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Gerhard Hanloser: Rosa Luxemburg und wir Wo beginnen? Es gibt Dutzende von Rosa Luxemburg-Biographien, Einführungsbüchern und auch schöne Bildbände zu der Marxistin aus Polen, die zu einer der wichtigsten Stimmen eines linken, revolutionären Kurses innerhalb und bald am Rand der Arbeiterbewegung wurde. In der Vergangenheit gab es immer wieder Versuche verschiedener Strömungen der Linken, Rosa Luxemburg vor den eigenen Karren zu spannen. So entdeckten einige antinationale und antideutsche Linke in den 90er Jahren die „Antinationalistin“ Rosa Luxemburg, wie beispielsweise Jürgen Elsässer in seinem Aufsatz mit dem Titel „Eine Jüdin aus Polen. Das ‚jüdisch-internationale’ Denken der Rosa Luxemburg“ in dem ästhetisch ansprechenden wie allgemein recht informativen BilderLeseBuch von Elefanten Press aus dem Jahre 1995. Schon damals wurde ersichtlich, dass einzelne Bestandteile des umfassenden Denkens Rosa Luxemburgs herausgebrochen wurden, um sie in der Tagespolitik verwenden zu können: „Spätestens heute, angesichts des nationalen Wahns in Sarajewo, Suchumi und Solingen, ist die ‚verschüttete ‚jüdisch-internationale’ Tradition der Rosa Luxemburg von verzweifelter Aktualität“, endet der Beitrag von Elsässer, dessen hastige und von tagespolitisch-publizistischen Erwägungen getriebene Aneignung einiger Theoriefragmente von Luxemburg wohl auch für den Publizisten selbst wenig nachhaltig waren, betrachtet man den Kontinuitäten wie Wandlungen umfassenden Gesamtverlauf seiner politischen Biographie, an deren vorläufig letzter Station er den publizitätssüchtigen Rechtsaußen gibt. Rosa Luxemburg verkörpert das, was der staatskonformen Linken mehrheitlich (und der exlinken Rechten sowieso) fehlt: Treue zum Anliegen von Marx, schöpferische Erweiterung Marxscher Theorie, Wille zur revolutionären Veränderung, eine globale und internationale Perspektive. Auch ihr Antimilitarismus war erheblich anders begründet als der heutige wachsweiche Pazifismus, den die parteiförmige Linke, aber auch die Friedensbewegung verkündet. Gibt es heute überhaupt noch authentische Erben des Denkens Luxemburgs? Zugegeben: Einiges, was die Antirevisionistin und Revolutionärin hoch hielt, ist in den heutigen außerparlamentarischen Bewegungen präsent: Ablehnung von Militarismus und Krieg, ein dezidierter Internationalismus und eine Absage an selbstgefälliges, opportunistisches Aufgehen im Bestehenden. Wenn man sich jedoch Luxemburgs Werk und ihre politischen Interventionen vor Augen hält, so entdeckt man vieles, was einer außerparlamentarischen Opposition heute fehlt. Im Guten wie im Schlechten. Sie war, den Versuchen der feministischen Aneignung ab den 70er und 80er Jahren zum Trotz, eine Arbeiterbewegungstheoretikerin, Hauptwiderspruchsdenkerin, im Zentrum ihres Aktionismus stand immer die Forderung, sich nicht auf die Sozialreform zu verlassen, sondern mittels des Massenstreiks die Arbeiter zum eigenständigen Kämpfen zu animieren. Auch wenn Rosa Luxemburg keinesfalls einen generellen Antiparlamentarismus vertrat und die diesbezügliche Position der holländischen und deutschen Rätekommunisten nicht teilte, so ist sie doch eine wichtige Fürsprecherin eines eigenständigen, auf Rätemacht tendierenden und Massenkämpfe und -streiks führenden Aktionismus. Das ist aktuell wie scheinbar anachronistisch zugleich. Denn auf der einen Seite entdecken nicht wenige Aktivisten einer eher außerparlamentarischen Politiktradition für sich und ihre Betätigung den Bereich der Parteien, Parteistiftungen und Parlamente. Auf der anderen Seite ist in den nach wie vor außerparlamentarischen Bewegungen das Vertrauen Rosa Luxemburgs auf die selbständige, autonome und spontane Erhebung der Arbeiterklasse gegen die Zumutungen des Kapitalismus stark angeknackst. Und auch das weitgehende Verschwinden der US-amerikanischen Occupy-Bewegung und die Ambivalenzen der weltweiten