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Miriam Gil: Simone de Beauvoir und ihr sozialgeschichtliches Sachbuch „Das
andere Geschlecht“ Zum Begriff der „existenzialistischen Ethik“ im Widerstreit mit katholischen Argumenten in einer seit Jahrtausenden von starren Vorurteilen geprägten Geschlechterbetrachtung Das Buch birgt zwei Bücher in sich: als erster Teil werden „Fakten und Mythen“, als zweiter die „Gelebte Erfahrung“ präsentiert. „Auf dem Weg zur Befreiung“, das letzte Unterkapitel des zweiten Buches beginnt mit der Überschrift „Unabhängigkeit“ und endet mit der Attestierung an die Welt sie hätte den Frauen ihre Möglichkeiten bisher unterdrückt – nun sei es jedoch „hohe Zeit“ endlich auch ihnen all diese zu eröffnen. Thema ist nicht „Das Kapital“, es ist nicht der flächendeckend durchgesetzte Ausschluss von den potentiellen „Waren“ – es ist „das andere Geschlecht“, und zwar auf solch konsequente Art und Weise, dass man sich schier verneigen möchte erkennt man an, wie belesen die Beauvoir doch gewesen. Bekanntermaßen hat die Simone viel Zeit mit Sartre verbracht und so „wie die Emanzipation des Weibes schlussendlich Hand in Hand mit der des Mannes einhergeht“, so haben sie zusammen gearbeitet und gelebt, so gut sie es eben konnten und mit dem was sie eben so hatten, bis es dann irgendwann einmal vorbei war. Lesen kann man sie beide noch und auch eigenständige Urteile fällen, - dies ist ein Versuch sie dem interessierten Leser in ihrer Abwesenheit näherzubringen: wer Lust hat mehr zu erfahren der habe an dieser Stelle eine Empfehlung zu Füßen gelegt, wer es ganz genau wissen möchte der solle allerdings das Hauptwerk des alten Marx nicht beiseite legen. Auch er arbeitet in der Beauvoir und diese hat gearbeitet, obwohl sie scheinbar wahrscheinlich nie richtig durfte. 1. Existenzialistische Ethik und bewusste Voreingenommenheit - vom praktisch betroffen sein und eine Meinung haben – Simone de Beauvoir lässt ihr Werk „Das andere Geschlecht“ mit einem Geständnis beginnen. Sie gibt zu, dass es bereits viel Literatur über den Feminismus gäbe, allerdings noch keine die das „Problem“ bereits in befriedigendem Maße erleuchtet hätte. „Unermüdlich hat man zu beweisen versucht, dass die Frau überlegen, dass sie unterlegen oder dem Manne gleich sei; (...).“ Sie stellt fest, dass das Thema der „Weiblichkeit“ sowohl von Männern, als auch von den Frauen selbst stets irgendwie „befangen“ betrachtet werden würde. „Die Männer sind Richter und Partei: ebenso die Frauen.“ An dieser Stelle ist jedoch noch nicht ganz klar von was genau diese „Befangenheit“ zeugen solle. „Richter“ sein impliziert wohl die Tatsache eine ausführende Gewalt hinter sich stehen zu haben, wahrscheinlich auch Träger von Entscheidungsmacht zu sein. Sie war eine Diva.„Partei sein“ könnte von „Partei ergreifen“ herrühren, also von einer positiven Bezugnahme auf gesetzte Interessen und von dem Bestreben klare Überzeugungen nach vorheriger Auseinandersetzung haben zu können. „Das andere Geschlecht“ nun soll ein Versuch sein „Klarheit“ über den Gegenstand der „Frauenfrage“ zu erlangen. In der Vergangenheit wäre dieser Versuch nur in theoretisch unproduktiven Streitereien, zum Beispiel zwischen Gläubigen und Atheisten, gemündet. Weiter schreibt Beauvoir in der ausführlichen Einleitung, dass es verlogen wäre, den Anspruch einer Objektivität an sein eigenes Schaffen zu richten, weil man damit gleichzeitig längst festgefahrene Prinzipien im gesellschaftlichem Umgang mit dem zu