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Anton Pam: China in Aufruhr Soziale Kämpfe im chinesischen Modernisierungsprozess Erschienen in: fantomas – magazin für linke debatte und praxis, Nr. 8, Winter 05/06 Wenn der chinesische Drache faucht, wird Europa zittern, wusste schon Napoleon. In den letzten Jahren wurde China zum Mekka des internationalen Kapitals und zum „Motor der Weltwirtschaft“. Die Berichte in den Wirtschaftszeitungen schwanken zwischen neidischer Faszination vom „Markt der Zukunft“ bis zur Bedrohung Europas durch chinesische Billigwaren. Trotz welthistorischem Wirtschaftswachstum ist China nicht so stabil, wie es dem Besucher in den Boom-Metropolen Peking oder Shanghai scheint. Lokale Bauernunruhen, Streiks und „subversive“ Aktivitäten von mysteriösen religiösen Gruppierungen breiten sich landesweit aus. 2003 soll es zu 58000 solcher „Zwischenfälle“ gekommen sein, an denen laut „Asia Times“ 3 Millionen Menschen teilnahmen. Über Hintergründe und Charakter der Zwischenfälle informiert Anton Pam. Eines der brennendsten Probleme Chinas ist immer noch die Bauernfrage. Die rasante Urbanisierung hat die Agrarbevölkerung in nur 20 Jahren um 20 Prozent reduziert. Trotzdem leben immer noch über 60 Prozent der Chinesen auf dem Land. In anderen Worten: Fast jeder dritte Dorfbewohner auf der Welt ist Chinese! Doch von der Landwirtschaft können die Menschen immer weniger leben. So gehen die jungen Frauen und Männer aus den Provinzen des Hinterlandes fast alle in die Städte zum Arbeiten und kommen nur zum Frühlingsfest, dem chinesischen Neujahr, nach Hause. Die Proletarisierung von Abermillionen chinesischen Bauern in einer Dekade bezeichnete der britische Historiker Hobsbawn als die größte Umwälzung von Klassenverhältnissen seit der Jungsteinzeit. Die Zahl dieser Wanderarbeiter wird auf 100 bis 200 Millionen geschätzt. Prekäre Stabilität und ihre Grenzen Dass die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) bisher nicht zusammengebrochen ist, hängt nicht zuletzt mit dem immer noch relativ egalitären Agrarsystem zusammen, einem weltweit einmaligen „Bauernsozialismus“. Jeder chinesische Bauer bekommt von der Dorfregierung ca. 1 Mu (1/15 Hektar) Land zugeteilt und besitzt dafür das Nutzungsrecht. Der Staat behält aber das Eigentumsrecht. Dieses Stückchen Land ist die „Lebensversicherung“ gegen Hunger. Fast alle Bauern, die in der Stadt als Tagelöhner arbeiten, lassen die Alten und Kinder zu Hause das Feld bestellen. Das egalitäre Agrarsystem ist ein Produkt der Reformpolitik der 80er Jahre, deren Wegbereiter als auch Gewinner die Bauern waren. Spontan lösten sie ab 1978 gerade in armen Regionen wie in den Provinzen Henan und Anhui die Volkskommunen auf und verteilten das staatliche Land unter den Familien. Es dauerte bis 1982, dass sich der Reformflügel der Partei um Deng Xiaoping diese Politik auf die eigenen Fahnen schrieb, der 1978 diese Maßnahmen noch als „antisozialistisch“ verurteilt hatte. Die Partei legalisierte die Familienwirtschaft auf staatlichem Boden und befreite die Bauern vom staatlichen Zwangsaufkauf von Getreide zu extrem niedrigen Preisen. Nach den erfolgreichen Agrarreformen dehnte die KPCh die Marktwirtschaft schrittweise auf die anderen Bereiche der Gesellschaft aus. Durch das Bevölkerungswachstum, die hohe Steuerlast und die heute niedrigen Marktpreise für Getreide stößt dieser „Bauernsozialismus“ an seine Grenzen. Das Thema „Last der Bauern“ ist ein Dauerbrenner in den chinesischen Medien und Wissenschaft. Die chinesische Regierung hat in den letzten Jahren schon über dreißig Beschlüsse gefasst, um die Last zu verringern und die willkürliche Verhängung von Geldstrafen zu stoppen- bisher ohne Erfolg. In China existiert kein modernes Steuersystem mit dem der Staat einen finanziellen Ausgleich zwischen der boomenden Ostküste und den armen Provinzen am Gelben Fluss und im Westen