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Horst Müller (Hrsg.) Norderstedt: BoD-Verlag, 2005, 305 Seiten, 22,80 Euro Das utopistische Potential des PRAXIS-Konzepts Im Zusammenhang mit der globalisierungskritischen Debatte wird zunehmend auch die Frage nach einem „Ende des Kapitalismus“ und einem möglichen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ aufgeworfen. Auf diesem aufregenden Feld der Systemanalyse und geschichtlichen Ortsbestimmung, des Projektierens einer gesellschaftlichen Alternative und der Orientierung politischer Bewegungskräfte sind auch die Beiträge des Sammelbandes „Das PRAXIS-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft“ angesiedelt. Die Beiträge im ersten Teil des „PRAXIS-Konzepts“ knüpfen an das „Novum“ des Marxschen Praxisdenkens und an die bedeutende europäische Interpretationslinie „Marxismus als Praxisphilosophie“ an, auch um methodologisches Rüstzeug für politisch-ökonomische Analysen zu gewinnen. Die eingeschlagene Denkrichtung markiert der Begriff „Utopistik“. Er stammt aus der Weltsystemtheorie, wird aber durch die Bezugnahme auf Marx sowie auf Blochs Konkrete Utopie anders geschärft. Einleitend zu alldem vermittelt „Der Bogen Feuerbach, Marx, Bloch, Bourdieu. Realismus und Modernität des Praxisdenkens“ pointierte Einblicke in dessen Entwicklungsgeschichte und Grundelemente. Es kam mit den Marxschen Feuerbachthesen in die Welt und wird hier als ein immer noch unvollendetes Wissenschaftsparadigma behandelt, das entschieden weiter entwickelt werden soll. Wichtige Bewegungszentren des Denkansatzes der Praxisphilosophie waren Leipzig und Kassel: In Leipzig wurde 1966 der Versuch unternommen und von Staats wegen abgeschmettert, Praxis als „Zentralkategorie marxistischer Philosophie überhaupt“ zu rehabilitieren. Leipzig war auch ein Ort des Wirkens von und der Auseinandersetzung um Ernst Bloch und seiner marxistischen Philosophie der Hoffnung, bis dieser 1961 nach Tübingen übersiedelte. Nun überrascht Martina Thom, zu DDR-Zeiten Direktorin des Leipziger Instituts für Philosophie, in „Das Praxis- und Wissenschaftsverständnisses von Karl Marx“ mit profunden Klärungen zu dessen Kristallisation und philosophisch-wissenschaftlichem Profil. Im Beitrag „Die Kernstruktur der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis“ von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik werden „gesellschaftliche Arbeit, gesellschaftliche Produktion und gesellschaftliche Praxis“ als unhintergehbarer Ausgangspunkt einer umfassenden Theorie der Gesellschaft und Geschichte bestimmt. Mit Bezugnahme auf philosophische Quellen, vor allem Hegel, auch mit Verweis auf Habermas’ Fehlinterpretationen, werden die Wesenszüge des neuen Denkens verdeutlicht. Damit soll zugleich auf zurückliegende Kongresse, Publikationen und Diskurse aufmerksam gemacht werden, deren Fokus „Grundlinien und Perspektiven einer Philosophie der Praxis“ bezeichnet, der Titel einer der internationalen Kasseler Tagungen in den 1980er und 1990er-Jahren. Die Schlüsselkategorie Praxis wirft insbesondere epistemologische Probleme auf. Dazu stellt Georg Quaas Untersuchungen an, die dem amerikanischen Praxisdenker G.H. Mead und Peter Ruben gelten. Diese bearbeiteten die Fragen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Mit der Diskussion der Konzepte von „gesellschaftlicher Handlung“ sowie „Arbeit“ als „werkzeugvermittelter Tätigkeit“ wird das Forschungsfeld einer „Erkenntnistheorie der Praxis“ neu eröffnet. G.H. Mead wurde hier bewusst in den praxisphilosophischen Diskurs einbezogen, auch um eine Alternative zur gängigen intersubjektivitätstheoretischen Vereinnahmung des Denkers aufzuzeigen. Schließlich kommt einer der gründlichsten Kenner im Themenkreis „Marxismus und Geschichte“ zu Wort. Helmut Fleischer bekräftigt in dem Beitrag „Geschichtlichkeit und Geschichtsdenken“ den Bezug auf eine richtig verstandene „Logik des Marxschen Geschichtsbegriffs“ und dringt weiter vor in die Feinstruktur des Geschichtsdenkens. Es geht um ein „Begreifen der Praxis“ für die in einer konkreten Situation Involvierten. Solche fundamentalen Dispositionen der Bewussthabe von gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeit sind im geschichts-verleugnenden neoliberalen Denken abhanden gekommen. Die genannten Artikel und ihre Quellenhinweise können den marxistisch-philosophischen Diskurs, die Forschung zu den Konstitutionsfragen gesellschaftlicher Wirklichkeit und zu einer fundierten Praxiswissenschaftlichkeit neu anstoßen. Es geht um eine breiter