behandelndem Gegenstand „verschleiern“ würde. Diese geforderte „Objektivität“ läge also in einem Widerspruch zu der Tatsache, dass manche Standpunkte über Dinge gesamtgesellschaftlich eben nicht objektiv ausgehandelt worden wären: „Sicher aber ist es unmöglich, irgendein menschliches Problem ohne Voreingenommenheit zu behandeln: die Art der Fragestellung schon, der Blickpunkt, den man sich zu eigen macht, setzen eine gewisse Rangordnung der Interessen voraus;“ Das interessante ist, dass an dieser Stelle diese „Voreingenommenheit“ nicht als negativ oder gegenüber der Wahrheitsfindung gar abtrünnig bezeichnet wird. Im Gegenteil: die im Vorfeld der theoretischen Arbeit klar formulierten Interessen, „ethischer Hintergrund“ genannt, würde davor bewahren in Verlegenheit zu geraten sich für aufgestellte Thesen und Formulierungen scheinbar ständig entschuldigen zu müssen. An dieser Stelle weist die Existenzialistin Beauvoir darauf hin, dass ein subjektiver Faktor bei der Formulierung von Meinungen letztlich doch ganz normal wäre. „Wenn wir einige Werke, die sich mit der Frau beschäftigen, an unserem geistigen Auge vorbeiziehen lassen, so sehen wir, dass am häufigsten der Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses dabei geltend gemacht wurde; tatsächlich aber versteht jeder darunter das Interesse der Gesellschaft, so wie er sie sich wünscht.“ An dieser Stelle wird der denkende Mensch als einer ernst genommen, der eben auch Ansprüche und Gedanken entwickelt die er für sich selbst für richtig hält und sich nicht in einem scheinbar allgemeinem Interesse an seinen Bedürfnissen verliert. 2. Transzendale Existenz als ihre Ausweitung in eine unendlich geöffnete Zukunft - vom denkenden und sich ständig weiterentwickelndem Menschen – Beauvoir nun würde es bei ihrer Arbeit um die Perspektive der „existenzialistischen Ethik“ gehen: „Jedes Subjekt setzt sich konkret durch Entwürfe hindurch als eine Transzendenz; es erfüllt seine Freiheit nur in einem unaufhörlichen Übersteigen zu anderen Freiheiten, es gibt keine andere Rechtfertigung der gegenwärtigen Existenz als ihre Ausweitung in eine unendlich geöffnete Zukunft.“ Dieses Credo klingt so lebensbejahend, der denkende Mensch wird als in ständiger Bewegung und Entwicklung gesehen. Was könnte ihn schon aufhalten? Nur eine „Immanenz“, eine starre Verhaftung in konstruierten Wesensmerkmalen. Einfacher ausgedrückt wird hier behauptet, der Mensch sei ein autonomes und selbstdenkendes Wesen, würde sich ständig selbst Ziele und Gedanken setzen, würde eben versuchen sich mit eigener und freien Urteilskraft in der Welt zurechtzufinden. Das Individuum also wäre im ständigen Begriff Urteile zu fällen, zu verwerfen, Standpunkte zu prüfen, anzunehmen oder zu kritisieren. Der Mensch wäre damit frei, würde sich mit seiner Intelligenz Übergänge zwischen seinen eigenen, und deswegen „wesentlichen“ Interessen und der Gesellschaft, der Geschichte und dem Weltwissen schaffen. Die Frauen aber nun würde man versuchen „erstarren zu lassen“, die Männer würden sie zu einer „Immanenz“, also zur starren Unbeweglichkeit in der Welt samt ihrer Herausforderungen an das Individuum verurteilen: „Das Drama der Frau besteht in dem Konflikt zwischen dem fundamentalen Anspruch jedes Subjekts, das sich immer als das Wesentliche setzt, und den Anforderungen einer Situation, die sie als unwesentlich konstatiert.