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Physik des Begehrens, Phänomenologie der Freiheit.
Karl Reitter stellt Fragen an Thomas Seibert

1. Lieber Thomas, du arbeitest an einem „ungeschriebenen, aber immer wieder eingeforderten Buch“.[1] Wenn ich dich richtig verstehe, willst Du im Anschluss an Antonio Negri einen neuen Materialismus entwerfen, in dem Marx, Spinoza und Heidegger zusammen gedacht werden. Du unterstellst offenbar dem bisherigen Materialismus ganz im Sinne der ersten Feuerbachthese einen strukturellen Mangel. Worin besteht der „Hauptmangel allen bisherigen Materialismus“ und warum benötigen wir gerade Heidegger, um diesen zu überwinden?

Lass’ mich zum Einstieg eine Geschichte erzählen, um deutlich zu machen, wie alt und zugleich aktuell dieses Projekt ist. In der ersten seiner Thesen über Feuerbach nimmt Marx eine entscheidende Verschiebung der Diskussion vor, die seine Generation umtreibt.[2] Ihm geht es nicht mehr um die Grenzziehung zwischen Idealismus und Materialismus, sondern um die zwischen dem „bisherigen“ und einem neuen Materialismus. Dem bisherigen wirft er vor, trotz des Wechsels (grob gesagt) von den Ideen zur „Wirklichkeit“ und vom Geist zum leiblich-gesellschaftlichen „Leben“ einem Vorurteil zugunsten des „theoretischen Verhaltens“ erlegen zu sein. Der eigenen Absicht zuwider habe sich Feuerbach, so sagt Marx, der Wirklichkeit und dem Leben „nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung“ genähert: in einer vorgeblich objektiven Perspektive, die vorgeblich objektive „Wesenheiten“ fassen will. Dabei hat er das „subjektive“ Moment dieser Wirklichkeit übersprungen, das Marx allgemein „Praxis“ und im radikalen Sinn die „revolutionäre“, weil „praktisch-kritische Tätigkeit“ nennt. Diese Verfehlung ist theoretisch, ethisch und politisch von entscheidender Bedeutung: Belegt sie doch, dass dem Materialismus die Kritik des auf die Objektform fixierten „abstrakten Denkens“ gar nicht gelungen ist. Damit bleibt der „bisherige Materialismus“ in das jahrtausende alte Herrschaftsverhältnis zwischen Geist und Leben eingeschlossen, dem die Trennung von „Kopf-“ und „Handarbeit“ entspricht.

Marx belässt es aber nicht bei der Benennung des Mangels, sondern gibt zugleich einen überraschenden Hinweis zu seiner Behebung. Er sagt nämlich, dass die übersprungene subjektive oder „tätige Seite“ der Wirklichkeit wie der Erkenntnis „im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus (…) entwickelt“ worden sei: unter Materialist_innen eigentlich ein unerhörter Satz! Natürlich habe der Idealismus – gemeint sind Kant, Fichte, Schelling und Hegel – die „tätige Seite“ selbst auch nur „abstrakt“ gefasst, als Vermögen eines idealen Subjekts, also doch wieder nur als Geist. Doch weil er sie wenigstens zum Thema gemacht hat, muss ein wirklicher Materialismus im Idealismus ansetzen und konkretisieren, was dort eben nur in abstrakter Weise „entwickelt“ wurde. Dieser Rück- und Umweg erst führe zur Praxis und besonders zur revolutionären Praxis.

Schon in der letzten These aber überdreht Marx diese Strategie, indem er die „Interpretation“ und die „Veränderung“ der Welt vorschnell voneinander trennt, das eine einer vorgeblich praxisfernen Philosophie, das andere einer Praxis zuschlagend, die der Philosophie unbedürftig sei. Verfehlt wurde so das Versprechen, das sich durch die Thesen zieht: die Praxis theoretisch und praktisch ihren eigenen Begriff finden zu lassen. Dieser Überdrehung entsprang das zentrale Problem aller folgenden Marxismen, ihr Schwanken zwischen dem Anspruch nach objektiven Analysen objektiver und deshalb geschlossener Verhältnisse und einem Subjektivismus, der die objektiven Verhältnisse voluntaristisch sprengt und so in seiner Weise abstrakt wird.

Wer diesem Entweder-Oder entkommen wollte, sah sich immer wieder an die Feuerbachthesen – und an die verabschiedete Philosophie zurückverwiesen, zunächst nicht zufällig an Kant, Fichte, Schelling und Hegel: denken wir an Korsch und Lukács, im Austromarxismus an Max Adler, später an Adorno, Benjamin und Bloch. Für sie alle gilt, dass sie ihren Materialismus immer auch im Schritt zurück in den Idealismus und die weitere Geschichte der Philosophie entwickelt haben. Dazu gehörte dann, den notwendig atheistischen Charakter des Materialismus nicht aus blanker Verwerfung, sondern aus einer Übersetzung der Theologie zu entwickeln: das Wort „entwickeln“ wörtlich genommen, als heraus-wickeln-aus.