Platzbesetzungsbewegungen provozieren zu der Frage, ob Spontaneität und „Autonomie“ alleine bereits zu weit(er)gehenden Umwälzungen führen. Genau diese Frage betreffend hätte man sich von Dietmar Dath einige Aufklärung in seinem schmalen Bändchen von 2010 erwartet. Zu der im Suhrkamp BasisBiographie erschienene kurze Schrift über Rosa Luxemburg greift man natürlich aus zwei Gründen – zum einen, um zu erfahren, was Rosa Luxemburg dachte, zum anderen um zu erfahren, was der Schriftsteller Ditmar Dath über sie denkt. Leben, Werk, Wirkung dieser großen und von allerhand Seiten vereinnahmten Person der revolutionären Vergangenheit werden kurz, knapp und in einer lakonisch-launischen, doch meist präzisen Sprache geschildert. Doch sein, einer Intellektuellenmarotte folgender Hyperleninismus, der schon bei Autoren wie Slavoj Zizek mehr zum Lächeln als zum Kopfschütteln herausfordert, schließt nicht nur Rosa Luxemburgs Antirevisionismus, also einer Ablehnung der Bernsteinianischen Haltung, wonach das Ziel der klassenlosen Gesellschaft vor den kleinen Schritten und Erfolgen verblasst, mit einem Nach-1991er-Stalinismus kurz, der meint, der Revisionismus habe in der kommunistischen Weltbewegung im Jahre 1956 um sich gegriffen und alles verdorben. Dem Spontanitätsparadigma der Luxemburg hält Dath mit etwas länglichen Stalin- und Lenin-Zitaten die Parteidisziplin (was sonst?) entgegen. Abseits dieser Petitessen erscheint Rosa Luxemburg als eine der hellsichtigsten Theoretikerinnen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts – und sie weist eine erstaunliche Aktualität auf. Bekannt ist die Bedeutung Rosa Luxemburgs als frühe Lenin- und Bolschewismuskritikerin, eine Eigenschaft, die heutige Leninisten gerne verwischen möchten. Rosa Luxemburgs Warnungen in ihrer Schrift „Zur russischen Revolution“ von 1918 (1922 veröffentlicht) vor „Ultrazentralismus“ und Parteidiktatur zeigen, dass sie gegen die Politik der Bolschewiki an der Meinungsfreiheit aller revolutionären Gruppen und Strömungen festhielt und Lenins Politik scharf kritisierte, auch wenn sie die schwierigen Rahmenbedingungen der Russischen Revolution anerkannte: „...eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder“. Und so zeigen die abwertenden Worte von Ernst Thälmann im Jahre 1932 eher den tiefen Widerspruch zwischen der ab den 20er Jahren stalinisierten KP und der eigenständigen Denkerin und Revolutionärin Rosa Luxemburg, als dass sie wirklich erhellen würden, was der Streitpunkt zwischen den beiden Revolutionären Lenin und Luxemburg gewesen ist: „Wir müssen also mit aller Klarheit aussprechen: in all den Fragen, in denen Rosa Luxemburg eine andere Auffassung als Lenin vertrat, war ihre Meinung irrig, so dass die ganze Gruppe der deutschen Linksradikalen in der Vorkriegs- und Kriegszeit sehr erheblich an Klarheit und revolutionärer Festigkeit hinter den Bolschewiki zurückblieb.“ – Dath präsentiert dieses Zitat und lässt es unkommentiert und unwidersprochen stehen. Doch Thälmanns Vorwurf kam zuerst von Luxemburg und war gegen Lenin gerichtet! Lenin zeichne sich durch mangelnde Klarheit und fehlende Festigkeit im revolutionären Kurs aus, so Luxemburg, für die Lenin schlicht ein Opportunist war. „Seine Mittel wählt er immer nach den Umständen, insofern sie seinen Zwecken entsprechen.“ Dieser Opportunismus ist dabei nur die Kehrseite des Ultrazentralismus und Despotismus von Lenin, den sie nicht psychologistisch erklären will, sondern materialistisch auf die russischen Verhältnisse zurückzuführen weiß: „Im allgemeinen kann unter Verhältnissen, wo die Arbeitermassen in ihrem revolutionären Teile noch locker, die Bewegung selbst schwankend, kurz, wo Verhältnisse ähnlich den gegenwärtigen in Russland sein, als adäquate organisatorische Tendenz des opportunistischen Akademikers gerade der straffe, despotische Zentralismus leicht nachgewiesen werden.