Stefan Junker: Nieder mit der eigenen Regierung!

Lenins Defätismus als Teil der Antikriegspolitik im 1. Weltkrieg

Es ist immer schwer, sich in geschichtliche Epochen hineinzuversetzen, besonders wenn es sich um Ausnahmesituationen handelt. Aber stellen wir uns einfach vor, die Krise in der Ukraine weitet sich aus. Zuerst weigern sich große Teile der ukrainischen Armee gegen die eigene Bevölkerung im Osten und Süden vorzugehen. Dem zu begegnen setzt die Regierung in Kiew auf rechte und faschistische Kräfte, welche den Kern eines erneuerten Militärs bilden. Die vielerorts aufkeimenden Gefechte und Demonstrationen werden blutig niedergeschlagen und kosten viele Menschenleben in der Zivilbevölkerung. Der Bürgerkrieg ist nicht mehr zu leugnen. Mählich werden auch die militärische und logistische Unterstützung, welche die Regierung in Kiew von Seiten der USA und der EU erhält, immer weniger leugbar. In dieser Situation fühlt sich Putin gezwungen, militärisch zu intervenieren, offiziell zum Schutz der russisch sprechenden Bevölkerung der Ukraine. Die NATO verlangt ultimativ den Rückzug der russischen Truppen. ...

Was machen wir Kommunisten, Anarchisten, Kriegsgegner usw. angesichts dieser Bedrohung? Wie dem erklärten Krieg Paroli bieten? Diesen Fragen standen die aufrechten Sozialisten im Sommer 1914 gegenüber. Die Analyse der Situation erschien noch einfach. So hieß es auf dem Stuttgarter Kongress der II. Internationale 1907: „Kriege zwischen Staaten, die auf der kapitalistischen Wirtschaftsordnung beruhen, sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt; denn jeder Staat ist bestrebt, seine Absatzgebiete sich nicht nur zu sichern, sondern auch neue zu erobern, wobei die Unterjochung fremder Völker und Länderraub eine Hauptrolle spielen. (Humbert-Droz, 26) Dieser Formulierung von August Bebel kann im wesentlichen heute noch zugestimmt werden.

Diskussionen über den Defätismus bei Lenin sind rar geworden und wenn geführt, dann meist im Dunstkreis verschiedener linker Sekten. Das mag sich aber bald ändern, wenn die Gefahr eines großen Kriegs in Europa zunehmen wird und sogar die Möglichkeit eines mit Atomwaffen geführten 3. Weltkriegs am Horizont erscheint. Für KommunistInnen in Europa stellt sich dann wieder die Frage, wie kann ein solcher Krieg bekämpft bzw. verhindert werden? Ich denke, dass dies allein Berechtigung genug ist, sich mit den verschiedenen Ansätzen zur Lösung dieser Frage, die uns die Zeit des 1. Weltkriegs hinterlassen hat, kritisch zu beschäftigen. Eine dieser Ansätze firmiert unter dem Namen „Defätismus‟ und ist Lenin zugeschrieben. Dabei möchte ich vorausschicken, dass von einer geschlossenen und konsistenten Defätismus-Theorie bei Lenin keine Rede sein kann. Vielmehr handelt es sich um eine Erfindung, die nach seinem Tod erschaffen wurde in der Auseinandersetzung zwischen der sogenannten Troika (Stalin, Sinowjew, Kamenjew) und Trotzki. Allerdings ist es richtig, dass sich Lenin zwischen 1914 und 1917 mehrfach in der Hinsicht geäußert hatte. Die Mängel dieser „Theorie‟  wurden seinerzeit bereits erkannt und angesprochen. Allerdings spielten sie in den Auseinandersetzung der radikalen Kriegsgegner keine fundamentale Rolle – entgegen späterer Zuschreibungen, denn in der Grundstrategie waren sich, ob Trotzki, Luxemburg oder Lenin einig: nur eine Macht kann diesen Krieg effektiv überwinden: die soziale Revolution. Im Folgenden werde ich kursorisch das Thema des „Verrats der Sozialdemokratie‟ ansprechen, um dann den verschiedenen Äußerungen Lenins zur „Niederlage der eigenen Regierung‟ nachzugehen.[1]