Meine These ist, dass das Erscheinen von Heideggers Sein und Zeit (1927) hier den bis heute maßgeblichen Durchbruch markiert, obwohl das gar nicht oder zumindest nicht unmittelbar die Absicht des Autors war. Möglich war das, weil das Buch die in der ersten Feuerbachthese formulierte Kritik an einem „theoretischen Verhalten“, das Wirklichkeit und Leben unter die „Form des Objekts oder der Anschauung“ zwingt, auf das im Grundbegriff des „Sinns von Sein“ aufgerufene Ganze aller Erfahrung ausweitete. Zugleich wird der Schritt zurück in den Idealismus unter die Forderung einer Durcharbeitung der Gesamtgeschichte des Denkens gestellt, die dann zum Medium einer Fundamentalkritik aller Geschichte erhoben wird.

Heidegger kommt philosophisch von Husserl und von den Neukantianern her, d.h. aus deren gerade erst gescheiterten Versuch, den Idealismus durch eine Phänomenologie abzulösen und fortzuschreiben, die (hegelisch gesprochen) Wissenschaft von der Erfahrung des wirklichen Lebens sein sollte. Genauer: er übernimmt die Phänomenologie als geweihter Nachfolger ihres Gründers und spricht aus, dass mit ihr noch gar nicht wirklich begonnen wurde: im Anspruch nicht anders als Marx, der gegen Feuerbach festhält, dass der Materialismus noch gar nicht vorliegt. Die dazu nötige Position jenseits von Objektivismus und Subjektivismus besetzt er als gerade erst vom Glauben abgefallener Theologe, der sich als erster der seither immer wieder neu angegangenen Aufgabe stellt, Paulus, Kierkegaard und Nietzsche zusammenzudenken.[3] Dazu muss auch er die „abstrakt“ gebliebenen Entdeckungen Kants, Fichtes, Schellings und Hegels konkretisieren und wird so zum Fünften in deren Bund.

Lass mich festhalten, was das heißt: Es geht hier ja nicht bloß um die zufälligen Dispositionen eines Freiburger Philosophieprofessors. Es geht um den Zusammenfall einer ebenso komplizierten wie historisch zwingenden Problemkonstellation in ihrem noch heute radikalsten Lösungsversuch – und um das, was diesem Versuch fehlt. Dies ist nichts anderes als die marxistische Problematik, die Heidegger nie zureichend verstanden hat.

Es ist kein Zufall, dass Lukács, Adorno, Benjamin, Brecht und Marcuse die epochale Bedeutung von Sein und Zeit sofort registrieren: Lukács und Adorno in Polemiken, die weit unter ihrem und Heideggers Niveau bleiben, Benjamin und Brecht in dem leider nicht realisierten Projekt, sich mehrere Wochen in Klausur zurückzuziehen, um das Buch gemeinsam durchzuarbeiten und es Heidegger gleichsam aus der Hand zu nehmen. Marcuse setzt dann den Punkt aufs „i“ und veröffentlicht schon 1928 die Programmschrift einer Marx und Heidegger zusammenführenden „Phänomenologie des Historischen Materialismus.“[4]

Nach dem Zweiten Weltkrieg und trotz des Desasters der Heideggerschen Politik wird Marcuses Programm einerseits in Frankreich, andererseits – bezeichnenderweise! – in der marxistischen Dissidenz Osteuropas aufgegriffen, nicht zufällig vor allem in Jugoslawien, wo die „Praxisphilosophie“ zum kollektiv organisierten Projekt wird, die Frankfurter Schule zu radikalisieren.[5] In Frankreich wird Sein und Zeit zuerst für Kojève und Bataille zum Ausgangspunkt eines radikalisierten Materialismus, der sich strategisch ebenso des Idealismus wie der Religion bedient. Die marxistische Heidegger-Lektüre wird dann zum letzten gemeinsamen Nenner der ansonsten verfeindeten Strömungen einerseits um Sartre, andererseits um Althusser, zwischen denen Merleau-Ponty, Lacan, Lefebvre, Castoriadis und Axelos ihre eigenen, ebenfalls durch Heidegger hindurchführenden Wege gehen. Im Mai 68 eröffnet die poststrukturalistische Generation eine dritte Front, in der Foucault, Deleuze, Derrida neue Marx-Nietzsche-und-Heidegger-Variationen ausarbeiten. Der Feminismus nimmt daran seinen ganz eigenen Anteil, nachzuverfolgen, zugleich und gegeneinander, bei de Beauvoir, Butler, Irigaray und Haraway. Und heute setzen Hardt/Negri, Nancy, Badiou und Žižek diese Auseinandersetzung fort, unter noch einmal veränderten historischen Bedingungen.

