Karl Reitter: Warum ich dafür eintrat, die grundrisse einzustellen

Es existieren mehrere überlappende und sich verstärkende Gründe, die Herausgabe der Zeitschrift grundrisse einzustellen. Da gibt es einmal die ganz schlicht persönlichen. Nach der Produktion von 52 Ausgaben, der Lektüre und Diskussion von über 300 Artikeln, die Buchbesprechungen nicht eingerechnet, und nach mehr als 200 Redaktionstreffen ist die Luft draußen. Zudem sind zwei wichtige Redaktionsmitglieder aus beruflichen und persönlichen Gründen aus Wien weggezogen. Redaktionsarbeit über die Entfernung hinweg – das funktioniert nicht. Vor allem gelang es uns letztlich nicht, die Redaktion zu verjüngen und weibliche Mitarbeiterinnen zu gewinnen. Im Gegenteil, jene, die sich an der Redaktionsarbeit beteiligten haben uns schlussendlich verlassen. Unser verdammt ernst gemeintes Angebot in der Nr. 41, die Redaktion mit allem Drum und Dran an eine jüngere Gruppe zu übergeben, verhallte ungehört. Damals schrieben wir: „Wir suchen daher dringend Personen und Gruppen, die die Verantwortung für die Herausgabe unserer Zeitschrift übernehmen wollen. Wir werden selbstverständlich mit Rat und Tat zur Seite stehen, um so eine reibungslose Übergabe zu gewährleisten. Meldet euch – wir meinen es ernst!“

Diesem Aufruf war kein Erfolg beschieden. Aber es war nicht bloß eine gewisse Erschöpfung und all zu viel Routine, die uns bewog, die Zeitschrift einzustellen. Es gab auch positive Aspekte. Wir alle, die länger oder gar durchgehend an der Redaktion beteiligt waren, haben dadurch sehr viel gelernt. Wenn ich nur für mich sprechen darf, ohne die Diskussionen, die Abfassung von Artikeln und die Rückmeldung aus der Redaktion und ihrem Umfeld hätte ich kaum meine Habilitation und andere meiner Texte, so wie sie vorliegen, schreiben können. Die Mitarbeit in der Redaktion hat uns alle verändert. Dass in den letzten Jahren und Monaten, insbesondere für jene, die von Anbeginn dabei waren nach und nach andere Projekte in den Vordergrund und die eigentliche Redaktionsarbeit in den Hintergrund trat, hat einiges mit der Entwicklung zu tun, die wir alle der Redaktionstätigkeit verdanken. Der Schwerpunkt meiner theoretischen Arbeit verlagerte sich immer mehr weg von der Redaktionsarbeit hin zu meinen Lehrveranstaltungen, Referaten und zu den Publikation meiner Bücher und Sammelbände. Derzeit arbeite ich an einem Band mit dem Titel: Karl Marx. Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals? Zur Kritik der neuen Marx-Lektüre und darüber hinaus. Andere Mitglieder der Redaktion machten ähnliche Erfahrungen.