“ (Luxemburg 1904) Einen dieser Opportunismen von Lenin will Rosa Luxemburg in dem von diesem stammenden Begriff des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ erkennen, das er im Oktober 1914 schriftlich begründete und das nach der Oktoberrevolution mit dem „Dekret über die Rechte der Völker Russlands“ auch konsequent umgesetzt wurde. Rosa Luxemburg kritisierte nun Lenins Position zum Selbstbestimmungsrecht als eine „Art Opportunismus“, um „die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution zu fesseln“, und sieht hier eine Parallele zum angeblichen Opportunismus Lenins gegenüber den Bauern, „deren Landhunger durch die Parole der direkten Besitzergreifung des adligen Grund und Bodens befriedigt wurde und die dadurch an die Fahne der Revolution gefesselt werden sollten.“ In beiden Fällen ist ihrer Ansicht nach, „die Berechnung leider gänzlich fehlgeschlagen. Umgekehrt als die Bolschewiki es erwarteten, ... benutzte eine nach der anderen der (befreiten) ‚Nationen’ die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbinden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Russland selbst zu tragen.“ (Luxemburg 1922) Und nicht ganz ohne aktuellem Interesse findet man Luxemburgs Ausführungen über die Folgen des nationalen Selbstbestimmungsrechts in der Ukraine, ein Text der erst jüngst im Zuge der Ukraine-Krise ausgerechnet die ansonsten doch Lenin, nun aber offensichtlich mehr Putin zugetanen Tageszeitung junge Welt vom 8.3.2014 dokumentierte: „Die russische Ukraine war zu Beginn des Jahrhunderts, als die Narreteien des ‚ukrainischen Nationalismus’ (...) und das Steckenpferd Lenins von einer ‚selbständigen Ukraine’ noch nicht erfunden waren, die Hochburg der russischen revolutionären Bewegung gewesen. Von dort aus, aus Rostow, aus Odessa, aus dem Donez-Gebiete flossen die ersten Lavaströme der Revolution (schon um das Jahr 1902 bis 1904) und entzündeten ganz Südrußland zu einem Flammenmeer, so den Ausbruch von 1905 vorbereitend; dasselbe wiederholte sich in der jetzigen Revolution, in der das südrussische Proletariat die Elitetruppen der proletarischen Phalanx stellte. Polen und die Baltenländer waren seit 1905 die mächtigsten und zuverlässigsten Herde der Revolution, in denen das sozialistische Proletariat eine hervorragende Rolle spielte. Wie kommt es, daß in allen diesen Ländern plötzlich die Konterrevolution triumphiert? Die nationalistische Bewegung hat eben das Proletariat dadurch, daß sie es von Rußland losgerissen hat, gelähmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randländern ausgeliefert. (…) Die realen Klassengegensätze und die militärischen Machtverhältnisse haben die Intervention Deutschlands herbeigeführt. Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hatte, sie haben die Position der Bourgeoisie gestärkt und die der Proletarier geschwächt. Der beste Beweis ist die Ukraine, die eine so fatale Rolle in den Geschicken der russischen Revolution spielen sollte. Der ukrainische Nationalismus war in Rußland ganz anders als etwa der tschechische, polnische oder finnische, nichts als eine einfache Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, ohne irgendeine nationale Kultur außer den reaktionärromantischen Gedichten Schewtschenkos (1814–1861, Lyriker, G.H.). (...) Und diese lächerliche Posse von ein paar Universitätsprofessoren und Studenten bauschten Lenin und Genossen durch ihre doktrinäre Agitation mit dem ‚Selbstbestimmungsrecht bis einschließlich usw.’ künstlich zu einem politischen Faktor auf. Sie verliehen der anfänglichen Posse eine Wichtigkeit, bis die Posse zum blutigsten Ernst wurde: nämlich nicht zu einer ernsten nationalen Bewegung, für die es nach wie vor gar keine Wurzeln gibt, sondern zum Aushängeschild und zur Sammelfahne der Konterrevolution!