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Jürgen Behre, „Volkssouveränität und Demokratie. Zur Kritik staatszentrierter Demokratievorstellungen“

Hamburg: VSA-Verlag 2004, 246 Seiten, 17 Euro

Dass der Staat kein Mittel für Emanzipation und gesellschaftliche Transformation sein kann, war innerhalb der linken Debatte zumeist unumstritten. Ebenso, dass Demokratie keineswegs mit dem System der repräsentativen Demokratie gleichzusetzen ist. Zugleich wurden in der linken Diskussion oftmals sehr verkürzte und unzureichende Bestimmungen des Staates mitgeschleppt, etwa, dass der Staat einfach ein Werkzeug der herrschenden Klasse, oder dass der Staatapparat nichts anderes als der geschäftsführende Ausschuss der Bourgeoisie sei. Aber mit dem Bild vom Staat als Werkzeug wurden auch sehr problematische Schlußfolgerungen begründet: Warum der Bourgeoisie dieses Werkzeug – sei es durch Wahlsiege, sei es durch Machtergreifung – nicht aus der Hand nehmen und es für eine gute Sache einsetzen? Und wenn schon die vollständige Übernahme der Staatmacht aktuell unmöglich sei, so gelte es doch den Einfluss zu vergrößern…

Dagegen ist positiv zu vermerken, dass aktuell die Diskussion über diese höchst unzulängliche Staatsbetrachtung bereits weit hinaus ist. Immer öfter wird die Form der Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft selbst als Problem und Hindernis für Emanzipation erkannt und ebenso der strikte Gegensatz von Demokratie und Parlamentarismus herausgearbeitet. In diesem Sinne und aus dieser Perspektive hat Jürgen Behre ein sehr informierendes Buch geschrieben. Sein Erkenntnisinteresse formuliert der Autor folgendermaßen: Im Gegensatz zu staatszentrierten Konzeptionen „..wird hier mit Marx die These vertreten, dass Staatlichkeit und selbstbestimmte, demokratische Verhältnisse einander ausschließen…“ (7) Behre schlägt dazu einen weiten Bogen von den frühbürgerlichen Staatstheorien über Hobbes, Locke, Rousseau bis zu Kant, Hegel und Habermas. Im letzten, entscheidenden Abschnitt rezipiert Behre die Auffassung von Marx, wobei er vor allem zwei frühe Schriften besonders genau analysiert, und zwar die „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ einerseits und die kurze, jedoch sehr wichtige Schrift „Zur Judenfrage“ andererseits. Auch ich meine, dass Marx gerade in diesen beiden genannten Arbeiten in der Staat- und Demokratiefrage eine Klarheit und Dichte erreicht, die in späteren Werken so nicht mehr zu finden sind. Anders gesagt, zu Recht rekonstruiert der Autor den Marxschen Staats- und Demokratiebegriff anhand dieser frühen Texte. Seinem Resümee kann ich voll und ganz zustimmen: „Somit zeigt sich bei Marx, daß Demokratisierung als Bewegung der Aufhebung des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft und damit der kapitalistischen Produktionsweise gedacht ist.“ (223)

Das Buch zeichnet sich nicht nur durch sehr klare Darstellung aus, Behre bezieht auch die themenrelevanten Beträge aus der deutschen Debatte, insbesondere zu Hegel, Kant und Habermas ein. So gesehen informiert dieses Buch auch über den Stand der Diskussion. Volkssouveränität und Demokratie ist also keine rasch hingeschriebene Polemik, sondern eine sehr genau ausgearbeitete, sehr detailreiche Darstellung.

Wie zu vermuten, folgt nun das unvermeidliche „Aber“: Die Rolle Kants in dieser Frage bleibt irgendwie offen und in Schwebe. Vorwegnehmend als eine Art Relativierung meiner kritischen Anmerkung sei gesagt, dass etwa auch bei Hardt und Negri Kant weitgehend aus der Schußlinie genommen wird, ganz im Gegensatz zu Hegel, versteht sich. Hegel, das arbeitet Behre klar heraus, stellt den Staat unmissverständlich über die Souveränität der Menge: „Inhaltlich versucht Hegel die Vermittlung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat durch die Form einer konstitutionellen Monarchie zu leisten, die einen deutlichen Rückfall hinter Kants politische Idee einer demokratischen Selbstbestimmung darstellt.“ (132f) Auch Habermas, so Behre, schränkt im Gegensatz zu Kant Demokratie und Souveränität unzulässig ein: „Wie der Exkurs zeigt, fällt er [Habermas] jedoch zum Teil hinter Kants Position zurück und begrenzt letztlich Demokratie auf die Zivilgesellschaft, da für ihn die staatliche Administration und die ökonomischen Beziehungen der Gesellschaft prinzipiell nicht demokratisierbar sind.“ (221) So weit, so gut. Aber wie steht es mit dem Verhältnis von Marx zu Kant, wie ist Kants politische Philosophie letztlich einzuschätzen? Dass Marx über Kant hinausgeht, daran lässt der Autor keinen Zweifel. Kant, so Behre, bleibe einem staatlichen Prinzip verhaftet: „Denn Kants Republik ist staatlich verfaßt.“ (167) Aber wäre es möglich, das Kantsche Denken konsequent weiterzuführen, oder ist die Kantsche Konzeption nicht von Haus aus zum Scheitern verurteilt? „Als Verfassungsprinzipien des politischen Gemeinwesens bestimmte Kant Freiheit und Gleichheit, die bei ihm als Einheit begriffen sind, schloß jedoch mit dem dritten Verfassungsprinzip der Selbständigkeit die Eigentumslosen von der politischen Gesetzgebung aus.“ (221) schreibt Behre. Würden wir die Kantsche Konzeption um diesen dritten Punkt erweitern, wäre dann durch diese Transformation Kant ein eindeutiger Kritiker von Staatlichkeit? Behre bezieht sich sehr stark auf Ingeborg Maus, die uns Kant als Theoretiker der uneingeschränkten Volkssouveränität vorstellt, und insbesondere den Slogan „Das Volk sind wir“, der immer wieder während der Revolte gegen das Regime in der ehemaligen DDR formuliert wurde, in unmittelbare Beziehung zum Kantschen Denken setzt.

Da Behre jedoch auch im Abschnitt zu Kant alle Aussagen und Positionen mit exakten Zitaten belegt, bildet sein Buch auch bezüglich der Kantschen Philosophie eine ausgezeichnete Grundlage für weitergehende Diskussionen und Debatten.

Karl Reitter

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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