) nicht auch problematisch ist. Rebentisch scheint dies nicht sonderlich zu interessieren, eher tendiert sie zu einer erstaunlich unkritischen Haltung, darüber frohlockend, dass der „Übergang von der außerparlamentarischen in die parlamentarische Opposition“ in der Demokratie „konsequenterweise fließend“ sei und dadurch, dass „die Wahl geheim ist“, sie sich „der Kontrolle durch die jeweilige Macht“ entziehe und so „dem System insgesamt seine Zukunftsoffenheit“ sichere (S.337). Und in was für einer Wunderland-Demokratie leben wir eigentlich, wo angeblich die „Möglichkeit einer Revision der sie konkretisierenden rechtlichen und politischen Entscheidungen immer gegeben“ sei (S.263)?

In ihren Anrufungen: „wir Demokraten“ (S.56), ihrer Freude darüber, in der „Moderne“ als „der eigentlich demokratischen Epoche“ zu leben (S.87) und der „(liberal-)demokratische[n] Perspektive“ (S.218), mag sie manches über das „Selbstverständnis der liberalen Demokratien“ (S.231, vgl. S.264) erzählen, aber dies wirkt zu einem Gutteil wie eine Diskussion im platonischen Himmel der Ideen.

Interessant ist dann auch, dass Rebentisch die repräsentative Demokratie in erster Linie nicht deshalb gegenüber direktdemokratischeren Formen bevorzugt, weil „man nicht einfach das Modell der antiken Demokratie auf die Moderne übertragen“ könne (Rebentisch 2012: S.41), sondern aufgrund der Vorzüge ihrer Struktur selbst: „Das Volk kommt grundsätzlich deshalb nicht mit seinen politischen Repräsentanten zur Deckung, weil seine einzelnen Mitglieder sich nicht schlechthin mit bestimmten Plätzen, Positionen oder Rollen identifizieren lassen. Deshalb kann es eine politische Einheit, die immer eine Platzordnung impliziert, nur in der politischen Repräsentation geben. Aus demselben Grund bleibt stets die Möglichkeit bestehen, dass sich die Kriterien ändern, nach denen der Gemeinwillen bestimmt wird, nach denen also festgelegt wird, was und wer und in welcher Hinsicht für die Gemeinschaft von Bedeutung ist und was und wer und in welcher Hinsicht nicht. So nötig es ist, den Gemeinwillen zu bestimmen, weil es ohne eine solche Bestimmung – im Modus der Indifferenz – keine Gleichheit und keine Gerechtigkeit geben kann, so prinzipiell strittig bleibt doch zugleich seine Bedeutung.“ (S.331) Ich gebe gerne zu, dass ich diese Ausführungen womöglich nicht wirklich verstanden habe. Das jedenfalls, was ich zu verstehen meine, erscheint mir argumentativ äußerst schwach und keineswegs solcherart zwingend, wie Rebentisch es präsentiert. Will sie letzten Endes wirklich auf die Idee hinaus, dass das Subjekt, weil es nicht mit sich identisch ist, es dann letztlich auch egal ist, ob man sich selbst oder ein anderer mich bestimmt, bzw. repräsentiert? Warum ist es überhaupt nötig einen „Gemeinwillen“ zu bestimmen, bzw. was impliziert das genau? Wie ist das mit der „politischen Einheit“? Warum setzt die Notwendigkeit von Gemeinwillen Souveränität voraus – staatliche wohlgemerkt, denn nur davon spricht Rebentisch? Hier wären so viele (Nach-) Fragen zu stellen…