Der „Verrat‟ der Sozialdemokratie

Das Wort „Verrat‟ steht in Anführungszeichen, nicht weil damit suggeriert sein soll, es handelte sich hier nicht um einen solchen, sondern weil dieser „Verrat‟ zu einem Schlagwort mutiert ist und darum einer Präzisierung bedarf. Ein genauer Blick auf die Schriften Lenins zeigt – und das finde ich sehr bemerkenswert –, dass er der Sozialdemokratie weniger einen „Verrat‟ an irgendwelchen hehren Prinzipien des Sozialismus vorwirft. Er hätte sich schwer getan, den Einwand zu parieren, dass die Sozialdemokratie in vielem bereits diese Prinzipien verlassen habe, wenn sie je von solchen durchdrungen gewesen wäre, woran Marx bereits zweifelte, als er schrieb, dass den deutschen Sozialdemokraten der Sozialismus nicht einmal hauttief sitze.[2] Den Verrat macht Lenin anderweitig fest, nämlich an der expliziten Verletzung der Beschlüsse der 2. Internationale von Stuttgart, Kopenhagen und Basel.[3]

Bereits auf dem Internationalen Sozialistischen Kongress zu Stuttgart (1907) hatte es geheißen: „Kriege zwischen kapitalistischen Staaten sind in der Regel Folgen ihres Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte, ...‟ und „daß der Kampf gegen den Militarismus nicht getrennt werden kann von dem sozialistischen Klassenkampf im ganzen‟. Falls ein Krieg ausbreche, so sind die arbeitenden Klassen, wie deren parlamentarische Vertretungen verpflichtet „mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttlung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.‟[4] Im Oktober 1912 erklärten die Balkanstaaten der Türkei den Krieg, Italien war bereits in Libyen eingefallen. Die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland waren nicht zuletzt wegen der Agadir-Affäre[5] gewachsen. In dieser Situation beschloss das Internationale sozialistischen Büro die Einberufung eines außerordentlichen Kongresses der II. Internationale nach Basel. Auf dem Balkan verweigerten die sozialistischen Parteien den Regierungen ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten und dem ersten großen Menschenabschlachten.[6] In Basel wurde der oben genannte Wortlaut erneut bestätigt und unterstrichen, dass es die Aufgabe der parlamentarischen Arbeitervertretungen sei, das Volk aufzurütteln und zur Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse zu wirken. Der Kongress „fordert die Arbeiter aller Länder auf, dem kapitalistischen Imperialismus die Kraft der internationalen Solidarität des Proletariats entgegenzustellen.[7] Gerade diese Zuspitzung auf den großen Widerspruch zwischen den sozialdemokratischen Friedensbeteuerungen und ihrer Kriegspolitik finde ich bemerkenswert. Bis heute hat sich die Sozialdemokratie nicht kritisch mit ihrer schändlichen Rolle während des 1. Weltkriegs – nicht nur in Deutschland – auseinandergesetzt, von persönlichen Ausnahmen einmal abgesehen. Dies mag damit zusammenhängen, dass diese Art von „Verrat‟ keinen Einzelfall darstellt.[8] Für Lenin wirkte die Nachricht von der Bewilligung der Kriegskredite seitens der deutschen Sozialdemokratie wie ein Schock und er wettert sofort gegen diese Schändlichkeit, die er als Chauvinismus beschimpft.[9] Auf der Konferenz zu Basel hatten diese Herren Führer noch stolze Reden über ihren Internationalismus und ihre Friedensliebe geführt und jetzt sind sie kleinlaut eingekickt. Damit machten sie 1914 den Kongress von Basel zu einer großen Schauveranstaltung, einzig den Arbeitermassen ein X für ein U vorzumachen. Wenn das kein Verrat war, was dann? Aber womöglich nährte sich seine Wut auch aus dem Vertrauen in die Buchstaben von Beschlüssen.[10] Nichtsdestotrotz weigern sich die Sozialdemokratien bis heute ihre Mitschuld an den 17 Millionen Toten und Abermillionen Verletzten und Verstümmelten sowie den vielen traumatisierten Menschen einzugestehen und sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen.