“ Die Männer hätten also ein festgefahrenes Urteil über die Frauen durchgesetzt: die Frauen wären „unwesentlich“, es würde eigentlich gar nicht darauf ankommen wie eine Frau selbst gerne in der Welt aufgehen wollen würde. Die Freiheit der Frauen würde ganz klar beschränkt werden, weil für sie eine „weibliche Wirklichkeit“ konstruiert worden wäre die es nachzuvollziehen und zu prüfen gelte. Simone de Beauvoir erklärt in der Einleitung zu „Das andere Geschlecht“ sie interessiere sich für die „Möglichkeiten des Individuums“, sie wolle die Frage klären wie man „Unabhängigkeit inmitten von Abhängigkeit“ finden könne. An dieser Stelle wird von der französischen Philosophin der Anspruch formuliert scheinbar Widersprüchliches theoretisch aufzulösen zu wollen. 3. „Das andere Geschlecht“ wider der Metaphysik von der Frau - von einer geforderten praktischen Teilhabe an der Welt – Das existenzialistische Credo von Beauvoirs Werk lautet: Der Mensch ist frei geboren. Ein Satz, der heute, in Zeiten der entmündigenden Psychologisierung und verschleiernden Mystifizierung der „Differenz“ zwischen Geschlechtern, Rassen oder Kulturen – brennend aktuell ist.“ Friedrich Engels hatte schon in seinem „Anti- Dühring“ Gedanken über eine umfassende und nicht irgendwie bornierte Art der Weltbetrachtung formuliert: „Wenn wir die Natur oder die Menschheitsgeschichte oder unsre eigene geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wie und wo es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht.“ Während Beauvoir in der Einleitung zum „anderen Geschlecht“ die provokante Frage stellt: „Gibt es überhaupt Frauen?“, schreibt Engels: „Für den Metaphysiker sind Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andere zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung.[...] Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht.“ Die oben angeführte „provokante“ Frage kann auch als Suggestivfrage gesehen werden: in dem Sinne, dass Beauvoir allen bisherigen Bestrebungen über die Frau zu schreiben unterstellt, einen metaphysischen Ansatz gewählt zu haben. Beauvoir will überhaupt nicht in Frage stellen, dass es Unterschiede zwischen Mann und Frau gibt, sie will mit ihrem umfassenden Werk versuchen zu zeigen „wie sich die ‚weibliche Wirklichkeit’ konstituiert hat, warum die Frau als das ‚Andere’ definiert worden ist, und welche Folgen sich daraus ergeben.“ „Das andere Geschlecht“ soll „vom Standpunkt der Frau aus die Welt beschreiben“ und ein Verständnis für Schwierigleiten erarbeiten, auf welche die Frau „stößt, sobald sie sich aus der ihr bis jetzt zugewiesenen Sphäre hinausbegeben und am menschlichen ‚Mitsein’ teilnehmen will.“ Beauvoir attestiert der Welt also den Ausschluss der Frauen. Diese ernst gemeinte „Voreingenommenheit“ benennt sie, bevor sie das Buch beginnt und auf über 700 Seiten ausführlich darauf eingeht wie Geschichte, literarische und wissenschaftliche Vorbilder, aber auch gelebte Realität und Erfahrung diese Anfangsthese untermauern und mit dem Geschlecht der Frauen umgehen. „Diese Welt war und ist seit Jahrtausenden eine männerbeherrschte Welt; und der Aufbruch der Frauen vom Rand dieser Welt in ihr Zentrum ist ein langer, beschwerlicher, immer wieder unterbrochener Weg.