Diese persönliche Dimension hängt klarerweise nicht in der Luft. Sie ist verknüpft mit der allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung, hier in Österreich und weltweit. Ein wesentlicher Ansporn die Herausgabe einer linken Theoriezeitschrift zu versuchen war zweifellos die Bewegung gegen Schwarz-Blau, also gegen die von der ÖVP und der FPÖ gebildeten Bundesregierung im Jahre 2000. Zuerst täglich, dann jeden Donnerstag gab es fast drei Jahre Demonstrationen mit durchaus bemerkenswerten TeilnehmerInnenzahlen. Personen, die „früher“, wie das so nett heißt, aktiv waren und sich dann längere Zeit politischer Aktivitäten enthielten, engagierten sich wieder. Die österreichische Linke war erwacht, in einer Stärke und Intensität, die vorher kaum wer vermutet hätte. In die Gründungsphase der grundrisse fiel auch die Sozialforenbewegung, die in Österreich wohl wichtiger als in Deutschland war. Als 2003 das erste österreichische Sozialforum in Hallein abgehalten wurde, waren bereits sechs Ausgaben veröffentlicht. Wir waren ein Teil der Linken geworden und wurden als solcher auch wahrgenommen. Die Bewegung gegen Schwarz-Blau und nicht zuletzt die Sozialforen wurde von einer Linken getragen, die offen, aneinander interessiert und theoriehungrig war. Es dominierte in der Linken ein organisatorisches Grundverständnis, welches insbesondere in Netzwerkstrukturen emanzipatorische Formen erkannte. Die Linke und ihre Organisationsformen sind ein Thema für sich. Ich hoffe, meine LeserInnen erlauben mir hier in diesem kleinen Rückblick auf die Entwicklung der grundrisse Redaktion einen kurzen allgemeinen theoretischen Einschub. Auf den Punkt gebracht meine ich, dass Organisationsstrukturen keine bloße innerlinke Angelegenheit sind. Die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion benötigt,  je nach Entwicklungsstand der Produktivkraft der Arbeit, bestimmte organisatorische Formen. Hinzu treten andere Formen sozialer Beziehungen, von den Verwandtschaftsverhältnissen über tradierte Formen des religiösen Lebens bis hin zu den Strukturen, die das jeweilige politische System erfordert; aktuell zwingt der Parlamentarismus jenen Gruppen, die sich an den Wahlprozessen beteiligen, ganz bestimmte Organisationsformen auf. Die Linke kann und muss sich dazu verhalten, sie kann diese Verkehrsformen reflektieren, auf emanzipatorische und befreiende Aspekte hin untersuchen und diese stark machen. Aber sie existiert als sozialer Körper nicht jenseits dieser Verhältnisse. Dass die hierarchischen Parteistrukturen der Vergangenheit den hierarchischen Organisationsstrukturen in der Fabrik entsprachen, liegt wohl auf der Hand. Tatsächlich reproduzierten die nach der Ära des Fordismus entstandenen und oftmals als neu und emanzipatorisch gepriesenen Netzwerkstrukturen der Linken jene Strukturen, die in der neoliberalen Phase Produktion und Verwaltung prägen. Das gilt es einmal ganz unaufgeregt zu konstatieren. Dass wir uns als unabhängige theoretische Zeitschrift mit politischem Anspruch strömungsübergreifender Ausrichtung gründeten, fügte sich gut in die politische Landschaft der 00er Jahre.

Bewegte sich die Linke auf neue Ufer zu? Aber wie konnten sie aussehen, wo konnte sie vor Anker gehen? Da kam das große Theorieangebot des Buches Empire, verfasst von einem Veteranen des italienischen Operaismus, Antonio Negri und einem us-amerikanischen Literaturwissenschaftlers mit besonderer Neigung zur Philosophie Jacques Deleuzes, Michael Hardt. Die Redaktion reagierte mit großem Interesse, um nicht zu sagen enthusiastisch auf dieses Buch. Neue Begriffe und neue Theorien wurden da vorgeschlagen, die offenbar der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung angemessen waren. Das allgemeine Interesse war groß; tatsächlich entstand etwas, was es schon jahrelang kaum gegeben hatte: Arbeitskreise, in denen gemeinsam dieses Buch gelesen und diskutiert wurde. Unsere Redaktion wurde durch unser Interesse an Empire sehr rasch als postoperaistisch punziert. Das stimmte und stimmte doch nicht. Es wurden durchgehend Artikel veröffentlicht, die alles waren, nur nicht postoperaistisch. Zudem gingen manche Mitglieder der Redaktion mit unterschiedlichem Tempo nach und nach auf Distanz zu Negri und Hardt. Zudem blieb es nicht bei Empire als theoretischem Bezugspunkt. Große Beachtung fand ebenso das Buch von John Holloway, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Die von der Redaktion organisierte Veranstaltung mit ihm war wohl die am besten besuchte überhaupt. Eine ähnliche Rolle, wenn auch nicht so bedeutend, spielt Virnos Grammatik der Multitude. Vor dem Hintergrund der Schriften von Negri, Virno und in geringerem Maße von Badiou kam es zu einem gewissen Einfluss poststrukturalistischer Philosophien, zumal manche damaligen Mitlieder der Redaktion diesen Theorien doch recht nahe standen. Aber wir wollten nie eine Strömungszeitschrift werden. Im Poststrukturalismus zu terminieren, das war keine Perspektive. Insbesondere für mich war und ist der Poststrukturalismus inakzeptabel. Hie und da ein Artikel, der im Geiste von Deleuze, Guattari oder Foucault geschrieben ist, warum nicht? Aber sich diesem Diskurs insgesamt zu verschreiben – keinesfalls.