Rekapitulieren wir das Verhalten der sozialdemokratischen Führer im Reichstag (waren alles Männer) kurz vor Ausbruch der Feindseligkeiten. Ende Juni 1914 wurde der österreichische Thronfolger in Sarajewo erschossen. Die deutsche Regierung drängte nun dahin, dieses Ereignis auszunutzen, um die seit längerem geplanten kriegerischen Handlungen gegen Frankreich und Russland eröffnen zu können. Die arbeitenden Klassen reagierten mit Demonstrationen und Veranstaltungen in zahlreichen Städten ohne die geheimen Planungen ihrer Regierungen zu kennen. Am 29. und 30. Juli fand eine dringende Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel statt. Hier wurde beschlossen, den Kongress, der für 23. 8. in Wien geplant war, auf den 9. 8. in Paris vorzuverlegen. Dabei hätte das Büro selbsttätig im Einklang mit den Beschlüssen von Basel und Stuttgart handeln müssen, denn angesichts der Spannungen war es mehr als fraglich, ob dieser Kongress noch stattfinden würde. Vor den demonstrierenden Arbeitermassen in Brüssel hielten die Arbeiterführer Reden, darunter Jaurès. 24 Stunden nach seiner Brüsseler Rede wurde er erschossen. Der Mörder übrigens, wurde nach dem Krieg in einem Prozess freigesprochen und die Prozesskosten der Witwe Jaurès auferlegt. Am 1. 8. 1914 traf der Delegierte der deutschen Sozialdemokratie Hermann Müller in Paris ein. Sollten sich die französischen Sozialisten der Stimme bei den Kriegskrediten enthalten, so würden die deutschen dagegen stimmen oder sich zumindest auch der Stimme enthalten. Dass die deutsche Sozialdemokratie den Kriegskrediten zustimmen wird, hielt der spätere Reichskanzler der Weimarer Republik für ausgeschlossen. Renaudel erklärte, im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich werden die französischen Sozialisten für die Kredite votieren. Schließlich dachten weder die deutschen noch die französischen Sozialistenführer daran, Arbeitermassen zur Aktion gegen die Mobilisierungen und den Krieg aufzurufen. Hermann Müller wusste möglicherweise nichts von den Unterredungen Südekums mit Reichskanzler Bethman von Hollweg und der schriftlichen Versicherung, die der Sozialdemokrat der Reichsregierung gegeben hat, dass von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion keine Aktionen gegen den Krieg zu erwarten seien.[11] Bereits am 24.7. hatte man im preußischen Kriegsministerium von einer Verhaftung der Sozialdemokraten abgesehen, da man sich deren Führer sicher wähnte. Am 2.8. tagten die Vorstände der Gewerkschaften und der Vorstand der SPD. Die Konferenz beschloss, die Regierung bei Ingangsetzung der Mobilmachung zu unterstützen. Auf der Sitzung der Reichstagsfraktion vom Vormittag des 3.8. stimmten 78 Delegierte gegen 14 für die Bewilligung der Kriegskredite, obwohl bereits am 2. August deutsche Truppen ohne Kriegserklärung das neutrale Luxemburg besetzt hatten. Was den Westen betrifft, so war Deutschland zweifelsfrei der Angreifer. Hier wird auch deutlich, dass das Argument der Sozialdemokratie, man fühlte sich verpflichtet, den Kriegskrediten zuzustimmen, weil man Deutschland als von Russland angegriffen glaubte, schlicht eine Rechtfertigungslüge war.

Am 4.8. verlas der Nachfolger des 1913 verstorbenen Bebel, Hugo Hasse, die Erklärung der SPD im Reichstag. Am nämlichen Tag stimmten auch die französischen Sozialisten den Krediten in der Deputiertenkammer „diskussionslos und einstimmig“ zu. Jules Guesde, der frühere Kampfgefährte von Marxens Schwiegersohn Lafargue, und Marcel Sembat traten sogar in die Regierung ein. „Am 4. August 1914 ist die Internationale gestorben; nicht der Krieg hat sie gemordet, sondern der Verrat der Sozialisten selbst. Sie haben sich freiwillig in den Dienst des Krieges gestellt.“, schreibt Humbert-Droz[12]. Es muss hier aber gesagt werden, dass die bolschewistischen Dumaabgeordneten und die serbischen Sozialdemokraten ihre Zustimmung zu den jeweiligen Kriegskrediten verweigerten, womit sie bewiesen, dass parlamentarischer Widerstand sehr wohl möglich war.

Interessant ist weiterhin, dass die meisten Sozialisten, die nicht in die Gespräche der sozialdemokratischen Führer mit der Reichsleitung eingeweiht wurden, nicht an einen baldigen Kriegsausbruch glaubten. So kehrte Liebknecht erst am 3.8. Nachmittags von seinem Urlaub zurück und fiel bei der Nachricht über den Beschluss vom Vormittag aus allen Wolken. Ich würde dies gerne als eine Mahnung an uns heute nehmen, nicht zu blauäugig dem Glauben zu verfallen, die Herrschenden würden vor den Kriegsauswirkungen ähnlich zurückschrecken wie wir. Die Aufforderungen den ukrainischen Präsidenten Turtschinow, die NATO möge für die Ukraine in den Krieg eintreten[13] und die Warnung des russischen Premier Medwedew, gegebenenfalls auch von dem Einsatz von Atomwaffen nicht zurückzuschrecken[14], sollten wir aufmerksam und mit dem nötigen Ernst begegnen.