Eines aber bleibt sich gleich: Spinoza taucht in diesem Geflecht immer als derjenige auf, der die ganze Problemkonstellation – noch einmal: die materialistische Aneignung einer zunächst idealistisch „entwickelten“ Entdeckung – historisch eröffnet hat, weil er als erster das Herrschaftsverhältnis von Geist und Leben infragestellt, ohne es einfach umzukehren. Das erlaubt es, sie philosophiegeschichtlich als „spinozistische“ Konstellation zu bezeichnen.

Warum ich Deine Frage mit dieser Geschichte und so vielen Namen beantworte? Um endlich meinen eigenen Punkt machen zu können. Was in all’ diesen Anläufen entweder fehlt oder nicht zu Ende gebracht wurde, ist der synthetisierende Akt, der Versuch, das alles nicht mehr nur in mehr oder minder brüchigen Kombinationen, sondern in einem einzigen Vokabular systematisch zu verweben. Keine Angst: natürlich glaube ich nicht, dass das „ein für alle Mal“ zwischen zwei Buchdeckeln Platz hat! Doch bin ich weder der erste noch der einzige, für den das Ende der philosophischen Systeme die Forderung nach Systematisierung der Philosophie nicht entkräftet, sondern verschärft hat. 1990, direkt nach dem politischen Bruch, der heute auch in der Philosophie durchzuarbeiten ist, hat Jean-Luc Nancy diese Forderung in der methodischen Direktive gefasst: „Heideggers Sein und Zeit ‚spinozistisch’ zu lesen oder neu zu schreiben.“ Hardt/Negri haben das im Vorwort zu Common Wealth (2010) ausdrücklich aufgegriffen und im Blick auf ihren eigenen Weg festgehalten: „Wir hoffen, unsere Arbeit weist in diese Richtung.“[6]

Negri verfolgt das übrigens schon seit den frühen 1980er Jahren, meist in kleinen, ausdrücklich philosophischen Texten, zuletzt in Kairòs, Alma Venus, Multitudo, das er zeitgleich mit Empire geschrieben hat. Dort werden die Armut, die Liebe, das Glück und das Ereignis einer Praxis zugeschrieben, die als solche des Daseins in Heideggers Sinn gefasst wird. Von dort konkretisiert Negri die anstehende Aufgabe: Der Materialismus beginnt mit Spinoza als „Physik des Begehrens“, die Phänomenologie wird gebraucht, um dieser Physik und diesem Begehren die „Form der Freiheit“ zu verleihen.[7]

2. Du meinst, der Begriff des conatus bei Spinoza verharre noch in der „Physik des Begehrens“, sozusagen im Naturalismus. Nun, dieses Verständnis des conatus-Begriffes findet sich unter anderem bei Deleuze, der den conatus auf den langen 13. Lehrsatz im II. Teil der Ethik zurückführt. Der conatus erscheint in dieser Perspektive sozusagen nur als neue Formulierung des Beharrungsprinzips der Bewegung der Körper. Spinoza beruft sich bei der Herleitung des conatus aber keineswegs auf seine Körperlehre des II. Buches. Ich meine also, dass Spinoza keinesfalls auf Materialismus oder Naturalismus reduziert werden kann, da es keinen Vorrang des Körpers vor dem Geist, wie auch umgekehrt bei Spinoza gibt.

Ich halte es für einen Grundfehler nicht nur philosophischer Auseinandersetzungen, Mitstreiter_innen auf eine bestimmte Position zu reduzieren. Das ist auch der Grund, warum Polemiken fast immer unproduktiv bleiben. Ich versuche umgekehrt, Texte stets von ihrem stärksten Punkt her zu lesen. Dass Spinoza das Herrschaftsverhältnis zwischen Geist und Leben aufheben will, ohne es einfach umzukehren, ist ja der Grund, warum unsere heutige Problemkonstellation „spinozistisch“ ist: ein Punkt, den schon Hegel, Marx und Nietzsche gemacht haben, zugleich der Punkt, warum die zeitgenössische Philosophie so viele Spinoza-Deutungen hervorgebracht hat. Dabei herrscht weitgehend Übereinstimmung, Geist und Leben gleichermaßen von dem Seinsbegehren aus zu denken, das Spinoza vom conatus her entfaltet: das „Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt“ und das als solches, darauf kommt hier alles an, „weiter nichts als die wirkliche Wesenheit des Dinges selbst ist.“[8]