ansetzende und weiter gehende Konkretisierung des philosophisch-wissenschaftlichen und methodologischen Paradigmas einer Philosophie und einer Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis. Eine solche „Konkrete Praxisphilosophie“ für unsere Zeit ist erkennbar etwas anderes als nur eine soziologische „Praxistheorie“. Sie wird als definitive Überschreitung aller nur kritischen Kritik und nurmehr „abstrakten Negation“ anvisiert. Auf die im ersten Teil angestrebten Klärungen folgen drei Texte, die direkt in die Situation an der Wende zum 21. Jahrhundert hineinführen: Wolfdietrich Schmied-Kowarziks neun Thesen zu „Marx als Denker im Zeitalter des Post-Kommunismus“ gehen auf einen Vortrag am XXI. Weltkongress für Philosophie 2003 in Istanbul zurück. Sie zeigen die brennende Aktualität des mit Marx in die Welt gekommenen „Projekts eines menschlichen Menschseins“ in Gesellschaft und Natur prägnant auf. Ein zweiter Beitrag von Helmut Fleischer lautet „Sozialmobilisationen und Krisenprospekte“. Fleischer wirft, auch aus lebensgeschichtlicher Teilhabe, einen Blick auf die „Zivilisationsdynamik“ des 20. Jahrhunderts und zieht daraus, einmal anders als viele kapital- und krisentheoretische Analysen zur „neoliberalen Globalisierung“, deutlich zurückhaltendere und skeptischere Folgerungen im Hinblick auf Entwicklungsmöglichkeiten der „modern-bürgerlichen Gesellschaft“. Auf deren oder vielmehr auf unsere eigene reale Problemlage und Aufgabenstellung dringt schließlich der hier wieder abgedruckte, einschlagende Aufsatz von Pierre Bourdieu: „Neo-Liberalismus als konservative Restauration. Das Elend der Welt, der Skandal der Arbeitslosigkeit und eine Erinnerung an die Sozialutopie Ernst Blochs“. Die deutsche Renommiersoziologie wirkt unzureichend fundiert und angepasst gegen den allzu früh verstorbenen europäischen Geist, der in der Entfaltung seiner „Theorie der Praxis“ zu der unmissverständlichen Konsequenz fand: „Es ist höchste Zeit, die Voraussetzungen für den kollektiven Entwurf einer sozialen Utopie zu schaffen“. In diesem Sinne wenden sich die Beiträge im letzten Hauptteil des „PRAXIS-Konzepts“ den politisch-ökonomischen Basis- und Zukunftsfragen zu. Dabei wird die Frage nach einer „postkapitalistischen Wirtschaftsverfassung“ als die heute prioritäre Frage der Wissenschaft der politischen Ökonomie bestimmt. Zunächst recherchiert Horst Müller in der Studie „Zur Neuordnung des theoretischen Feldes der politischen Ökonomie“ zur bisherigen „Suche nach einer Alternative“. Diese währt vom ersten Kapitel des Marxschen „Kapitals“ über die vormaligen Debatten zu Markt- und Planwirtschaft bis zu gegenwärtigen Versuchen zur Visierung zukünftiger Entwicklungen auf Grundlage der utopisch gehemmten Kapitaltheorie. Eine neue und provokative Perspektive eröffnet sich nun mit der These, dass die Marxsche und seither fortgeschriebene Konzeptualisierung der industriewirtschaftlichen Warenproduktion als „Totalität“ von vornherein die Identifizierung einer Systemalternative verunmöglicht hat: Auch aufgrund veränderter wirtschaftsgeschichtlicher Gegebenheiten ist dazu eine erweiterte Modellierung der Organisation der gesellschaftlichen Gesamtarbeit notwendig. Diese muss in den Zusammenhang eines weiter entwickelten praxis- und transformationstheoretischen Ansatzes gestellt werden. Eine solche Überschreitung der „Kritik“ durch eine „Utopistik der politischen Ökonomie“ kann nur gelingen, wenn sie in wert- und reproduktionstheoretischen Untersuchungen und realen gesamtökonomischen Szenarien fundiert ist: Das grundsätzlich Unzureichende der heute zahlreich sprudelnden Alternativ-Ideen ist damit auf den Punkt gebracht. In die schwierige Materie führt der Beitrag „Wertrechnung und Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“ von Georg Quaas ein. Solche Klärungen erscheinen notwendig, auch um zukünftig weiter mit wert-theoretischen Kategorien in Bezug auf das empirisch-statistische Gefüge des Wirtschaftsgeschehens analysieren und argumentieren zu können. Mit dem nächsten Beitrag, „Werttheoretische Überlegungen im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang“, geht Wolfgang Hoss schließlich über die rote Linie wirtschaftswissenschaftlicher Re-Konstruktionsarbeit hinaus und sucht den werttheoretischen Schlüssel für einen „Übergang zur Non-Profit-Wirtschaft“. Die Schnittmenge zwischen dem Beitrag von Wolfgang Hoss und dem nachfolgenden, abschließenden Beitrag liegt in der Auffassung, dass die in den modernen Gesellschaften entfaltete Dimension sozialwirtschaftlicher