“ (Luxemburg 1922) Die Frage nach dem „Selbstbestimmungsrecht“ war dabei durchaus eine prinzipielle und bezog sich nicht bloß auf Russland. Auch wenn sowohl Lenin wie Luxemburg sozialdemokratische Revolutionäre waren, deren Gegner die reformistische Arbeiterbewegung war, aber auch der antistaatliche und föderalistische Anarchismus und bäuerlich-revolutionäre „Populismus“, der während der Jahrhundertwende innerhalb der weltweiten Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle spielte, so unterschieden sich ihre Auffassungen im Grundsätzlichen doch erheblich. Rosa Luxemburg als prominente Sprecherin der „Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen“ (SDKPiL) ging vom Kampf gegen den polnischen Nationalismus aus, der auch innerhalb der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) grassierte, die dem Kampf um nationale Unabhängigkeit den absoluten Vorrang gegenüber allem anderen einräumte. Luxemburg schätzte die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit Polens als historisch überholt und reaktionär ein. In ihrer Doktorarbeit über ,,Die industrielle Entwicklung Polens” aus dem Jahre 1897 hatte sie herausgearbeitet, dass die Entwicklung des industriellen Kapitalismus Polen und Russland zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Organismus vereinigt habe. Interesse an nationaler Selbständigkeit habe so nur das Kleinbürgertum, nicht die aufstrebenden Klassen der Bourgeoisie und des Proletariats. Generell findet sich bei Rosa Luxemburg eine sympathische Verachtung des Nationalismus. In ihrer Schrift „Nationalitätenfrage und Autonomie“ von 1908/1909 liest man tatsächlich starke Worte beispielsweise gegen den „schwülstigen romantischen Wind“ des deutschen Nationalismus eines Friedrich List und der Burschenschaften im Vormärz. Und Lenin? Der russische Stratege, der ausgerechnet in seiner bekannten Schrift „Der ‚linke’ Radikalismus als Kinderkrankheit im Kommunismus“ von 1921 ja auch gegen das nationalistische Lamento gegen den Versailler Vertrag Stellung bezog und die marginalen Versuche des Hamburger Nationalkommunismus zu dieser Zeit dezidiert ablehnte, war im Gegensatz zu Luxemburg kein prinzipieller Antinationalist. Eine generelle Verdammung des Nationalen wie bei Luxemburg war seiner Meinung nach dem „Krakauer Horizont“ Luxemburgs geschuldet, die ihre polnische Erfahrung absolut setze. Der Taktierer Lenin hielt daran fest, dass angesichts der verschiedenen Positionen unterdrückter und unterdrückender Nationen auch deren Haltung gegenüber der Frage nach nationaler Eigenstaatlichkeit verschieden ausfallen müsse. Während Rosa Luxemburg die Frage der nationalen Selbstbestimmung als unvereinbar mit dem Klassenkampf bezeichnete und nationaler Kleinstaaterei – im Falle Polens - mit einem territorialen Autonomieansatz begegnete, wollte Lenin die nationale Frage jeweils in Hinblick auf die darin enthaltene Mobilisierungskraft gegen Unterdrückung und Reaktion betrachten, und dadurch den Klassenkampf befeuern lassen, ohne dass die nationale Bewegung die Klassenbewegung überdeckt. Luxemburg war Antinationalistin, durchaus in einem doktrinären Sinne und sie kritisierte Lenin; doch das macht Lenin noch lange nicht zum Nationalisten. Vielmehr wollte er den russischen Vielvölkerstaat mit allen möglichen Kniffen, Tricks und Zugeständnissen als kompaktes Revolutionsgebiet vor einem Zerfall retten und den Eindruck einer russischen Dominanz angesichts des zaristischen Erbes vermeiden, um die Revolution zu retten. Diesen Kamalitäten revolutionärer Politik in einer peripheren und von inneren, quasi-kolonialen Gefällen geprägten Region war Rosa Luxemburg schlicht nicht ausgesetzt. Mitte der 30er Jahre urteilt der Rätekommunist Paul Mattick, der sich rückblickend in der Auseinandersetzung zwischen Lenin und Luxemburg unverwunden auf Luxemburgs Seite schlug: „Lenins Taktik - die Ausnützung der nationalen Bewegungen zu weltrevolutionären Zwecken - hat sich geschichtlich als verfehlt erwiesen. Die Warnungen Rosa Luxemburgs waren berechtigter, als ihr dies jemals hätte recht sein können. Die ‚befreiten’ Nationen bilden einen faschistischen Gürtel um Rußland. Die „befreite“ Türkei schlachtet, mit den ihr von Rußland gelieferten Waffen, die Kommunisten ab. Das in seinem nationalen Freiheitskampf von Rußland und der Dritten Internationale unterstützte China würgt seine Arbeiterbewegung nach dem Muster der Pariser Kommune ab. Abertausende von Arbeiterleichen bestätigen Rosa Luxemburgs Auffassung, daß die Phrase vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen nichts als ‚kleinbürgerlicher Humbug’ ist.