durchführen könnte. Die Last der Bauern wird von Jahr zu Jahr erdrückender, weil sich die Dorfbürokratie und die Schulen nach der extremen Dezentralisierung staatlicher Aufgaben selbst finanzieren müssen. So bleibt einer Regierung eines armen Dorfes oft nichts anderes übrig, als die Gehälter der Kader und Lehrer komplett von den Bauern bezahlen zu lassen. Durch die „Vetterwirtschaft“ hat sich die Bürokratie trotz Reduzierung der staatlichen Aufgaben immens ausgedehnt. Wer die Bauern gewinnt, gewinnt China Lokale Bauernruhen entzünden sich meist an der Bodenfrage. Für Staudämme oder Industrieprojekte beschlagnahmen Kader das Land der Bauern, die es für 30 Jahre zur Pacht vom Staat bekommen haben. Häufig werden die vom Gesetz vorgesehenen Entschädigungen nicht bezahlt. Die Bauern rebellieren dann gegen diesen „Landraub“. Die neue chinesische Regierung unter Hu Jintao und Wen Jiabao ist sich der Brisanz des Problems bewusst. Der Ausspruch Maos, „wer die Bauern gewinnt, gewinnt China“ wird häufig zitiert. Berge von neuer Literatur zu den Problemen der Bauern, Dörfer und der Landwirtschaft zeugen von dieser Aufmerksamkeit. Die Agrarsteuer wurden den Bauern nun erlassen. Ob dies allerdings zur Verringerung der Last führt, ist fraglich, da die Dorfregierungen oft keine andere Wahl haben, als stärker auf andere Abgaben zurückzugreifen. Auf dem letzten Parteitag der KPCh wurde angekündigt, die Nutzungsrechte der Bauern besser zu schützen. Zu einem generellen Politikwechsel, um die staatlichen Ressourcen stärker auf dem Land einzusetzen, ist die Zentrale in Beijing nicht bereit. Zwei Beispiele: Der Anteil von Gesundheit und Bildung bei den Staatsausgaben liegt weit unter dem der 80er Jahre. Das bekommen vor allem die Bauern zu spüren. 2003 hatten nur 10 Prozent eine Krankenversicherung (in den Städten waren es 19,5 Prozent). Nach dem Zusammenbruch des kollektiven Gesundheitssystems durch die Auflösung der Volkskommunen und Dezentralisierung bedeutet dies ein hohes Armutsrisiko im Krankheitsfall und den Aufstieg von Wunderheilern und „Sekten“, die Kranken Heilung versprechen. Trotz der gesetzlich garantierten kostenlosen neun Pflichtschuljahre steigt die Zahl der Schulabbrecher auf den Dörfern, weil ohne „illegale“ Schulgebühren die Gehälter der Lehrer nicht ausgezahlt werden könnten. Soziale Apartheid in Chinas Städten Verlassen die Bauern ihre Dörfer, so kommt zu der sozialen Benachteiligung noch die staatliche Diskriminierung hinzu – ein Erbe von Mao Zedongs Sozialismusmodell. Über zwanzig Jahre, von 1961 bis Mitte der 80er, verhinderte die KP jede Urbanisierung der Gesellschaft. Die Partei fesselte die Bauern mit Hilfe eines Pass-Systems (Hukou) an die Scholle und die Arbeiter an ihren Betrieb. Von 1949 bis 1978 veränderte sich das Verhältnis zwischen Stadt und Land, sowie zwischen Arbeitern und Bauern kaum. Mit der Entwicklung des Marktes und der faktischen Lockerung des Hukou-Systems in den 90er Jahren ist die Trennung zwischen städtischer und ländlicher Gesellschaft erdrutschartig zusammengebrochen. Einige Diskriminierungen bleiben aber bestehen: Wer den Bauern-Hukou oder den einer anderen Stadt hat, kann sich z.B. in Peking nicht langfristig niederlassen, seine Kinder können weder einen Kindergarten noch eine Schule besuchen, es ist unmöglich einen Arbeitsplatz in einer staatlichen Arbeitseinheit mit Sozialleistungen zu bekommen. Ein Bauernkind aus den Provinzen Henan oder Shanxi muss bei der nationalen Aufnahmeprüfung zu den Universitäten eine bessere Note als ein Kind aus Peking haben, um eine schlechtere Uni besuchen zu können. Nicht wenige Städter, auch die Staatsarbeiter, sind gegen die Abschaffung des Hukou, da sie die Konkurrenz aus dem Dorf und den Anstieg der Kriminalität fürchten. Aber trotz des Hukou-Systems wachsen die Städte rasant an. In Beijing und Shanghai halten sich Millionen Menschen unregistriert auf. Die