“ 4. Die „poetische“ Betrachtung der Frau als Entfremdung ihrer selbst - Schönheit der Frau als Mittel zur Flucht von politischer Realität – Im dritten Teil des ersten Buches mit Überschrift „Fakten und Mythen“, im Kapitel „Breton oder die Poesie“ wird auf eine ganz besondere Art der Mystifizierung von Erotik und Körperlichkeit eingegangen. Hier widmet sich Beauvoir einer von dem bekannten Theoretiker des Surrealismus ausgeführten „poetischen“ Sicht auf die Frau. Im Dudeneintrag findet man als Synonym für poetisch die Ausdrücke „gefühlvoll“ und „beseelt“. Anhand von mehreren Beispielen wird Breton überführt der Erotik zuzuschreiben sie wäre etwas sehr Geheimnisvolles und Mächtiges. Hier findet also eine Überhöhung von Erotik und Schönheit statt, an einer Stellung schreibt Breton sogar das Aufeinandertreffen mit einer Frau wäre für ihn eine „Offenbarung“ gewesen von der er aus unerklärten Gründen schon gewusst hätte bevor er ihr gegenübersteht. „Ich wusste, dass die Offenbarung, die du mir brachtest, eine Offenbarung sei, noch bevor ich wusste, worin sie bestehen konnte.“ Es wird auf keine Inhalte dieser Offenbarung näher eingegangen, Beauvoir schreibt die Frau eine „Offenbarung“ zu nennen heißt sie sei dann die personifizierte „Poesie“. Dichterisch wird diejenige Frau beschrieben, welche mit einem einzigen Partner in einer untrennbaren Liebe aufgeht und für den Mann „eine vollkommene magnetische Durchdringung, über die nichts mehr Macht besitzt“ ermöglichen würde. Diese unzerstörbare und gegenseitige Liebe ist absolut einmalig und soll dem Dichter also eine Sphäre eröffnen in der keinerlei im normalen Alltag geltenden Kräfte und Machtverhältnisse mehr wirken. „Da die Perspektive Bretons ausschließlich poetisch ist, wird die Frau darin auch ausschließlich als „Poesie“, also als „Anderes“ ins Auge gefasst.“ Der Dichter findet in der Poesie eine Art absolute Entgrenzung, geht mit Leib und Seele in ihr auf. Beauvoir nun stellt eine ganz einfache Gegenfrage: sie stellt die Frage, ob die Frau dies, in dieser wortgewaltigen Konstruktion ihrer selbst, als eine Art Medium der Welt zu entfliehen, denn ebenfalls tun würde. „Man möchte jedoch gerne wissen, ob auch für sie die Liebe Schlüssel der Welt, Offenbarung der Schönheit ist; wird auch sie diese Schönheit in ihrem Geliebten finden oder in ihrem eigenen Bilde, wird sie sie die dichterische Kraft in sich finden, durch die man die Poesie in Gestalt eines sichtbaren Wesens zu realisieren vermag, oder wird sie sich darauf beschränken, das Werk des Mannes zu würdigen?“ Von männlicher Seite aus wird ein sehr detailliertes Bild der Frau gezeichnet, mit dem Anblick der weiblichen Schönheit hätte der Mann ein Tor hinaus aus der alltäglichen Welt erblickt. Man könnte auf den Gedanken kommen, der Mann sei ein getriebenes Wesen auf der Flucht und das Erscheinen einer schönen Frau nun, die ihn liebt, würde ihm Wege hinaus aus der realen Welt weisen. Man kennt folgende Fragestellung, beispielsweise aus dem Literaturunterricht: „Welche Attribute werden der Dame an dieser Stelle des Gedichtes zugesprochen?“ Beauvoir nun fängt an diese scheinbar alltägliche Fragestellung ganz neu aufzurollen: Sie frägt sich einfach nur, ob die Frau das denn überhaupt auch wollen würde. Kann es denn nicht auch einschüchternd wirken Fähigkeiten zugesprochen zu bekommen, die es in der realen Welt, genauer eigenen Lebensrealität so überhaupt gar nicht gibt? Ist es nicht vielleicht sogar belastend durch das eigene äußere Erscheinungsbild und den eigenen Habitus lediglich als „Sprachrohr“ des Dichters zu fungieren? Ein bloßes Mittel für das Interesse des Mannes zu sein, den Zustand vollkommener Entgrenzung von der irdischen Welt mit all seinen Schranken und Unannehmlichkeiten zu erreichen? Für Beauvoir drückt sich hier eine absolute Entrückung der Frau von ihrer selbst aus. Es wird von den selbstständig gesetzten Zielen der weiblichen Person vollkommen abgerückt, diese werden gar nicht zum Thema gemacht. Dafür aber wird sie mit zu Werten erhobenen Begrifflichkeiten gleichgesetzt: „Sie ist Wahrheit, Schönheit, Poesie, ist Alles: alles in der Gestalt des Anderen, Alles, nur nicht sie selbst.