“ (Mattick 1935) Führt eine grade Linie von Lenins Selbstbestimmungsrecht gar zur Saarabstimmung und dem Überfall der Nazis auf die Tschechoslowakei unter der Losung „Befreiung der Sudetendeutschen“? Kann man Lenin als schändlichen Wegbereiter eines barbarischen Nationalismus markieren und Rosa Luxemburg einfach zur hellsichtigen Vorgängerin des in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts unter deutschen Linken modisch gewordenen Antinationalismus oder gar Antideutschtums erklären? Ich denke Nein. Ganz im Gegensatz zu der zuweilen anzutreffenden Überhöhung Luxemburgs zur flexiblen Denkerin, ist ihre zuweilen recht starre Theorieproduktion und die von ihr verwendete Sprache auffallend. Luxemburgs vertrat noch in ihrer Schrift „Nationalitätenfrage und Autonomie“ von 1908/1909 einen emphatischen Begriff von Fortschritt in Form staatlichen Zentralismus’ und kapitalistischer Entwicklung, Fortschritt als Mechanik, auf der der Sozialismus schließlich aufbauen könnte, selbst der Absolutismus erscheint im Lichte notwendiger Gesellschaftsformung. Immer wieder zitiert sie zustimmend Engels, den sie beständig mit Marx verwechselt, wenn dieser – damals noch in direkter Konkurrenz zu Bakunin - den Föderalismus, den Anarchismus und die angeblich „geschichtslosen Völker“ und deren angeblich sinnlose Aufstände mit dem objektiven Verlauf der Weltgeschichte konfrontiert. Engels und Marx gingen 1848/49 von einer historischen Notwenigkeit der deutschen Hegemonie aus; sie wollten lediglich den alten „Kulturnationen“ der Deutschen, Italiener, Ungarn und Polen ein Selbstbestimmungsrecht einräumen, deren Gegenbild die slawischen Massen – unfähig zu Staatsbildung - darstellten. An dem antislawischen Ausfällen von Engels, der sich in Begriffen wie „Volkstrümmer“ und „Völkerabfälle“ beispielsweise in Bezug auf die Slowaken ausdrückte, nahm die Revolutionärin Luxemburg in dieser Schrift keinen Anstoß, stattdessen will sie ihre Ablehnung des polnischen Nationalismus im besonderen und des Nationalismus im allgemeinen in diese Tradition einschreiben. Wobei sie die Position von Marx und Engels aus dem Jahre 1848 Polen gegenüber genau verkehrte: Für Marx/Engels war die Eigenstaatlichkeit Polens der entscheidende, Entwicklung und Fortschritt versprechende Schritt im Kampf gegen den zaristischen Feudalismus, für Luxemburg sollte die polnische Arbeiterklasse gemeinsam an der Seite der russischen gegen den Zarismus kämpfen. Luxemburg, Lenin, Marx und Engels betonen allesamt die Vorzüge eines mit harter Knute vereinheitlichten Staates, weil sie einschätzten, dass ein solcher das Zusammenwachsen der Arbeiterschaft und somit die Bedingungen für eine sozialistische Revolution fördern würde. Karl Korsch bezeichnete diesen Glauben ab den 1950er Jahren nur noch als mythische Identifizierung der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie mit der sozialen Revolution der Arbeiterklasse. Und kein anderer als der Marxist und Antistalinist Roman Rosdolsky sprach in diesem Zusammenhang von einer idealistischen, hegelianischen Seite der Position von Engels von 1849 mit seinem barbarischen Konzept der ‚geschichtslosen‘ Völker, die staatlichen Großterritorien einfach zu weichen hätten. Auch durch Rosa Luxemburgs Text von 1908/09 weht dieser Geist – und bis zu ihrer Kommentierung der Russischen Revolution bleibt sie darin ungebrochen. Rosdolsky empört sich so über die „grotesk-doktrinäre Einstellung“ Rosa Luxemburgs, die den russischen