Lenins Defätismus

Der Inhalt des Mythos über Lenins Defätismus lässt sich auf die Behauptungen reduzieren, nur Lenin allein habe eine kompromisslose Antikriegspolitik betrieben, das Prinzip des Defätismus bilde den Kern der Leninschen Antikriegspolitik und es gelte ausschließlich die Alternative Defätismus oder Vaterlandsverteidigung. In Lenins Schriften finden sich viele Inkonsistenzen und Widersprüche, auf welche bereits Trotzki aufmerksam gemacht hat. Eine Schwierigkeit, Lenin zu interpretieren, ist seine Methode der Übertreibung richtig zu berücksichtigen. 1914 schrien die Leute, welche Lenin kritisierten, Burgfrieden, er schleuderte ihnen Bürgerkrieg entgegen. Die Sozialverräter schrien Vaterlandsverteidigung, er antwortete ihnen mit „Niederlage der eigenen Regierung.

Es gibt unterschiedliche Sichtweisen, was unter Defätismus zu verstehen sei. Es kann einmal bedeuten Niederlage aller Beteiligten, eine Art Pandefätismus also oder es wird die Niederlage der eigenen Regierung gemeint, was allerdings den Sieg der feindlichen Regierung voraussetzt. Diese Position befürwortet den Krieg im Prinzip und es gab sie in Wirklichkeit z.B. in der Habsburger Monarchie aus Gründen der nationalen Befreiung bestimmter Völker – Tschechen, Kroaten usw. wünschten die Niederlage Habsburgs. Eine dritte Position, die namentlich von Rosa Luxemburg und Leo Trotzki vertreten wurde, stellte die Niederlage der eigenen Regierung dem Sieg der sozialistischen Revolution gegenüber. So werden beide imperialistischen Lager bekämpft, keines bevorzugt und es wird der falschen Alternative „Sieg oder Niederlage die soziale Revolution gegenübergesetzt. Lenin versuchte seine verschiedenen Versionen von Defätismus mit dieser Antikriegspolitik zu verbinden. Bereits terminologisch musste  sich Lenin in gefährliche Gewässer begeben. Verstehen wir unter Defätist jemanden, der in einem Krieg für die Niederlage der eigenen Regierung ist, so impliziert dies, dass er oder sie den Sieg der feindlichen Regierung wünscht. Das konnte unmöglich Lenins Auffassung sein.

Es lassen sich vier Versionen bei Lenin herauslesen.[15]

1). Zuerst verband Lenin diese Frage mit der nationalen Frage. Vom Gesichtspunkt der arbeitenden Klasse würde die Niederlage der zaristischen Regierung eine geringere nationale Unterdrückung bedeuten.[16] Hauptaufgabe aller wirklichen Sozialisten ist der Kampf an der Heimatfront, gegen den eigenen Chauvinismus. Unterstellen wir, dass unter einem revolutionären Defätisten jemand zu verstehen ist, der die Niederlage der eigenen Regierung wünscht, aber damit nicht sogleich für den Sieg der gegnerischen Regierung eintritt. Selbst unter dieser Bestimmung bedeutet dies auf Russland bezogen, zuerst einen Sieg der Deutschen, ihr Sieg als geringeres Übel wohlgemerkt. Aber dies war genau die Position der deutschen Sozialpatrioten, gegen die der Hauptteil des von Lenin geschriebenen Textes gerichtet war. Diese Problematik war offenkundig und so wurde diese Version selbst in den bolschewistischen Reihen heftig kritisiert. Die Moskauer Bolschewiken schrieben Lenin, dass sein Defätismus nicht positiv ankomme. Außer Sinowjew hat kein führender Bolschewik damals diese Version des Defätismus vertreten. Aber es lässt sich hier eine Idee in Lenin hineininterpretieren: Wenn schon keine soziale Revolution in Russland zu erwarten sei, so sei doch ein deutsche Sieg besser, das kleinere Übel. Hier klingt ein Zweifel an, ob die sozialistische Revolution eine gangbare Alternative biete. Seine nicht sonderlich überzeugenden Beweise für die „objektive Reife‟ der sozialistischen Umwälzung, wollten womöglich, diese Zweifel beiseite schieben. Wie dem auch sei, diese Formulierung taugte nichts.