“ Sicherlich ist Breton nur ein Beispiel von vielen für diese mystifizierende Ausgestaltung eines starren Bildes vom weiblichen Geschlecht. 5. Mutterschaft und praktizierte bürgerliche Heuchelei - zur Geschichte von Schwangerschaftsabbrüchen : moralische Erziehung des Volkes – „Das andere Geschlecht“ erschien 1949 erstmals in Frankreich, 1952 dann in Deutschland. Zu dieser Zeit gab es noch keine staatlich geregelte Fristenregelung in Sachen Schwangerschaftsabbruch. Es war noch nicht daran zu denken, dass staatlich geförderte Stellen sich für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Verhütungsmitteln einsetzen. Noch 1959 wurde in der Bundesrepublik Werbung für Kondome gemäß Gewerbeordnung § 41a verboten: „Mittel oder Gegenstände, die zur Verhütung der Empfängnis oder zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten dienen, dürfen in Werbeautomaten an öffentlichen Plätzen, Wegen und Straßen nicht feilgeboten werden.“ Das Kapitel „Mutterschaft“ beginnt mit folgenden Worten: „In der Mutterschaft vollendet die Frau ihr physiologisches Schicksal. In ihr liegt ihre „natürliche“ Berufung, da ihr ganzer Organismus auf die Fortpflanzung der Art ausgerichtet ist.“ Dieser so absolut anklingenden These wird jedoch sofort nachgesetzt „dass sich die menschliche Gesellschaft nie einfach mit der Natur abfindet.“ Das in den 1950er Jahren bestehende Risiko einer potentiellen Schwangerschaft war ohne einem gesicherten und unproblematischem Zugang zu Verhütungsmitteln viel höher als heutzutage. Beauvoir schreibt es gäbe, besonders in den Ländern in denen die empfängnisverhütende Methode noch mehr in den Anfängen steckt, eine starke „Wider- Natur“, welche der Abtreibung zugesprochen werde. Davor werden Beispiele genannt die bezeugen, dass die Menschen schon seit längerer Zeit Methoden wie den „Coitus interruptus“ und den Frauen als unangenehm erscheinende Vaginalspülungen anwenden um der Natur Herr zu werden und Schwangerschaften wissentlich ausschließen zu können. In Frankreich und Deutschland wurden Abtreibungen bis in die 70er Jahre hinein heimlich durchgeführt. „Das größte Problem wäre gewesen wenn Frauen ein uneheliches Kind bekommen hätten. Das war eine Schande, da hatten wir alle Angst davor, das durfte nicht passieren, da waren die Frauen ‚unten’ durch und die ganze Familie auch.“ Das sagt eine Frau in der Filmdokumentation: „Tabubruch: Wir haben abgetrieben. Das Ende des Schweigens“ noch über ihre Jugend in den sechziger Jahren, also gut ein ganzes Jahrzehnt nach Veröffentlichung des „anderen Geschlechtes“. Alice Schwarzer bezeichnet den Umgang mit der Verschreibung der Anti-Babypille noch im Jahr 1968 als „totale Entmündigung“, weil man vor Erhalt des Rezeptes nachweisen musste das man verheiratet ist. Nur die allerwenigsten Gynäkologen wären bereit gewesen einer unverheirateten Frau die Pille zu verschreiben weil sie sich einfach die Freiheit nahmen ihren eigenen Moralvorstellungen höhere Gewichtung als den Anliegen der Patientinnen einzuräumen. Außerdem habe man sich Moralpredigen anhören müssen, denn wenn man die Pille verschrieben haben wollte war man sofort verdächtig ein „sexuell ausschweifendes“ und „unzüchtiges“ Leben zu führen. An genau dieser Stelle würde die Grundannahme der „existenzialistischen Ethik“, wie in der Einleitung zum „anderen Geschlecht“ formuliert und bereits oben erläutert eine ganz „starre Immanenz“ sehen. Würde die Frau, also das Subjekt gegen dessen Interessen diese starre Immanenz aufrecht erhalten werden solle diese zu ihrem eigenen Interesse machen wäre sie nach Beauvoir moralisch zu verurteilen, dann würde sie einen Fehler begehen. 