Revolutionären „die selbstmörderische Politik empfahl, die ‚separatistischen Bestrebungen (innerhalb der Ukraine, G.H.) mit eiserner Hand ... im Keime zu ersticken’“. (Rosdolsky 1979) Dagegen präsentiert der Sammelband „Rosa Luxemburgs ‚Akkumulation des Kapitals’. Die Aktualität von ökonomischer Theorie, Imperialismuserklärung und Klassenanalyse“ von 2013 eine Marxistin, die sich weitgehend von der geschilderten Geschichtstheorie befreit habe. Vor allem Michael Löwys Aufsatz „Westlicher Imperialismus gegen Urkommunismus“ macht auf ihren Kampf gegen die zerstörerischen Formen der kapitalistischen Durchdringung vormals nicht-kapitalistischer Milieus aufmerksam. Sie spricht vom Kampf des Kapitalismus mit „naturalwirtschaftlichen Gesellschaften“ und „vom hartnäckigen Krieg des Kapitals gegen die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge der Eingeborenen“, wobei sie detailreich die kolonialistische und imperialistische Politik in Asien, dem Osmanischen Reich oder Lateinamerika und Afrika darstellt. Die Auflösung subsistenzwirtschaftlicher Gemeinschaften ist hier nicht mehr notwendige und im Sinne einer höheren Geschichtsphilosophie wünschenswerte Auflösung alter, antiemanzipatorischer Verhältnisse, sondern stets ein Prozess der Destruktion gemeinschaftlicher Lebensformen, der neue Abhängigkeiten hervorbringt. Löwy konstatiert: „Indem sie die kapitalistische industrielle Zivilisation mit der kommunitären Vergangenheit der Menschheit konfrontiert, bricht Rosa Luxemburg mit dem linearen Evolutionismus, dem positivistischen Glauben an den ‚Fortschritt’ und all den banalen ‚Modernisierungs’-Interpretationen des Marxismus, die bis zu ihrer Zeit vorherrschten.“ Sie beschreibt dabei ähnlich präzise und klar die Trennung von Produktionsmittel und unmittelbaren Produzenten als Grundbedingung einer modernen kapitalistischen Wirtschaft wie Marx dies in seinem bekannten Kapitel zur „ursprünglichen Akkumulation“ tat. Sozialismus ist für Rosa Luxemburg am Ende ihrer Schrift „Die Akkumulation des Kapitals“ von 1913 „zugleich von Hause aus Weltform und harmonisches System, weil sie nicht auf die Akkumulation, sondern auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte des Erdrundes gerichtet sein wird“. Elemente der vorkapitalistischen Wirtschaftsformen, so zeigt Löwy, sind nicht mehr schlicht zur Strecke gebracht, sondern in veränderter Form Momente einer vollkommen neuen Gesellschaftlichkeit, die natürlich den Kapitalismus zu beerben weiß, aber die Produktion für die wirklichen Bedürfnisse zum Zweck hat. Ein neuer Anlauf mit Rosa Luxemburg? Literaturverzeichnis: Rosa Luxemburg 1904: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1904/orgfrage/text.htm Rosa Luxemburg 1922: Zur russischen Revolution, in: Politische Schriften, Band 3, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 1968, Seite 106-141 Zuerst veröffentlicht 1922 von Paul Levi nach dem handschriftlichen Manuskript aus dem Nachlaß, oder auch: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/index.htm Rosa Luxemburg, „Nationalitätenfrage und Autonomie“, Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Holger Politt, Berlin 2012 Rosa Luxemburgs ‚Akkumulation des Kapitals’. Die Aktualität von ökonomischer Theorie, Imperialismuserklärung und Klassentheorie, Herausgegeben von Ingo Schmidt, Hamburg 2013 Paul Mattick, Die Gegensätze zwischen Luxemburg und Lenin. In: Rätekorrespondenz Heft 12, August 1935, in: Karin Kramer Verlag (Hg.) Partei und Revolution, Berlin, o.J. , auch: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/mattick/1935/10/luxemburglenin.htm Dietmar Dath, Rosa Luxemburg. Leben Werk Wirkung, Suhrkamp BasisBiographie, Frankfurt am Main 2010 Roman Rosdolsky, Zur nationalen Frage. Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen’ Völker, Berlin 1979 Kristine von Soden (Hrg.) ROSA LUXEMBURG, BilderLeseBuch, Berlin 1995 |
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