2). Das Problem für die russischen Sozialisten bestand darin: Wenn die russischen Sozialisten die militärische Niederlage des Zarismus wünschten, wie jeder verstand durch die deutschen Waffen, was war dann falsch an den deutschen Chauvinisten, die das gleiche Herauskommen wünschten? In „die russischen Südekums“ kritisiert er Axelrod genau in dieser Sache[17]. Wo blieb der Unterschied zu ihm, zu Lenin? Um dieser Problematik zu entgehen, greift er zu einer Floskel: die Niederlage der eigenen Regierung erleichtere die Revolution. Ursprünglich war der Defätismus auf russische Sozialisten beschränkt gewesen, was es unmöglich machte, diese Parole zu internationalisieren. Anders liegt der Sachverhalt bei „die Niederlage begünstige die Revolution‟, denn hierfür gab es bereits historische Belege, nicht zuletzt die Pariser Kommune. Selbst wenn wir diese Formulierung Lenins in den Zusammenhang zu ökonomischer Krise und sozialer Erhebung stellen, bleibt der Slogan recht dünn. Was soll mit „die Niederlage begünstige die Revolution“ in der Propaganda gegen den Krieg angefangen werden? Schön gar nicht reicht es als Begründung für den Slogan „hoch die Niederlage der eigenen Regierung.

3). Im Februar 1915 tauchte Lenin seinen Defätismus in eine internationale Strategie. Beide Seiten seien schlecht oder „beide das größere Übel“[18]. Dies kommt einer Revision seiner ursprünglichen Auffassung gleich, wonach der Zarismus hundertmal schlimmer sei als „Kaiserismus“. In dieser  Leseart wird jetzt die Niederlage jeder imperialistischen Bourgeoisie, in jedem Land, gefordert. Nicht zu vergessen, Niederlage meint immer Niederlage durch die feindliche Regierung, und diese Formulierung schafft mehr Schwierigkeiten als sie löst. Welche Regierung soll allen anderen eine Niederlage bereiten?[19] Aber mit dieser Formulierung hat es noch eine zweite Bewandtnis, auf welche der bolschewistische Kreis um Bucharin aufmerksam machte. In einer Erwiderung auf einen vermutlich von Sinowjew verfassten Artikel, wird die Formulierung hinterfragt, „dass jeder Sozialist verpflichtet sei, die Niederlage Russland zu wünschen. Wenn es Aufgabe von Sozialisten sei, nur zu wünschen, nichts weiter, dann sei es überflüssig, leitende Artikel darüber zu schreiben, so die Kritik. Sei damit aber praktische Teilnahme gemeint, dann müsse die Gruppe ihre Teilhabe verweigern. Denn solle es über das „wünschen‟ hinausgehen, so bedeute dies Aktionen wie Sprengen von Brücken u.ä. Es könne nicht angehen, dass die Kommunisten für feindliche Armeen tätig werden. Von Lenin ist keine Antwort auf diese korrekte Kritik zu finden.[20]

4). Lenin ließ den kritisierten Slogan einfach fallen und erfand einen neuen. Der Klassenkampf dürfe nicht vor der möglichen Niederlage der eigenen Regierung Halt machen. Damit ist er beim Gegensatz dessen, was er vorher geschrieben hatte, angekommen. Die Niederlage wird nicht mehr gewünscht, sondern in Kauf genommen. Lenin hatte sich selbst in diese Sackgasse gebracht, auf der verzweifelten Suche nach einem einfachen Verfahren, die Spreu vom Weizen zu trennen. Lenins Motiv, eine klare Scheidemünze gegen die „Sozialverräter und „Opportunisten zu finden, ist ehrenhaft, nur die theoretische Ausführung taugt nichts.

Fassen wir die vier Lesearten nochmals zusammen:

A. Die besondere russische Version: die Niederlage Russlands gegen Deutschland ist das kleinere Übel.

B. Die Niederlage der eigenen Regierung erleichtere die Entwicklung der Revolution.

C. Die Devise, wünsche die Niederlage der Regierung in jedem kriegführenden Land.

D. Lasse Dich nicht vor der Gefahr der Niederlage der eigenen Regierung abschrecken.

Lenin jonglierte mit allen Bestimmungen je nach den Erfordernissen der Diskussion, ließ aber 1917 alle Bestimmungen fahren und kam später nur noch kursorisch darauf zurück. Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Die Widersprüche und Konfusionen legen es nahe, hierin Lenins späterem Stillschweigen zu folgen und den revolutionären Defätismus als beerdigt zu betrachten. Die auf Marx und Engels getätigten Rückgriffe unter der Annahme sie hätten in ihren Analysen der Arbeiterklasse erläutert, auf welchen Seiten diese in Kriegen Stellung zu beziehen habe, sind ebenfalls irreführend. Ich möchte hierzu aus einem Artikel Marxens aus dem Jahre 1853 während des Krimkrieges zitieren, geschrieben zu einer Zeit, als es auf dem Kontinent noch keine nennenswerten Arbeiterparteien gab und der Chartismus in England bereits im Niedergang begriffen war. „Der Kampf zwischen Westeuropa und Russland um den Besitz von Konstantinopel führt zu der Frage, ob der Byzantinismus der westlichen Zivilisation weichen wird oder ob der Antagonismus zwischen beiden in noch schrecklicheren und gewalttätigeren Formen als je zuvor wiederaufleben soll. Konstantinopel ist die goldene Brücke zwischen Ost und West, und die westliche Zivilisation kann nicht der Sonne gleich die Welt umkreisen, ohne diese Brücke zu passieren; und sie kann die Brücke nicht passieren ohne Kampf mit Russland. Der Sultan hält Konstantinopel nur noch für die Revolution in Verwahrung, und die jetzigen nominellen Würdenträger Westeuropas, … können … die Frage [nur] so lange in der Schwebe lassen, bis Russland sich Aug' in Aug' seinem wahren Gegner gegenübersieht, der Revolution. Die Revolution, die das Rom des Westens niederwerfen wird, wird auch den dämonischen Einfluss des Roms des Ostens überwinden. (MEW 9, 234ff)

Marx ergreift nicht Partei für eine der beiden kämpfenden Seiten, sondern hält beiden ringenden Parteien die Revolution entgegen. Dies erscheint mir auch für heutige Auseinandersetzungen zum Kriegsgeschehen sehr sinnstiftend, z.B. in der aktuellen Kriegsgefahr in und um die Ukraine. Dabei sind hier die sozialen Hintergründe der Protestbewegung in Kiew und der Westukraine ebenso offensichtlich wie in den östlichen Industriebezirken oder auf der Krim. Auffallend ist nur, dass eine autochthone Protestbewegung durch intensive Einmischung von außen, nicht zuletzt durch Waffenlieferungen und der Infiltration privater Söldner, offenbar erstickt wird. Ähnliches scheint für Syrien zu gelten. Dies erschwert eine internationale Solidaritätsarbeit ungemein. Dessen ungeachtet kann es keinem aufmerksamen Beobachter entgehen, dass diesen politischen Kräftespielen letztlich, wie es der Multimilliardär Warren Buffet in anderem Zusammenhang formulierte, der „Klassenkrieg zwischen arm und reich zugrunde liegt.

Zimmerwald und Kiental

Der Defätismus steht nicht im Fokus der Leninschen Antikriegspolitik. Dies wird auch daraus ersichtlich, dass sich auf keinem der Dokumente der berühmten Konferenzen der Kriegsgegner in Zimmerwald und Kiental ein Hinweis darauf findet. Das Internationale Sozialistische Büro war untätig geblieben trotz mehrere Aufforderungen im Sinne der Beschlüsse von Stuttgart, Kopenhagen und Basel zu wirken. Inzwischen war die Kriegsbegeisterung, soweit es sie in der arbeitenden Klasse überhaupt gegeben hat, einer Ernüchterung gewichen und Keime ersten Widerstands wurden allenthalben sichtbar. Dem Beispiel Liebknecht, der im Dezember 1914 entgegen der Parteidisziplin die Kriegskredite verweigerte, schlossen sich mehr Abgeordnete an. Die Oppositionsgruppen in den Ländern organisierten sich und begannen illegale Zeitschriften und Flugzettel zu verteilen. Was das offizielle Organ der Internationale unterlassen hatte, eine Zusammenkunft der Sozialisten, die den Beschlüssen der Internationale die Treue hielten, sollte nun anderweitig erreicht werden. Die Initiative hierzu hatte die italienische Partei ergriffen. Noch war Italien nicht in den Krieg eingetreten. Und so tagten schließlich 42 Delegierte aus den kriegführenden Ländern des Kontinents (den Briten wurde die Ausreise verweigert), und einigen neutralen Ländern in einem kleinen Ort bei Bern. Die Geschichte verlief geheim, selbst die Teilnehmerinnen wussten nicht, wo sie sich treffen werden, denn die Delegierten waren vor den wachsamen Augen der Geheimpolizeien zu schützen. Die in Bern Angekommenen wurden ohne Kenntnis des Ziels, das nur der Schweizer Organisator kannte auf Umwegen nach Zimmerwald gefahren. Trotzki spöttelte, nach 4 Jahrzehnten der Gründung der I. Internationale sei es immer noch möglich, alle Internationalisten in vier Kremsern unterzubringen. (Service, 327)