6. Das Recht auf Leben : Willkür und Entmündigung \ ökonomisch begründete Ängste von der göttlichen Allmächtigkeit und verschlossenen Himmelspforten – Die Feministinnen die in Deutschland in den 1970er Jahren gegen den Paragraph 218 auf die Straße gingen und sich öffentlich dazu bekannten schon einmal abgetrieben zu haben begaben sich in eine „freiwillige Illegalität“ um Aufmerksamkeit zu erregen. Auch die Tatsache, dass sich eine Frau bis in die 70er Jahre hinein noch eine Erlaubnis vom Ehemann abholen musste wenn sie arbeiten gehen wollte und unter Umständen kein eigenes Bankkonto eröffnen durfte wird in der filmischen Dokumentation erwähnt. Alles in allem herrschten verschiedenste, auch ökonomisch begründete Ängste bezüglich des Risikos einer Schwangerschaft: das Recht des Embryos auf „Leben“ wurde geschützt und gewährt indem man einen Abbruch gänzlich unter Strafe stellte. „Der Gedanke an sie [die ungewollte Schwangerschaft] zieht sich dort durch das Liebesleben der meisten Frauen.“ Beauvoir nun schreibt: „ Es muss übrigens darauf hingewiesen werden, dass die Gesellschaft, die so heftig bestrebt ist, die Rechte des Embryo zu verteidigen, sich um die Kinder nicht mehr kümmert, sowie sie auf der Welt sind.“ Bis heute werden Familien zwar beobachtet, aber auch in der heutigen Zeit liest man von „Verwahrlosung“ und ähnlichen schlimmen Dingen. Nun wird exakt auf die Argumentation der Katholiken eingegangen. In Deutschland haben die Konservativen mit Unterstützung der katholischen Kirche es ja sogar geschafft der Frauenbewegung einen herben Rückschlag zu erteilen indem sie dafür gesorgt haben, dass die Liberalisierung des Paragraphen 218 nach ersten Erfolgen wieder gekippt wurde.„ Die sittlichen Gründe gehen auf ein altes katholisches Argument zurück. Der Foetus habe eine Seele, der man das Paradies verschließt, wenn man ihn ungetauft beseitigt.“ Beauvoir geht darauf ein, dass die Kirche durchaus immer wieder zulässt, dass ungetaufte Seelen in den Himmel gelassen werden: „Es ist bemerkenswert, daß die Kirche bei Gelegenheit den Mord an ausgewachsenen Menschen gestattet: in Kriegen oder wenn es sich um Menschen handelt, die zum Tode verurteilt sind. Hier wird er nicht durch die Taufe erlöst. Aber zur Zeit der Kreuzzüge gegen die Ungläubigen wurden diese es ebensowenig, und zu ihrer Niedermetzelung wurde von oben herab gerufen. Die Opfer der Inquisition waren zweifelslos nicht alle im Zustand der Gnade, ebensowenig wie heutzutage der Verbrecher, der geköpft wird, und die Soldaten, die auf dem Schlachtfeld sterben.“ Beauvoir versucht nun die christlichen Dogmatiker mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und wirft ihnen vor, sich in die Angelegenheiten Gottes auf anmessende Weise einzumischen. Außerdem würde diese Unterbindung der göttlichen Allmächtigkeit ausgerechnet nur im Falle der Diskussion um das Recht auf einen selbstbestimmten Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch stattfinden: „In allen diesen Fällen stellt es die Kirche der Gnade Gottes anheim. Sie läßt es zu, daß der Mensch in seiner Hand nur ein Werkzeug ist und das Heil einer Seele zwischen ihr und Gott abspielt. Warum verbietet man dann Gott die Aufnahme einer embryonalen Seele in seinen Himmel?