Dem Seinsbegehren diesen Rang zuzusprechen – „wirkliche Wesenheit“ alles Seienden und gleichermaßen des Geistes wie der Körper zu sein –, wirft für Spinoza wie für uns dann aber das Problem auf, wer wir als die Begehrenden dieses Begehrens sind: sind wir diesem Begehren ausgeliefert, oder können wir uns zu ihm in ein freies Verhältnis setzen? Kann gezeigt werden, dass dieses Verhältnis mehr als eines des Bewusstseins ist? Übereinstimmung besteht weiter darin, dass die Freiheit zum eigenen Begehren selbst wieder nur von einer Begehrensposition aus möglich ist: von einem Begehren her, das eben nicht mehr nur Beharrungs-, sondern wesentlich Freiheitsbegehren wäre. Du selbst bestehst deshalb darauf, Spinoza nur insoweit als Denker des Begehrens zu verstehen, als er Denker der Freiheit ist, und Du verweist dazu auf das letzte Kapitel seiner Ethik, das zwingend den Titel Von der Macht des Verstandes oder von der menschlichen Freiheit trägt.

Ich stimme Dir ausdrücklich zu, auch gegen Deleuze – wobei Deleuze seine Position später verändert hat, Leibniz und der letzten Wendung Foucaults folgend. Aber ich glaube, dass man nicht darum herumkommt, die Freiheit ausgehend von einer Abstandnahme zu sich und zum eigenen Begehren zu denken, also von einer Bewegung her, die Du gerade abweist. Oder genauer: Du weist Theorien der Freiheit zurück, die das freie Wesen von sich selbst trennen, indem sie es auf eine Spaltung in sich, eine letzte Nichtidentität beziehen. Du hältst an dieser Stelle ausdrücklich fest, dass der Tod – verstanden als die radikalste Trennung von sich selbst – deshalb mit Spinoza als etwas gedacht werden muss, das dem Leben eben nicht „innewohnt“, sondern „stets einer von außen kommenden Zerstörung geschuldet“ ist.[9]

Ich denke, dass das stimmt und nicht stimmt, je nachdem, wie man den Tod fasst. Es stimmt, wenn wir vom physischen Ableben sprechen, das zweifellos Resultat einer Zerstörung ist und uns deshalb verpflichtet, uns diesem Tod zu widersetzen. Es stimmt nicht, wenn wir den Tod oder besser das Sterben als ein Verhältnis denken, das das Leben zu sich, also wir zu uns selbst einnehmen: eben als die radikalste Form der Abstandnahme von uns selbst, dem Leben und der Welt, mit der wir überhaupt erst ein freies Verhältnis zu uns, zum Leben, zur Welt – und zu unserem Begehren gewinnen. Diesen Punkt haben vier Denker zum zentralen Punkt gemacht: Hegel, Freud, Bataille und Heidegger. Für sie sind der als gelebtes Todesverhältnis und nicht bloß als physisches Ableben verstandene Tod und von ihm her der Todestrieb oder das Todesbegehren konstitutiv für die Freiheit. Nach berühmten Formulierungen Heideggers sind wir als die „Sterblichen“ eben nicht einfach Wesen, die einer letzten Zerstörung preisgegeben sind, sondern Wesen, die in die „Freiheit zum Tode“ gesetzt sind und deshalb „den Tod als Tod vermögen“ – womit übrigens nicht oder nicht in erster Linie gemeint ist, das eigene Ableben oder das anderer willentlich herbeiführen zu können.[10] Deshalb haben Hegel, Freud, Bataille und Heidegger die Verbindung zur Religion nie gekappt, der sie die Einsicht entnehmen, dass wir in-der-Welt-doch-nicht-von-der-Welt sind: eine Einsicht, ohne die gar nicht verstanden ist, worum es in der Geist-und-Leben-Problematik im Letzten geht.[11] Deshalb darf Heideggers Endlichkeitsbegriff auch nicht mit dem postmodern-liberalen Endlichkeitsgequassel verwechselt werden, das immer auf eine Lehre des Sichabfindens und Sichbescheidens hinausläuft – politisch immer auf einen Verzicht auf revolutionäre Politik.