Alle Teilnehmerinnen hatten das „Manifest von Zimmerwald‟ unterzeichnet, es versetzte die Welt in Aufruhr, zumindest die bürgerliche Presse. Allerdings hatte sich Lenin nicht durchsetzen können mit seiner Forderung, dass der Kampf gegen die Kriege mit dem Wirken für die soziale Revolution verbunden werden müsse. Der französische Delegierte Merrheim erwiderte, dass er sich nicht verpflichten könne, das französische Volk für einen Aufstand gegen den Krieg aufzurufen.[21] Lenins Forderungen wurden als utopisch und unrealistisch zurückgewiesen. Damit fiel dieses Manifest hinter den Beschluss von Basel zurück. Wichtiger aber als dieses Manifest war die Zusammenkunft selbst, es war das Signal, das es eine kleine Minderheit gab, die den Kampf gegen den Krieg führte. (Humbert-Droz, 131-132) Dabei wurde der „Leninsche Utopismus‟ eineinhalb Jahre später Wirklichkeit, wenngleich auch zu Lenins Überraschung selbst, der bekanntermaßen noch kurz vor Ausbruch der sogenannten Februarrevolution, selbst nicht mehr die Revolution zu erleben glaubte. Aber es blieb nicht nur bei der Erhebung in Russland, wir erinnern an die Revolutionen und Aufstände im Anschluss an den 1. Weltkrieg in Deutschland, Deutsch-Österreich, Ungarn, Italien, die Landbesetzung in Südeuropa usw. Lenin und nicht nur er, erwiesen sich als die größeren Realisten, weil sie die soziale Revolution in Betracht zogen. Andererseits blieben aber jene sozialen Revolutionen aus, die sich Kommunisten und Sozialisten erträumt hatten. Und selbst der Umsturz in Russland erwies sich letztlich als Illusion des Sozialismus. Dies aber sollte uns doch nicht davon abhalten, die prinzipielle Richtigkeit der Alternative anzuerkennen: Krieg oder soziale Revolution.

Auf der Konferenz in Zimmerwald bereits hatte Lenin seiner Strategie treu bleibend versucht, die radikale Linke um sich zu sammeln. Ihr eine internationale Bedeutung zu verschaffen, organisierte er eine weitere Konferenz in der Nähe von Bern. Aber auch dieser Konferenz von Kiental war nur ein geringer Erfolg im Kampf gegen den Krieg beschert. Erst nach dessen Ende gelang es die radikale Linke kurzfristig in der III. Internationale zu vereinen, welche aber früh in das Fahrwasser der Interessen russischer Außenpolitik geriet.

Als der zweite Golfkrieg von Bush dem Alten vom Zaun gebrochen wurde, gab es viele Linke, die sich mit Saddam Hussein im Irak solidarisch zeigten. Ganz nach dem Motto: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Das kurdische Volk hat oft einen hohen Preis für diese Einstellung bezahlt, als es von dem Feind seines Feindes im Stich gelassen wurde. Worauf will ich hinaus? Wir sollten wieder den Mut fassen, eine dritte Alternative in Rechnung zu stellen. Zwar mag es utopisch erscheinen, aber weshalb sollten wir in den aktuellen Analysen nicht die Perspektive einer sozialen Revolution wieder aufnehmen, z. B. bezüglich der Ukraine? Wir müssen ja nicht gleich nach den Sternen greifen und von der arabischen oder ukrainischen Welt die Revolution erwarten, die wir selbst zu vollbringen nicht imstande sind. Aber es genügt doch fürs Erste, wenn die Völker, bzw. die Menschen in den Staaten die politische Entscheidungsgewalt über ihr Territorium und ihre Politik zurückgewinnen. Und ich denke, dass wir für diese demokratischen Rückeroberungen eine ganze Menge tun können, wenn wir uns solidarisch mit den sozialen Bewegungen der Welt verhalten und weiterhin für soziale Revolution eintreten.


