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Étienne Balibar, „Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen“

Hamburg: Hamburger Edition, 2003, 290 Seiten 25,80 Euro.

„Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt.“ Walter Benjamin

Étienne Balibar, in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Mitverfasser von Louis Althussers bahnbrechender Studie „Lire le capital“ (Das Kapital lesen) und Autor so mancher linker „Pflichtlektüre“ (wie etwa „Die Grenzen der Demokratie“ oder der gemeinsam mit dem Weltsystemanalytiker Immanuel Wallerstein verfaßte Band „Rasse – Klasse – Nation“) ist bedauernswerter Weise dort angekommen, wo andere ehemals marxistische TheoretikerInnen bereits lange von ihm Position bezogen haben: im akademisch-humanistischen Verfassungsbogen.

Einst galt es als Verdienst des strukturalen Marxismus, staatliche und andere „Überbau-“Verhältnisse in ihrer „relativen Autonomie“ zu begreifen und deren theoretische Analyse einer mehr oder weniger plumpen „Widerspiegelungstheorie“ entgegenzusetzen. Nahezu sämtliche im vorliegenden Band zusammengetragenen Essays bzw. Vorträge bezeugen jedoch die Gefahr einer Hypostasierung strukturalistischer Methodenansätze: ade Determinierung „in letzter Instanz“ (Engels) durch die ökonomischen Verhältnisse, auf Wiedersehen Klassenkampf, arreviderci Staats- und Rechtskritik. Durch die dekonstrivistische Hintertüre aber kehrt die „neue“ „letzte Instanz“ zurück: „Die Politik“, und mit der ist bekanntlich notwendig Staat zu machen. Vor allem in ihrer unkritischen, bürgerlichen Form von Balibar affimiert, ist „sie“ nicht in der Lage eine emanzipative Alternative zur „juristischen Ebene“ kapitalistischer Vergesellschaftung darzustellen.

Die Texte in „Sind wir Bürger Europas?“ bearbeiten die zentralen Felder der sich vor unseren Augen abspielenden Veränderungen des Terrains der Politik. Im seinen deskriptiven Momenten zeigt Balibar dabei durchaus gelungen die komplexen Verstrickungen dieser Prozesse auf. In Anlehnung an die Weltsystemanalyse Wallersteins werden die zentralen politischen Problematiken der postfordistisch-neoliberalen Transformation überaus differenziert in den Blick genommen: Das Ende der Nationen, die Auflösung stabiler sozialer Identitäten, die Gewaltförmigkeit von Grenzen oder aber der Zerfall des Souveränitätsprinzips. Neue Begriffe wie jener der „europäischen Apartheid“ bieten sich als vielversprechende Werkzeuge zur Analyse postmoderner rassistischer Ausgrenzungsfiguren an.

Der Vortrag „Eine Bürgschaft ohne Gemeinschaft“ behandelt aus einem eher philosophischen Blickwinkel das Spannungsverhältnis von Differenz und Allgemeinheit, Gemeinschaft und Bürgerschaft und setzt sich (im Unterschied zu manch anderem Text im Buch) äußerst erfrischend mit verschiedenen aktuellen Positionen zur Thematik auseinander. Ebenfalls spannend lesen sich die Ausführungen zur Souveränität (als die politische Konfiguration der Moderne) und ihren Begrenzungen. Eine Theoretisierung der Transformation von Souveränität ist nach wie vor unumgänglich, um nicht (wie letztlich der Leninismus) Emanzipation als Machtübernahme, was letztlich nichts anderes als Elitentausch bedeutet, zu denken. So kann eine emanzipative Perspektive heute sowohl aus Gründen historischer Erfahrung (Stalinismus, Scheitern nationaler Befreiungsbewegungen) als auch aufgrund einer unmöglich gewordenen Umkehrung historischer Prozesse (die ja die ohnedies nie vollständig einlösbare Möglichkeit von Souveränität zunehmend zerstören) nur jenseits des Prinzips Souveränität und deren Stiefschwester, der Repräsentation, gedacht werden. Dies sieht auch Balibar, wenn er „in der Krise der Souveränität weniger ein Ende als vielmehr ein[en] Anfang oder eine unvorhersehbare Veränderung“ (S. 252) angekündigt sieht.

Die Geister die ich rief ...

Dennoch schleichen sich die - bereits durch den Titel hervorgerufenen – Befürchtungen im Laufe der Lektüre zunehmend häufiger und in ansteigender Intensität ein: Balibar verdeutlicht zwar die Probleme, die bei der Übersetzung französischer Begriffe (er verweist an dieser Stelle auf die Marxsche Unterscheidung von „öffentlichem“ citoyen und „privatem“ bourgeois in andere Sprachen auftreten (in unserem Fall der bereits aus dem Titel bekannte „Bürger“), es bleibt aber auch eingedenk der Marxschen Differenzierung ein problematischer Rest zurück, welcher in Balibars Texten zu einem zentralen Problem wird: Citoyen und bourgeois sind im Kapitalismus so notwendig voneinander getrennt, wie sie notwendig beides zugleich sein müssen. Balibar hingegen bedient sich rücksichtslos beim Ersteren alleine. Die neu zu entwerfende StaatsbürgerInnenschaft verläßt somit nicht den – obgleich spannungsgeladenen - Raum der Menschenrechte, auf welche sich Balibar auch ungebrochen affirmativ bezieht.