Alle die soeben erwähnten Bücher sind vor mehr als zehn Jahren erschienen. Inzwischen ist die Strahlkraft dieser Versuche, radikales gesellschaftskritisches Denken zu erneuern, erstmals verblasst. An die Stelle bemerkenswerter theoretischer Innovationen traten nicht zuletzt massive Verfallserscheinungen in der Linken. In der Gründungsphase der grundrisse war das antideutsche Lager, zumindest in Österreich, noch lange nicht dort angekommen, wie es heute steht, nämlich unverrückbar auf Seiten imperialistischer Herrschaft. Da wir uns weder ins Fahrwasser der Wertkritik, noch des Poststrukturalismus begeben wollten, hing unsere theoretische Auseinandersetzung etwas in der Luft. Den neuen Entwicklungen, von Occupy bis zur Debatte um die Commons schenkten wir zwar gebührliche Betrachtung, zur Achse unserer theoretischen Weiterentwicklung konnten und wollten wir sie wohl zu Recht nicht erheben. Dass derzeit kein neuer funkelnder theoretischer Bezugspol existiert, ist nicht unbedingt ein Nachteil. Besonders förderlich ist sie für eine Theoriezeitschrift aber auch nicht. Nach und nach fehlte uns ein gemeinsamer Bezugspunkt, oder warum nicht im Plural – Bezugspunkte. Insofern haben es Zeitschriften, die sich einer bestimmen Richtung verschieben haben, leichter. Solange ein Milieu existiert, welches die Botschaft interessiert rezipiert und sich über dieses Publikation identifiziert, ist die Fahrtrichtung gesichert. Dass das antideutsche Milieu, die neue Marx-Lektüre neuerdings, die Wertkritik allerdings schon seit Jahren und Jahrzehnten über ihre Publikationsorgane verfügt ist für diese Strömungen mehr oder minder unumgänglich – ohne diese gäbe es sie quasi gar nicht. Da die grundrisse jedoch niemals eine einheitliche Botschaft verkündeten und verkünden wollten, löst sich mit dem Ende unserer Zeitschrift auch keine Strömung der Linken auf.

Vor allem ist hingegen etwas eingetreten, was ich so formulieren möchte: Die Linke ist erneut praktisch gefordert. Die alles wissen werden sagen: das war doch immer schon so. Jein. Die lockere, ins Unverbindliche reichende organisatorische Netzstruktur der Linken war sicher der Jahrtausendwende angemessen, sonst wäre sie auch gar nicht in dieser Breite entstanden. Aber sind die Ernüchterungen bezüglich der vorgeblichen neuen Möglichkeiten dank der Netzwerkstrukturen im Erwerbsleben nicht dazu angetan, auch die Grenzen und Beschränkungen politischer Vernetzungen und loser Allianzen zu reflektieren? Nach meiner Auffassung hat sich die gesellschaftliche Situation auch und gerade in Europa verschärft. Die herrschenden Klassen haben ihre Beißhemmung abgelegt, schrieb ich in den letzten Monaten mehrmals. In meiner Sichtweise hat die neoliberale Herrschaft um 2008 das Tempo verschärft. Die Versprechen auf mehr Selbstbestimmung und Authentizität durch und in den neuen Arbeitsformen und Arbeitsverhältnissen wichen einem brutaleren Zugriff auf das Individuum. An die Stelle verklausulierter Freiheitsversprechen, insbesondere durch den Rückbau des Staates, traten die offenen Imperative: Mehr und länger arbeiten für weniger Geld. Und vor allem wurden die alten, klassischen liberalen Tugenden, die doch das Individuum stets vor den Zugriffen der Staatsmacht bewahren wollten, zugunsten des Gegenteils aufgegeben. Dank den Enthüllungen von Edward Snowden wurde das ganze Ausmaß der Überwachung ersichtlich, Folter wird ungeniert als Mittel bejaht. Der offene imperialistische Zugriff auf unliebsame und eigenbrötlerische Regime, Zerstörungen, Traumatisierungen und Elend inklusive, erfolgt inzwischen im Jahrestakt. Der letzte Akt war wohl der mit Euro- und Dollarmillionen forcierte Sturz der Regierung in der Ukraine und der darauffolgende Propagandakrieg willfähriger Medien. Wem es wir zu verdanken haben, dass bis dato kein Krieg gegen Russland begonnen wurde, entzieht sich meiner Kenntnis: Die USA, die Schriebtischtäter diverser Redaktionen und die GRÜNEN im Europaparlament waren es sicher nicht. Bitte diese kleine Skizze nicht als Analyse zu verstehen. Ich will damit nur jene Veränderungen andeuten, die wir alle letztlich sehr gut kennen, zumal wir von ihnen oftmals unmittelbar betroffen sind.