Produktionen und die ökonomischen Funktionen des modernen Staates eine grundsätzlich neue Konfiguration des Reproduktionsprozesses bedeuten. So wären etwa auch traditionelle Deutungen der Phase des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus unzureichend. Die neue Konfiguration muss dann aber auch theoretisch als solche gefasst werden. Horst Müller geht daran, im Hinblick auf den theoretisch konzeptualisierten Raum eines vollen Praxisformwechsels, die Funktionsweise einer „Sozialwirtschaft als Systemalternative“ zu fassen. Aus den wert- und reproduktionstheoretischen Überlegungen werden Schlussfolgerungen hinsichtlich einer Reproduktions‑, Eigentums‑ und Gesellschaftsverfassung der Zukunft gezogen. Das Konzept orientiert sich in Richtung einer „Emanzipation der sozialwirtschaftlichen Dienste“ als „andere Hälfte der Wirtschaft“ und lässt so in den gegenwärtigen Unruhen und Streiks im sozialen und öffentlichen Bereich, in den Kämpfen gegen neoliberale Privatisierungen einen strategischen Sinn erkennen. "Emanzipation" bedeutet deren Entfaltung als ökonomische Form und als Wirtschaftsabteilung und damit auch eine grundsätzliche Lösung des Problems der kapitalwirtschaftlichen Massenarbeitslosigkeit. Die Reproduktionsanalyse erklärt die Staatsverschuldung, die das Gemeinwesen ruiniert, wesentlich aus der nicht-paritätischen Organisation zwischen den heutigen ökonomischen Hauptabteilungen der industriellen Warenproduktion und der sozialwirtschaftlichen Dienste: Ein fundamentaler Konstruktionsmangel der Kapitalwirtschaft, der durch keine keynesianisch-reformistische Politik mehr abgefangen werden kann, sondern die Initialisierung einer veränderten Reproduktionsordnung herausfordert. Über den Staat, das heißt über die Steuern und die Haushalte eines ganzen Ensembles gesellschaftlicher Organe, kann ein Werttransfer, jetzt maßgeblich aus dem Kapitalstock des warenproduzierenden Bereichs, hin zu den sozialen und infrastrukturellen Produktionen organisiert werden. Er verwandelt sich von da einerseits in eine effektive Nachfrage, welche das wirtschaftliche Gleichgewicht herstellt. Zugleich kommen die sozialwirtschaftlichen Produktionen in dieser Konstellation als gesamtökonomische und gesellschaftlich-zivilisatorische Vorleistung und gesellschaftliches Emanzipationsfeld zur Geltung. Der systemisch-historische Bruch besteht darin, dass an die Stelle des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, an die Stelle des Verwertungs‑ und Wachstumszwangs, eine paritätische, gleichgewichtige, wenn man so will „äquivalenzökonomische“ Selbstorganisation zweier Hände der gesellschaftlichen Arbeit tritt. Diesen sind genossenschaftlich-gemeinnützige Eigentumsformen und Betriebsverfassungen angemessen, während der Gesamtzusammenhang durch demokratische wirtschaftsgesellschaftliche Organe vermittelt und dabei wesentlich durch deren Haushalts-Entscheidungen gesteuert werden kann und muss. Die kommunale und regionale Ebene spielt dann eine ganz neue Rolle als Basiseinheit der gesellschaftlichen Praxis. Auf der Grundlage einer solchen „demokratischen Wirtschaftsgesellschaft“, die von einem nicht mehr auf Kapitalverwertung und Ressourcenplünderung programmierten, neuen Kalkül in Sinne einer „Ökonomie der Zeit“ beseelt ist, ist auch eine „De-Globalisierung“ vorstellbar. Dies in dem Sinne, dass der deformierende und aggressive kapitalwirtschaftliche Export‑ und Expansionszwang seine Macht verliert und somit der internationale Wirtschaftsverkehr und die intergesellschaftlichen Beziehungen auf die Grundlage von Gegenseitigkeit und Partnerschaft zu stehen kommen. Mit dem skizzierten praxistheoretischen Entwurf wird die traditionelle, sozusagen lineare Geschichtsprozessordnung von Systemkrise, politischer Umwälzung und gesellschaftlicher Neugründung verlassen: Die neue Reproduktionsordnung stellt bereits innerhalb der gegebenen Formation eine wirkkräftige Realität in Latenz dar und kann in Akten der Geburtshilfe, im Verlauf einer historischen Transformationsperiode, möglicherweise zur Welt gebracht werden. Bewusstes gesellschaftliches Handeln in diesem Sinne kann sich aber nicht auf innere Krisen oder „äußere Anstöße“ verlassen. Es erfordert, dass das Neue als solches in eminent wissenschaftlicher, kollektiver Anstrengung identifiziert wird. Die „Theorie der Sozialwirtschaft“ will ein vorerst „prototheoretisch“ formulierter Beitrag dazu sein. Horst Müller
Weitere Informationen:
www.praxisphilosophie.de/prxpublik.htm |
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