Weil Spinoza den Zusammenhang von Seins-, Todes- und Freiheitsbegehren nicht eigens vollzieht, bleibt sein Denken zumindest in einer wesentlichen Hinsicht doch „Physik des Begehrens“, dem eine – das meine ich wortwörtlich! - zu Ende gebrachte „Phänomenologie der Freiheit“ fehlt. Negri nimmt hier eine dritte Position ein. Er teilt Deine Abweisung eines Todesbegehrens, sieht aber andererseits die Notwendigkeit, die „Physik des Begehrens“ eigens in eine „Phänomenologie der Freiheit“ zu überführen. Das erreicht er, in dem er das Seinsbegehren auf seinen höchsten Ausdruck – die Liebe – zuspitzt und diese Liebe dann via Marx mit der Armut verbindet. So kann er zeigen, dass das Begehren in der von Spinoza freigelegten Aufstufung vom natürlichen conatus zur menschlichen cupiditas und zum heiligen amor eine zweite Möglichkeit radikalen Abstandnehmens von sich gewinnt: man muss mehr als nur sich und das eigene Beharren begehren, um wirklich lieben zu können.[12] Übrigens hat auch Heidegger diese Möglichkeit gesehen, und das unmittelbar nach einer hochdramatischen Beschreibung der seins- und freiheitseröffnenden Todesangst. Er nennt dort zunächst und als seinen zweiten Zugang zur Freiheit die Langeweile, und zwar eine Langeweile, die nicht diesem Vergnügen oder jener Arbeit, sondern der Welt im Ganzen gilt. Dann fährt er fort: „Eine andere Möglichkeit einer solchen Offenbarung birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins – nicht der bloßen Person – eines geliebten Menschen.“[13]

In einer historischen Kritik, die von der antiken virtū über die christliche Nächstenliebe (caritas) und die bürgerliche Askese bis zur kommunistischen Militanz reicht, haben Hardt/Negri dann gezeigt, wie die Liebe mit der Freiheit zusammenhängt, sich zugleich aber auch in die Unfreiheit verstrickt.[14] Das ist der Grund, warum sie den Begriff der Liebe in Bezug zum wesentlich über Marx gewonnenen Begriff der Armut setzen. Darunter verstehen sie nicht einfach einen objektiv zu registrierenden Mangelzustand in der Ausstattung mit Ressourcen der Reproduktion, und nicht einfach das empirische Vorkommen von Armen. Im kalten Herzen der Entfremdung situiert, ist Armut die Erfahrung der herrschaftlich-ausbeuterischen Trennung von der Praxis des Begehrens und von den Mitteln und Produkten dieser Praxis: der Subsumtion der lebendigen unter die tote Arbeit.

Mehr als ein bloßes Faktum objektiver Bedingtheit ist die Armut insoweit, als auch sie ein freies Verhältnis zu sich einschließt: zur Armut gehört, dass sie notwendig und deshalb immer schon um die Wiederaneignung des ihr geraubten Reichtums kämpft. Deshalb gibt die Armut der Geschichte ein „materialistisches telos“ (Ziel) und stellt dem Denken der Geschichte die Aufgabe, dieses telos in einer „materialistischen Teleologie“ zu konkretisieren. Dem entspricht, dass das im letzten Satz von Empire beschworene „Glück, Kommunist zu sein“ kein privates, sondern ein öffentliches Glück ist. Mit diesem Schritt gehen Hardt/Negri über die poststrukturalistische Generation hinaus, deren Antihegelianismus jede Teleologie abweist und damit das Kind mit dem Bad ausschüttet.[15]

Mich führt das wieder vor die Notwendigkeit, „Heideggers Sein und Zeit ‚spinozistisch’ zu lesen oder neu zu schreiben“. Wir haben eben Spinoza (Begehren und Liebe), Heidegger (Sein zum Tode) und Marx (Armut) zusammengebracht, und uns dabei auf Hegel, Freud, Bataille wie auf Deleuze, Leibniz, Foucault und Hardt/Negri bezogen, wir hätten noch andere Autor_innen nennen müssen, voran die Feminist_innen, die das Sein zum Tod in Spannung zu einem Sein zur Geburt setzen. Ich glaube, dass Sein und Zeit die Möglichkeit birgt, dies alles in einem einzigen Vokabular zusammenzuführen, das zugleich kein geschlossenes System wäre. Man kann, das will ich zeigen, die herrschaftliche Trennung von Geist und Leben in Heideggers Begriffen von Dasein und Existenz radikal auflösen und damit den säkularen Begriff eines zugleich „transzendentalen“ und „empirischen“, weil „praktischen“ und zuletzt „revolutionären“ Subjekts gewinnen: des Subjekts, das praktisch in-der-Welt-nicht-von-der-Welt ist. Man wird dann das Zusammengehören von Begehren und Freiheit in Heideggers Begriff der „Sorge um das Sein“ als des lebendigen Seins zu Geburt und Tod finden. Man wird Liebe, Glück und Armut als „Grundbefindlichkeiten des Daseins“ denken können: als Weisen des In-der-Welt-seins, die in sich ebenso „geistig“ wie „leiblich-lebendig“ und „gesellschaftlich“ sind. Man wird endlich eine Ontologie der Welt und das „materialistische telos“ ihrer permanenten Überschreitung, d.h. eine Geschichte formulieren können, die wieder „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (Hegel) wäre: wenn auch nicht unaufhaltsam und unumkehrbar. Man wird dabei je die stärksten Punkte der idealistischen wie der materialistischen Philosophien ineinander übersetzen: die als solche „abstrakt“ gebliebene idealistische Freiheitsspekulation und die materialistisch konkretisierten „Prozesse der Befreiung“. Selbstverständlich schließt das immer wieder ein, um Benjamin zu zitieren, „den Heidegger zu zertrümmern.“[16]