Eine erste Reaktion auf die sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse war das Projekt Superlinke. Die ersten Überlegungen fielen ins Jahr 2009. Nicht alle, aber ein Großteil der Redaktion versuchte ernsthaft auf Basis breiter Bündnisse eine Organisation mit gesellschaftlicher Bedeutung aufzubauen. Schon vorher gab es Versuche aus der Redaktion, eine Gruppe mit dem Namen Révolte zu gründen. Anfänglich entwickelte sich die Superlinke vielversprechend. Höhepunkt war ein ganztägiges Treffen, an dem über achtzig Personen diskutierten. Doch danach bröckelte die Teilnahme, etwa ein Jahr später galt es, das Ende des Versuchs zu verkünden. Woran ist die Superlinke gescheitert? Vielleicht an der fehlenden Phantasie, sich eine lebendige Organisation vorstellen zu können? Oder am Bedürfnis, lieber im überschaubaren kleinen Kreis zu agieren, als sich auf ein Abenteuer mit ungewissen Ausgang einzulassen? Oder an kleinlichen Befindlichkeiten? Wahrscheinlich an allem ein wenig. In der Rückschau war es wohl auch ein Fehler, die KPÖ nicht stärker einzubinden. Wie auch immer, der Versuch war gescheitert, nicht gerade eine Ermutigung, sich weiter zu engagieren. Aktuell gibt es die Initiative, „Wir wollen es anders – Plattform der Unabhängigen“, die anknüpfend an die Kandidatur „Europa anders“ versucht, erneut Bündnisse zu knüpfen. Ich halte organisierte, praktische Interventionen für aktuell besonders dringlich. Eine politische Kraft, die auch in die Tagesdebatten interveniert, wäre nötiger denn je. Ob aus dem Projekt Wir wollen es anders in Zukunft eine derartige Organisation erwächst, ist momentan nicht abzusehen. Aber auch dafür ist eine Theoriezeitschrift die lange, gewissermaßen zeitlose Texte veröffentlicht, nicht das geeignete Medium. Die grundrisse sind sozusagen einer sich öffnenden Schere zum Opfer gefallen. Einerseits verlagerte sich (nicht nur) meine theoretische Arbeit immer mehr auf Buchprojekte und Referatstätigkeit, andererseits wuchs das Bedürfnis, tagespolitisch zu intervenieren. Die Redaktionsarbeit entsprach weder dem einen, noch dem anderen. Es war also Zeit für neue Projekte. Wie angekündigt wollen wir ab 2015 monatlich Jour fixe durchführen, auch an die Reaktivierung unserer Sommertreffen ist gedacht. Infos dazu gibt es unter http://blog.grundrisse.net/. Es wäre übertrieben von Aufbruchstimmung zu sprechen, aber eine gewisse Freude, nun neue Wege gehen zu können, war allen anzumerken.

 

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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