Kein Zufall jedenfalls wohl, dass Rebentisch z.B. auch nicht von dem Problem der Parteien als „bürokratisch-hierarchische[n] Strukturen“ (Castoriadis 1990: S.104) spricht, nicht von der möglichen Strukturadäquatheit von repräsentativer Demokratie und kapitalistischer Produktionsweise und so vielem anderen. Ihr sympathisches Anliegen, „eine radikale Kapitalismuskritik mit einer radikalen Totalitarismuskritik zu verbinden“ (Rebentisch 2012: S.43) – also etwas, dass z.B. der Anarchismus seit jeher für sich in Anspruch nehmen kann – wirkt recht verbal und da Institutionen in der repräsentativen Demokratie allen Beteuerungen zum Trotz nicht so richtig das Problem sein können, so dass Probleme nicht in politischen Formen, sondern im falschen Inhalt gesucht werden muss: z.B. dem „verdeckten Einfluss von Wirtschaftseliten auf die Politik“ (Rebentisch 2012: S.44). Allzu niveauvoll ist das nicht. Die von ihr anvisierte „radikale[.] Demokratietheorie“ (S.43) mag so alles mögliche sein, nur nicht radikal. Sie ist im Grunde nichts anderes als die gute alte Idee Bernsteins: „Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist (…) Das Wahlrecht der Demokratie macht seinen Inhaber virtuell zu einem Teilhaber am Gemeinwesen, und die virtuelle Teilhaberschaft muss auf die Dauer zur tatsächlichen Teilhaberschaft führen“ (Bernstein zit.n. Geras 1996: S.136).[1] Zwar erfährt man in einer Fußnote, dass es „unerträglich“ sei, „den Klassenkonflikt zur Bedingung der Möglichkeit demokratischer Gesellschaften zu machen“ (S.330) – Rebentisch eine solche Position also ablehnt –, aber wenn diese „mal unmerkliche[n], mal drastische[n], politische[n] Kämpfe um Anerkennung“ (S.138) letztlich nur auf „Platzwechsel“ (S.327) und „Perfektionierung“ (S.321) hinauslaufen, fragt man sich schon ein wenig, was das alles soll. Kann aber auch egal sein, denn irgendwie ist alles jenseits der repräsentativen Demokratie auf dem besten Weg in den Totalitarismus. Dabei ist es völlig richtig, wenn sie eine „gewisse Skepsis gegenüber der Utopie sozialer Authentizität“ hat, „weil sie auch dort, wo sie sich als demokratische versteht, latent oder manifest Züge autoritärer Vergemeinschaftung trägt.“ (Rebentisch 2012: S.42) Ich würde nur bestreiten, dass diese Idee jeder „radikal repräsentationskritischen Gesellschaftskritik“ unterliegt, wie sie meint (Ebd.). Und die ganze Polemik gegen Rousseau und die volonté generale ist zwar wichtig, aber auch irgendwie langsam ausgelutscht. Und man brauchte auch nicht den Totalitarismus – wie sie suggeriert (vgl. Rebentisch 2012: S.43) –, um das zu wissen, denn merkwürdigerweise war es der radikal repräsentationskritische Anarchist Bakunin, der über Rousseau schrieb, dass dieser „dem Anschein nach der demokratischste Schriftsteller des 18.Jahrhunderts“ sei, in ihm aber „der erbarmungslose Despotismus des Staatsmanns“ brüte (Bakunin 1871: S.108).

Was konkret aus den Ausführungen Rebentischs (leider) zu folgen scheint, ist klassische Sozialdemokratie. Nehmen wir ein Beispiel aus ihrem Interview in grundrisse 43: „In dieser Fluchtlinie wäre Occupy nicht das Modell für ein ganz anderes (authentisches) Soziales, sondern der recht buchstäbliche Platzhalter für eine Wiedergewinnung des politischen Raums, in dem Konflikte ausgetragen werden können.“ (Rebentisch 2012: S.45) So hätte ein Sozialdemokrat 1918/19 argumentiert: ‚Liebe Räte, ihr seid ganz nett als Platzhalter in den Zeiten des Verfalls der Monarchie, aber nun wählt doch bitte Eure Volksversammlung!’[2] Da sich Rebentisch darüber hinaus explizit einer „ironischen Selbstverkleinerung staatlicher Politik“ widersetzt (S.334), bleibt letztlich nur jene „Affirmation des Staates“, wie sie Karl Reitter in bestimmten Diskursen über „das Politische“ ausgemacht hat (Reitter 2013: S.5). Ist wohl auch besser so, denn es bedarf eben einfach „der Macht oder Kraft der Souveränität, die dem demos immer wieder eine politische Form, ein Gesicht gibt“, wobei diese „auf die Anerkennung eines Publikums aus potentiellen Konkurrenten angewiesen bleibt“ (S.320), was wohl kritisch gemeint sein soll. Von „Selbstregierung“ (S.84) sprechen ist eine schöne Sache, aber ihre Reaktion auf Crouchs Kritik an der Rolle von PR ExpertInnenen in modernen Wahlkämpfen: „Wären unstrukturierte Diskussionen ohne den Einfluss von Experten besser?“ (S.369), lässt aufblitzen, dass Rebentischs Begriff von Demokratie letzten Endes noch weit hinter Aristoteles und den klassischen Republikanismus zurückfällt.