Der radikale Gehalt der Marxschen Kritik geht somit weitgehend verloren und wir finden uns schnurstracks auf den eigentlich zu dekonstruierenden Terrain von Repräsentation, Souveränität, Grenze, Recht, Staat und natürlich Kapital wieder. Nur halt nicht ganz so undurchlässig und mit mehr MITsprache der Betroffenen. Es geht Balibar um „die Demokratisierung der Grenzen – nicht zu verwechseln mit ihrer vollständigen Öffnung oder Überwindung, die nur zur Ausweitung eines Raubtierkapitalismus führen würde [...]“ (S. 285 f., Hervorhebung im Original). Selbst die Hypostasierung der Zivilgesellschaft vom Terrain sozialer Auseinandersetzungen zum selbstbewußten Subjekt bleibt der Leserin nicht erspart, wenn Balibar an die „Errichtung einer neuen geschichtlichen Hegemonie“ „glaubt“ (S. 280). Diese wird noch dazu fälschlicher Weise mit Gramscis Begriff des Bewegungskrieges in Verbindung gebracht, wo es sich doch um den Stellungskrieg handeln sollte (ebd.).

Trotz mehrfachem Bezug auf die Methode der Dekonstruktion findet diese nur auf einer oberflächlichen Ebene statt. Dass das theoretisch, aber auch praktisch zu dekonstruierende nicht der Kapitalismus als Verhältnis von Verhältnissen ist, stellt Balibar klar, wenn er in einer Art Etappentheorie seine Entwürfe einer demokratischen Staatsbürgerschaft (wo sind bloß die Bürgerinnen hingekommen?) als erst zu leistende Voraussetzung für erfolgreiche Klassenkämpfe  konstruiert. Als ob soziale Auseinandersetzungen nicht quer und in Bezug zu den verschiedensten Herrschaftsformen existieren würden. Gerade die globale Protestbewegung bemerkt den kaum vorhandenen Spielraum reformerischer Interventionen und brachte damit die Kritik am Kapitalismus „als solchen“ wieder zurück auf die Agenda. Die Vorschläge Balibars hingegen verbleiben im kapitalistischen Rahmen, und selbst die interessantesten Ansätze - wie die Konstitution transnationaler politischer Subjekte - bleiben stets eingebettet in Formen avancierter Politikberatung. Wenn so zum Beispiel eine neue „Politik der Zivilität“ sowohl den Staat als auch „Revolte und Aufstand [...] zivilisieren“ (S. 186) soll, ist dies  neuer Wein in alten, porösen Schläuchen. Bereits Bruno Kreisky beschwor in den 70er Jahren die „Durchflutung aller gesellschaftlichen Bereiche mit Demokratie“. „Zivilisiert“ wurden tatsächlich lediglich „Revolte und Aufstand“, welche in populistische Stimmen transferiert den zivilisierenden liberalen DemokratInnen alsbald die Sorgenfalten auf die Stirnen treiben sollten.

„Ethik des Bruchs“ (Gramsci) statt europäischer Verfassung

Heute begeben sich die zunehmend wirkungslosen Versuche progressiver reformerischer Artikulationsstrategien auf das dünne Eis der „Europäischen Verfassung“. Auch Balibars Texte sind als derartige Beiträge zu lesen; und wieder wird er die Geister, die er rief, nicht los: eine wie auch immer demokratische und offene Europäische Union braucht ihr Anderes, ihr Nicht-Europa. Anstatt aus der Perspektive der Widerstände (die ja wie am Beispiel der „sans papiers“ ersichtlich, in Balibars Theorien nicht abwesend sind) gegen Herrschaft und Ausgrenzung zur Diskussion politischer Strategien zu gelangen, kann die auf dem Klappentext versprochene Verlagerung der europäischen Verfassungsdiskussion „von der juristischen Ebene auf das Terrain der Politik“ nur innerhalb eines verrechtlichten Raumes gedacht werden. Dagegen müsste eine Theoretisierung von Recht UND Politik, will sie nicht hinter Marx zurückfallen, ihre relative Eigengesetzlichkeit im Kapitalismus ernst nehmen und vor deren unhintergehbaren Hintergrund (aber auch vor dem der real existierenden sozialen Kämpfe) versuchen, Perspektiven im Sinne Walter Benjamins zu entwickeln: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der „Ausnahmezustand“, in den wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen [...]“1

Von diesem ausgehend können und werden künftige Regeln und Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens entspringen, jenseits von europäischen Verfassungen, Menschenrechten, Staat und Kapital.

Martin Birkner


1 Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen, in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse, Frankfurt a.M. 1965, S. 78-94, hier 84.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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