Wanderarbeiter nehmen schlechte Arbeitsbedingungen sowie Diskriminierung meistens hin, weil sie in den Städten das Vielfache verdienen wie als Bauern. Von ihren Transferleistungen können die Familien zu Hause finanziert werden. Da die Mehrheit von ihnen keinen Arbeitsvertrag besitzt, werden sie leicht Opfer von Betrug. Staatsarbeiterschaft vor dem Bankrott Die Kernbelegschaften der Staatsindustrie sind die Hauptverlierer des Wirtschaftsbooms der letzten Jahre. Lange Zeit wurden sie von der Partei verschont. Im Gegensatz zur „Schocktherapie“ in Russland wurde in China die Privatisierung der Staatsbetriebe schrittweise durchgeführt. Ungedeckte Kredite der staatlichen Banken verhinderten den schnellen Bankrott unrentabler Staatsbetriebe. Im Zuge der Modernisierung des chinesischen Bankensystems soll diese Praxis eingestellt werden. Millionen von Staatsarbeitern stehen dann vor dem Nichts, wenn sie entlassen werden. Die Schätzungen der urbanen Arbeitslosigkeit in China schwankten bereits 2002 zwischen sieben und 20 Prozent. Mit den Wanderarbeitern können die entlassenen Staatsarbeiter nicht konkurrieren und für bessere Jobs in den Privatunternehmen sind sie nicht qualifiziert genug. Die Staatsarbeiterschaft, die man als „Dienstverpflichtete“ des Staates bezeichnen kann, genoss in China eine Reihe von Privilegien. Im Unterschied zu den Intellektuellen und Parteikadern waren sie nur selten Opfer der Kampagnen der „Kulturrevolution“ (1966-1977). Im Gegensatz zur großen Mehrheit des chinesischen Volkes, die Bauern, Händler und Vertragsarbeiter, hatten sie Anspruch auf Unfall- noch Rentenversicherungen, auf billige Wohnungen und Kindergartenplätze. Da es in China keine zentralen staatlichen Sozialleistungen gibt, erhielten die Arbeiter diese vom jeweiligen Staatsbetrieb. Mit der Privatisierung fallen diese Privilegien weg oder sind zumindest gefährdet. In den Zentren der alten Schwerindustrie wie der Mandschurei, Sichuan oder Henan kam es deshalb bereits zu Massenprotesten gegen Arbeitslosigkeit und die Verscherbelung der Renten- und Sozialkassen der Betriebe. Über Umfang und Inhalt der Arbeiterunruhen und Streiks herrscht allerdings auf Grund des Berichtsverbots in den Medien Unklarheit. Nach Angaben des Ministeriums für öffentliche Sicherheit hat sich die Anzahl der kollektiven Proteste, inklusive Streiks, von 8700 (1993) auf 32.000 (1999) erhöht. Auffällig ist, dass es zu einer Verbindung der Prosteste der Staats- und Wanderarbeiter bisher noch nicht gekommen ist. Zwischen ihnen liegen noch Welten. Die meisten Beobachter, glauben, dass die Streiks meist lokalen Charakter haben und von einzelnen Arbeitseinheiten ausgehen. Gegen das politische System als solches richten sich die Arbeiter in den seltensten Fällen. Die Arbeiter fordern die Weiterbeschäftigung, die Auszahlung der Renten oder die Absetzung korrupter Manager und Kader. Dabei berufen sie sich immer wieder auf die hohe ideologische Stellung des Proletariats in der Vergangenheit. „Erzählt ihr uns nicht seit 50 Jahren, dass wir die Vorhut der Gesellschaft sind?“, entgegnen die streikenden Staatsarbeiter der Partei. Der Staat reagiert mit „Zuckerbrot und Peitsche“ auf Proteste. Die sogenannten Rädelsführer werden in der Regel verhaftet und können wegen „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ für Jahre ins Gefängnis geschickt werden. Die Bewaffnete Volkspolizei wurde nach 1989 zur Anti-Riot Spezialtruppe ausgebildet und ausgerüstet. Gleichzeitig werden aber auch Finanzspritzen für betroffene Regionen mobilisiert. Die staatliche Gewerkschaft versucht häufig zwischen Staat und Arbeitern zu vermitteln. Ein Versuch die staatliche Kontrolle zu stärken, ist der Aufbau von „Wohnviertel“-Organisationen (shequ) in den Städten, die im bescheidenen Maße auch Sozialhilfe an ihre Mitglieder, natürlich nur mit dem richtigen Hukou, auszahlen können und helfen sollen, soziale