P.S.: Die Größe der antiken Tragödie bestand darin – zumindest ist diese Interpretation faszinierend – einer aus freien und autonomen Polis-Bürgern zusammengesetzten Gesellschaft, die ihrer Freiheit innewohnenden Gefahren vor Augen zu führen. Selbst nicht mit Souveränität oder Befehlsgewalt ausgestattet, erfüllte sie die Funktion einer radikaldemokratischen Gesellschaft als „verbindender Geist“ zu dienen, welcher einen Staatsapparat überflüssig machte. Das moderne Theater – Rebentisch wähnt sich selbst als Teil von dessen Avantgarde – ist dagegen nur ein schlechter Witz: Zeitvertreib für Bessergestellte oder all jene, die sich für gebildet oder avantgardistisch halten. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, aber an der ein oder anderen Bemerkung Rebentischs wird deutlich, zu welch abstruser Selbstüberschätzung man zu neigen beginnt, wenn man ein gewisses, nämlich das eigene Milieu, mit der Gesellschaft verwechselt oder in seiner gesellschaftlichen Relevanz überschätzt: „Die Demokratie hingegen ist umgekehrt von der differentiellen Repräsentationslogik des Theaters geprägt“ (S.368) Dann weiterhin viel Erfolg im Berufsleben!

Literatur:

Bakunin, Michael (1871): Gott und der Staat. Berlin: Karin Kramer Verlag, 2007.

Castoriadis, Cornelius (1990): Das griechische und das moderne politische Imaginäre, in: ders. Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften. Band 4. Lich: Edition AV, 2011. S.93-121.

Geras, Norman (1996): Rosa Luxemburg. Vorkämpferin für einen emanzipatorischen Sozialismus. Köln: Neuer ISP Verlag.

Most, Johann (1888): Der Narrenturm, in: ders. Die Freie Gesellschaft. Münster: Unrast Verlag, 2006. S.123-143.

Rebentisch, Juliane (2012): Genauer Hinblicken. Gespräch mit Pascal Jurt, in: Grundrisse 43 (2012). S.40-45.

Reitter, Karl (2013): Zwischenruf zum Thema „das Politische“, in: Grundrisse 45 (2013). S.4-5.


[1] Da Bernstein zumeist negativ konnotiert wird, will ich nur anmerken, dass man meines Erachtens von Bernstein durchaus auch lernen kann – in vieler Hinsicht mehr als von Kautsky oder Lenin jedenfalls…

[2] Wozu es bekanntermaßen auch kam. Der Anarchist Johann Most beschrieb einen solchen Vorgang wie folgt: „Diese Gelegenheit, aus den Trümmern alter Herrlichkeiten neue Gewalten hervorzuzaubern, hat sich stets in dem kritischen Augenblicke ergeben, wo das Volk alle Ketten und Banden zerbrochen hatte und dabei vor seiner eigenen Freiheit verrückter Weise erschrak und deshalb geneigt war, denjenigen ein offenes Ohr zu leihen, welche von der Notwendigkeit der Errichtung einer neuen – versteht sich ‚guten’ – Regierung faselten.“ (Most 1888: S.140)

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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