3. Um noch bei Spinoza zu bleiben: Dein Ansatz ist explizit ontologisch. Es geht dir, mit Heidegger, Negri und Badiou um eine Ontologie, die die Möglichkeit der Freiheit eröffnet. Dein Begriff des Ereignisses ist explizit ontologisch. Es gibt Ereignisse, weil die Verfasstheit des Seins sie ermöglicht. Aber ist Spinozas Philosophie wirklich eine Ontologie? Ist sein Gegenstand nicht das gegebene Universum? Sozusagen eine Kosmologie? Kann die Substanz, von der Spinoza ausgeht, mit dem Begriff des Seins, in dem das „ist“ substanzialisiert wird (das ist ein wenig Adornische Kritik an der Ontologie), identifiziert werden?

Hier muss ich etwas Luft holen. Du führst ja selbst Adorno an und forderst damit, philosophisch zu klären, warum Heidegger in Deutschland als Philosoph der Rechten und in Frankreich als Philosoph der Linken gelesen wird. Ich sage philosophisch, weil unstrittig ist, dass Heidegger politisch, wenn auch nur für begrenzte Zeit und auf besondere Weise, Nazi war. Philosophisch läuft das auf die Frage hinaus, in welchem Sinn Heidegger Ontologe war. In Deutschland blieben Lukács’ und Adornos Polemiken maßgebend, Heidegger sei es um eine Restauration der klassischen Ontologie gegangen. Nach deren Zersetzung sei ihm dazu nichts anderes geblieben als die nackte Substanzialisierung des Verbs „sein“ bzw. „ist“. Das ist, es tut mir leid, himmelschreiender Unsinn, und was ich besonders elend finde: Lukács wie Adorno müssen das gewusst haben.

Dabei hat Heidegger tatsächlich am Verb „sein“ angesetzt: weil und sofern seine berühmt-berüchtigte „Seinsfrage“ immer und überall nach dem fragt, was wir mit diesem Verb eigentlich meinen – man lese dazu doch wenigstens die Seite 1 von Sein und Zeit. Er macht das, weil seine „Fundamentalontologie“ die Fundamente der klassischen Ontologie nicht neu verlegen, sondern abtragen, de(kon)struieren will, eben auf das hin, was wir eigentlich gemeint haben, als wir diese Fundamente mit den Namen Gott, Idee, Substanz, Materie, Geist belegt haben, d.h. mit dem Namen eines höchsten und allgemeinen Seienden als des Grundes allen Seins. Es ist dies, wie umstandslos einzusehen ist, ein Verfahren der Kritik: Du sagst dieses oder jenes, ich sage Dir, dass Du getäuscht wurdest bzw. Dich getäuscht hast, und ich sage Dir, was Du eigentlich gemeint hast.

Nirgendwo geht es bei Heidegger um ein endlich gefundenes „Sein an sich“, sondern immer nur um ein „Sein für uns“ – an einer der wichtigsten Stellen von Sein und Zeit heißt es deshalb definitorisch: „Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen werden, dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden.“[17] Zum Mitschreiben: Es geht, wie in einer Phänomenologie als Wissenschaft von der Erfahrung des wirklichen Lebens nicht anders zu erwarten, um Erfahrungen, und zwar um solche, die verdeckt, verdrängt, verstellt werden – das ist die ebenfalls berühmt-berüchtigte „Seinsvergessenheit“ und „Seinsverlassenheit“.

Heidegger entfaltet diese „ursprünglichen Erfahrungen“ auf zwei Ebenen. Auf der ersten und eigentlich phänomenologischen Ebene geht es wie schon gesagt um die Todesangst, ausgedeutet in Sein und Zeit (1927) und Was ist Metaphysik? (1929), dann um die Langweile, auf fast 200 von über 500 Seiten ergreifend ausgedeutet in der Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (1929/30), und schließlich um die Liebe, angeführt in Was ist Metaphysik?, doch – bezeichnenderweise? – nicht ausgeführt. Man versteht unmittelbar, dass wir solche Erfahrungen schnell vergessen wollen, und dass wir den plötzlich erfahrenen Abgrund schnell durch etwas „Positives“ verdecken: Gott, Idee, Substanz, Materie, Geist, in punkto Liebe durch Ehe, Familie, Nation und wieder Gott. Die Phänomenologie lehrt uns dann noch ein Zweites, Beunruhigenderes: das nicht nur wir diese Erfahrungen vergessen, sondern dass diese Erfahrungen sich selbst, auch ohne unser Zutun, vergessen machen. Dass wir nicht einmal die Herr_innen dieser Vergesslichkeit sind, fasst Heidegger im Begriff der „Seinsverlassenheit“, in dem das Sein als „etwas“ zu denken bleibt, das nur im Entzug, im Abwesen anwest.