Probleme vor Ort zu lösen. Auch chinesische Labour-NGOs versuchen sich legal für die Arbeiter einzusetzen. Angst vor dem „Chaos“ Dass in Asien heute nur noch jeder fünfte Mensch und nicht mehr jeder Dritte (1970) an Unterernährung leidet, ist vor allem der Entwicklung in China zu verdanken. Die Gewinner des chinesischen Wirtschaftswunders sind nicht nur eine kleine Minderheit, sondern Hunderte Millionen Menschen. In den Städten befinden sich breite Schichten im Konsumrausch. Fast jeder Chinese isst, kleidet, lebt und wohnt heute besser, als vor den Reformen von 1979. In China gibt es auch Gegenden, wo die Verstädterung und Proletarisierung der Bauern im Sinne einer bürgerlichen Modernisierung erfolgreich verläuft. In den Provinzen an der Ostküste (Jiangsu, Zhejiang) ist das Nebengewerbe schon längst zur Haupteinnahmequelle der Bauern geworden. Der Übergang zwischen Dorf und Stadt verläuft fließend. Diese Tatsachen können aber über die soziale Ungleichheit nicht hinwegtäuschen. Erstmals seit dem Beginn der Reformen von 1979 steigt die Zahl der Bevölkerung wieder, die von unter einem US-Dollar pro Tag leben muss. In den Städten entsteht „neue Armut“. Chinas Gini Koeffizient, ein internationaler Standard für soziale Ungleichheit (1), stieg von 0.33 (1980) auf 0,46 (2000) und hat somit „gefährliche“ Ausmaße erreicht. Während im westlichen Kapitalismus vor allem Kapitalisten reich werden, sind es in China neben den Unternehmern die Kader und Beamten. Traditional sind im „Reich der Mitte“ Amt und Reichtum mit einander verknüpft. Fast für jeden Stempel, Verwaltungsakt und andere „Gefallen“ werden hohe Summen kassiert. Die chinesische Regierung hat zumindest in der Propaganda auf die wachsende soziale Kluft reagiert: Ein „harmonische Gesellschaft“ soll nun aufgebaut werden. Die alte Formel Deng Xiaopings, „Erst werden die Einen reich, und später die Anderen“ wurde durch die Parole des „gemeinsamen Wohlstands“ abgelöst. Bei allen Klassen in China scheint auch bei Unzufriedenheit mit der Parteidiktatur die Angst vor dem „Chaos“, sprich einem schwachen Staat, groß zu sein. Kriminelle Banden und Geheimgesellschaften befinden sich schon jetzt im Aufschwung. Zhou Yongkan, der Minister für öffentliche Sicherheit, bezeichnete die religiöse Bewegung Falungong als größte Bedrohung für die Stabilität. Die von der Regierung als „Sekte“ bezeichnete Bewegung besitzt nach eigenen Angaben mehr Mitglieder als die KPCh. Welchen Charakter die diversen sozialen Unruhen in China nehmen werden, ist bisher noch offen. Sicher ist jedoch, dass sie globale Bedeutung haben werden. Eine Krise in China könnte die internationalen Finanzmärkte und die gesamte Weltwirtschaft in den Abgrund stürzen. Gründe genug für die internationalistische Linke sich intensiver mit den Kämpfen in China auseinander zusetzen. Anmerkungen: 1) 0 bedeuten absolut gleiche Verteilung des Einkommens und 1 absolut ungleiche Verteilung. Zum Vergleich: Deutschlands Gini-Koeffizent liegt bei 0,30. Informationen zu den Arbeitskämpfen in China: Chinese Labour Bulletin: http://www.china-labour.org.hk Asian Labour http://www.asianlabour.org/ Website von Anita Chan: http://rspas.anu.edu.au/ccc/pubs/chan_a.php Wild Cat: www.umwaelzung.de Literatur: Gries, Peter / Rosen, Stanley (ed.): State and Society in 21st-century China – crisis, contention, and legitimation, Routledge Curzon, New York. Kupfer, Kristin (Hrsg) Sozialer Sprengstoff in China? Dimensionen sozialer Probleme in der Volksrepublik; Focus Asien 17; Essen (http://www.asienhaus.de/index.php) Lee, Ching Kwan (2004): Is Labour a Political Force in China? Paper presented on the Conference “Grassroots Political Reforms”, Harvard University 29-30 October. Perry, Elizabeth (2002): Challenging the Mandate of Heaven, Social Protest and State Power in China, M.E. Sharpe, New York. |
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