[1] Ich stütze mich hier größtenteils auf Hal Draper, War and Revolution. Lenin and the Myth of Revolutionary Defätism. New Jersey, Humanities Press 1996

[2] Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 28

[3] Z.B. Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale. LW 22, 107-122. (Jan. 1916)

[4]     Braunthal, Julius: Die Geschichte der Internationale. Bonn, J.H.W. Dietz Nachf. GmbH 1978. Band 1. 370-372.

[5]     1911 schickte Deutschland ein Kanonenboot vor die Küste Marokkos, um deutsche Wirtschaftsinteressen gegen die drohende Kolonialisierung Marokkos durch Frankreich zu verteidigen. Die Affäre endete mit einer diplomatischen Niederlage des Kaiserreiches.

[6]     Humbert-Droz, Jules: Der Krieg und die Internationale. Wien, Europa 1964, 34.

[7]     https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Sozialistenkongress_(1912). Zugriff: 26.4.2014.

[8]     Frau und man vergleiche die Rolle die Sozialistischen Partei Frankreichs im Algerienkrieg oder siehe die Position der Regierung Schröder/ Fischer zum NATO-Krieg gegen Serbien.

[9]     „Mit dem Gefühl tiefster Bitterkeit muss man feststellen, dass die sozialistischen Parteien der wichtigsten europäischen Länder diese ihre Aufgabe nicht erfüllt haben und dass die Haltung der Führer dieser Parteien, insbesondere der deutschen Partei, an direkten Verrat an der Sache des Sozialismus grenzt.‟ … „Die Opportunisten haben sich hinweggesetzt über die Beschlüsse der Stuttgarter, des Kopenhagener und des Basler Kongresses, …‟ Der Krieg und die russische Sozialdemokratie. LW 21, 13-21. (Okt. 1914)

[10]   So hat der scharfe Blick Gustav Landauers den Kongress zu Basel als eine „theatralisch wirkungsvolle Demonstration‟ kritisiert, weil „der Kongress nicht eine wirkliche Vorbereitung auf den Ernstfall‟ organisierte. Landauer, Gustav: Rechenschaft. Aufsätze aus der Zeitschrift Der Sozialist. Impuls, 116-117.

[11]   Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Düsseldorf 1964, Droste, S. 111-113.

[12]   Humbert-Droz, 48

[13]   Quelle

[14]   Quelle

[15]   Zu den folgenden Ausführungen besonders Draper, War and Revolution.

[16]   „Vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen alle Völker Russlands wäre das kleiner Übel die Niederlage der Zarenmonarchie und ihrer Truppen ...‟ Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg, Aug. 1914 LW 21,4. Lenin zu Schljapnikow am 17.10. 1914. „Damit aber der Kampf eine klare und feste Linie verfolgt, bedarf es einer zusammenfassenden Losung. Diese Losung: es kann für uns Russen vom Standpunkt der Interessen der werktätigen Massen und der Arbeiterklasse Russlands nicht der geringste, absolut kein Zweifel darüber herrschen, dass das kleinste Übel für uns jetzt und sofort die Niederlage des Zarismus im gegenwärtigen Kriege wäre. Denn der Zarismus ist hundertmal schlimmer als das Kaisertum.‟ LW 35, 138.

[17]   „Axelrods Behauptung, 'Die Niederlage Russlands, die die organische Entwicklung des Landes nicht beeinträchtigen kann, würde dazu beitragen, das alte Regime zu beseitigen', ist an und für sich, … richtig, aber in Verbindung mit der Rechtfertigung des deutschen Chauvinismus ist sie nichts anderes als ein Versuch, sich bei den Südekums anzubiedern. Die Nützlichkeit einer Niederlage Russlands anzuerkennen, ohne die deutschen und österreichischen Sozialdemokraten offen des Verrats zu beschuldigen, heißt in Wirklichkeit ihnen helfen, … die Arbeiter zu betrügen.‟ Die russischen Südekums. LW 21, 112.

[18]   „Die moderne Demokratie wir nur in dem Falle sich selbst treu bleiben, wenn sie sich keiner einzigen imperialistischen Bourgeoisie anschließt, wenn sie sagt, dass 'beide das größere Übel' sind, wenn sie in jedem Land die Niederlage der imperialistischen Bourgeoisie herbeiwünscht.‟ Unter fremder Flagge. LW 21, 133.

[19]   Service, Robert: Lenin, Eine Biographie. München, dtv 2000, 304.

[20]   Draper, 63.

[21]   Braunthal, Julius: Geschichte der Internationale. Hannover, J.H.W. Dietz 1963. Band 2,61.

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