Die zweite Ebene ist die historisch-kritische, die berühmt-berüchtigte „Seinsgeschichte“. In ihr nimmt Heidegger, auch hier Hegel folgend und über ihn hinausgehend, die Philosophiegeschichte zum Medium einer Entschlüsselung der Realgeschichte: womit er nicht sagen will, dass die Realgeschichte von der Philosophie „gemacht“ werde. Der erste Satz der Seinsgeschichte lautet: „Die Seinsgeschichte ist das Sein selbst und nur dieses. Weil jedoch das Sein zur Gründung seiner Wahrheit im Seienden das Menschenwesen in den Anspruch nimmt, bleibt der Mensch in die Geschichte des Seins einbezogen.“[18] Auch hier geht es also um Erfahrungen: um In-Anspruch-nahmen des (verbal verstandenen) Menschenwesens durch das Sein. Deren letzten „Sinn“ fasst Heidegger wieder und wiederholt in Hegels Satz: „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.“ Bei Heidegger verweist dieser Satz auf die berühmt-berüchtigte „ontisch-ontologische Differenz“. Sie ist ontologisch, weil sie besagt, dass das Sein kein Seiendes ist, keine Substanz, kein Subjekt, kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun. Sie ist ontisch, weil es diese Differenz nicht „an sich“, sondern nur „für uns“ gibt: auch wenn wir diese Differenz nur „entwerfen“, weil wir in sie „geworfen“ sind. Deutet die Phänomenologie diese Erfahrung in Todesangst und Langeweile, so zeigt die Seinsgeschichte, dass und wie sich Todesangst und Langeweile im nihilistischen „Gestell der Technik“ epochal politisiert haben und zur Welt geworden sind – um jetzt weit zu springen: zu dem, was Negri „Empire“ nennt.

Und was kommt jetzt? Das hast Du in Deiner Frage schon genannt: Das Ereignis, von dem Du insofern zu Recht sagst, dass es durch die „Verfasstheit des Seins ermöglicht“ wird: durch die Erfahrung des Seins als des Nichts. Und was bringt uns das Ereignis? Heidegger sagt: die „Kehre“ und meint damit die deutsche Übersetzung des spätlateinischen revolutio, Zurückwälzen, Zurückdrehen, entwickelt aus dem Verb revolvere, zurückrollen, zurückdrehen, französisch als révolution gefasst, Umdrehung, Umwälzung.

Das hat die französische Heidegger-Lektüre zum Ausgangspunkt genommen, darum ist seine Philosophie für sie eine Philosophie der Linken. Das war ihr zum Teil sicherlich deshalb möglich, weil ihr Heideggers politische Selbstdeutung der Jahre 1933/34 ferner lag als dies für Lukács und Adorno der Fall war. Worin übrigens schon eine Antwort auf die Frage liegt, wie diese Selbstdeutung möglich war. Das prägende Ereignis des 20. Jahrhunderts war die Oktoberrevolution, und die italienischen Faschist_innen und deutschen Nationalsozialist_innen haben dieses Ereignis absichtsvoll in ein Simulakrum, ein Trugbild verkehrt. Badiou, einer der wichtigsten Denker des Ereignisses nach Heidegger, nennt drei Weisen, das Ereignis zu verfehlen und derart dem „Bösen“ zu verfallen: den Verrat (es gab gar kein Ereignis: das Böse vieler 68er), die Hybris (die Erzwingung des Ereignisses durch Gewalt: das Böse Stalins) und eben das Simulakrum (die Verwechslung des Ereignisses mit seinem Trugbild: das Böse Heideggers).[19] Das ist noch nicht alles, trifft aber einiges.

Ich will Deine Frage nach Spinoza und der Ontologie nicht vergessen. Wenn Spinoza, wie Du sagst, nicht Ontologe, sondern Kosmologe gewesen ist, der das gegebene Universum denken wollte, würde Heidegger zurückfragen: Was heißt „Gegebensein“ des Universums? Wann geschieht das, in welcher Grundbefindlichkeit erfahren wir das Universum einerseits als ein solches, d.h. im Ganzen und andererseits als uns gegeben? Wie muss das Universum, wie müssen wir sein, damit das möglich wird? Über Spinozas und Heideggers Ontologie zu reden, heißt dann, die Liebe, die Todesangst und die Freiheit auf unsere Situation zu konkretisieren.