“ Eine Antwort auf diese Frage kann man weiterführend nicht nachlesen. Spanien und Portugal als Exempla - Am Ende ist es der Staat, der seinen Leuten sagt was sie zu tun und zu lassen haben Sieht man sich heute die Berichterstattung aus Spanien und Portugal bezüglich der Abtreibungsdebatte an lässt sich der vorhandene Einfluss des Katholizismus auf die Lebensrealität der Leute nicht wegleugnen: für die strengen Katholiken ist Abtreibung gleich Mord, sozialistische und demokratische Bürgervertreter, aber auch die Faschisten bilden sich Meinungen, wollen mal orthodoxer, mal ungläubiger gegenüber dem bürgerlichen Rechtsapparat regulieren. Was noch für alle klar ist sei die Tatsache, dass sie regieren wollen und ihren Untertanen samt (potentieller) Leibesfrucht den Weg weisen wollen. Zu einem Herrscher gehört bekanntermaßen immer auch einer der sich beherrschen lässt. Diejenigen Frauen die abtreiben wollen werden zwar in diesem konkreten Falle nicht mehr unbedingt eine Staatsgrenze überwinden müssen, sie werden aber auf einen Arzt angewiesen sein der die kleine Operation durchführt, wollen sie das Ganze so schonend wie möglich hinter sich bringen und nicht selbst zu brachialen Werkzeugen wie Stricknadeln oder ähnlichem greifen. Am besten wäre es natürlich sie würden selbst wissen was sie wollen und begreifen, dass auch sie „nichts anderes zu verlieren haben als ihre Ketten“. Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Simone de Beauvoir hat einmal gesagt: „Es ist richtig, glaube ich, dass das Denken von den gelebten Erfahrungen geleitet wird: das ist auf jeden Fall der Weg, den ich gegangen bin.“ Sie war eine Gelehrte und gleichzeitig auch eine politische Aktivistin. Wenngleich die immerwährende Rede von „Unterdrückung“ und „Gewalt“, dogmatischer Gemeinheit und dem Vorurteil auf Dauer bedrückend wirkt und Beauvoir kein Geheimnis daraus macht, den scheinbar ewigen Unterdrücker als „Mann“ zu benennen, gibt es auch folgendes Zitat bezüglich der privaten Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau: „Ist eine sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau immer repressiv? Könnte man nicht dahingehend arbeiten, daß man nicht diese Beziehung verweigert, sondern sie ändert? (...) Ich denke, eine Zivilisation, die Männern und Frauen gerecht wird, sollte sexuelle Beziehungen finden, die nicht repressiv sind.“ Literatur: Schwarzer, Alice, (2007) „Simone de Beauvoir – Rebellin und Wegbereiterin“, Köln Engels, Friedrich, (MEW 20) „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ Beauvoir, Simone de, (1951) „Das andere Geschlecht – Sitte und Sexus der Frau“, Hamburg, Titel der französischen Originalausgabe 1949: „Le deuxieme sexe“ Internetquellen: http://plato.stanford.edu/entries/beauvoir/#SitBea (Eintrag über Beauvoir in der Stanford Encyclopedia of Philosophy) http://condomi.com/condomi_hi/index.php?option=com_content&task=view&id=107&Itemid=203 (Eintrag über „Die Geschichte des Kondoms“ auf der Internetpräsenz eines führenden deutschen Unternehmens das mit Kondomen Handel betreibt) http://www.uni-due.de/de/mercatorprofessur/2010.shtml Referat: Alice Schwarzer (14. Dezember 2010) „Die Funktion der Gewalt im Verhältnis der Geschlechter“. Vortrag an der UDE Filmdokumentation: „Wir haben abgetrieben“, (Deutschland, 2011, 53min), |
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