4. Meine letzte Frage verknüpft den Begriff der Freiheit mit deiner These, eine bloß sozialwissenschaftliche Herangehensweise könne nie und nimmer den Begriff des Kommunismus rehabilitieren und den Begriff der Freiheit begründen. Dass bloße Empirie ihre Grenzen hat und die Daten nicht zu uns sprechen, können wir wohl außer Streit stellen. Die entscheidende Frage ist für mich folgende: Konstruiert oder konstituiert das Denken seinen Gegenstand, oder reflektiert und analysiert das Denken den ihm vorgegebenen Gegenstand? Althusser versuchte offenbar ersteren Weg zu gehen, Marx nach meiner Auffassung den zweiten. Der hat im Kapital das Kapitalverhältnis nicht begrifflich, logisch oder dialektisch konstruiert, sondern soziale Gegebenheiten als historisch entstandene analysiert. Um es also ganz platt auszudrücken: Philosophie darf sich nicht neben die gegebene Wirklichkeit stellen, sondern muss diese sachhaltig denkend erfassen. Im ersten Falle verliert das Denken letztlich den Realbezug. Auch bei Negri, gerade in seinen späteren Schriften, sehe ich die Gefahr, dass seine Begriffe und Thesen sich nicht mehr mit unseren Erfahrungen vermitteln lassen. Wie entkommt dein Buchprojekt dieser Gefahr, so du diese überhaupt als solche akzeptierst?

Natürlich akzeptiere ich diese Gefahr: schließlich geht es mir um eine Wissenschaft der Erfahrungen wirklichen Lebens, und ich habe ja gerade ausgeführt, dass wir diese Erfahrung vergessen und dass sich uns diese Erfahrung, was noch gefährlicher ist, entzieht. Das aktuell erdrückendste Beispiel solcher Seins-, also Erfahrungsverlassenheit ist der weltweit herrschende Glaube an das Ende der Geschichte, der zwar täglich löchriger wird, doch noch lange nicht gebrochen ist. Der Neoliberalismus ist nicht bloß eine politökonomische Ideologie, sondern die ethisch-alltägliche und politisch-institutionelle Artikulation der aktuellen Seinsverlassenheit. Als solche untergräbt er unser Begehren, zwingt es, nur noch Begehren der bloßen Selbsterhaltung zu sein und allein das zu begehren, was die gegebene Welt ihm bietet – fressen, ficken, fernsehen, und ums Verrecken einen Arbeitsplatz. Das meine ich, bittschön, nicht als moralischen Vorwurf, sondern einerseits phänomenologisch und andererseits wortwörtlich: Ohne Arbeitsplatz geht’s für Millionen unmittelbar aufs Verrecken zu.

Deshalb ist kommunistische Politik heute Politik zur Befreiung des Begehrens und Politik, in der das Begehren sich befreit. Dazu muss es seine neoliberale Reduktion durcharbeiten, und die liegt darin, das jetzt Gegebene für das Ganze des Gegebenen zu halten und sich ums Verrecken an dies Gegebene zu halten, sich ums Verrecken in diesem Gegebenen zu erhalten. Dieses Gegebene ist nicht vom Denken konstituiert, so wenig wie das Denken vom Gegebenen konstituiert wird. Die Frage nach der Konstitution kommt immer zu spät, weil es kein Denken ohne sein Gegebenes und kein Gegebenes ohne sein Denken gibt: das war Husserls Punkt, den Heidegger radikalisiert, indem er zeigt, dass sich uns das, was dem Denken und seinem Gegebenen vorausging, immer schon entzogen hat.

Will Wissenschaft da intervenieren, muss sie sich gegen das neoliberale Gerede Gehör verschaffen. Negri hat erfolgreich gezeigt, wie das gelingen kann, indem er den aus dem öffentlichen Diskurs verbannten Kommunismus mit der Armut, dem Glück, der Liebe und dem Ereignis zusammengebracht hat und damit gehört worden ist. Badiou und Žižek sind gehört worden, indem sie den Kommunismus mit der Treue und dem Ereignis bzw. mit dem Todesbegehren und dem Ereignis zusammengebracht haben. Das meine ich nicht diskursputschistisch: Sie haben, wovon wir hier nicht gesprochen haben, den Kommunismus als „Wahrheit der Existenz“ – einer der wichtigsten Begriffe Heideggers – verständlich gemacht und deshalb wissenschaftliche, ethische und politische Wahrheitseffekte erzielt.

Die Sozialwissenschaft kommt später, was ich nicht im zeitlichen Sinn des Wortes meine. Sie wird gebraucht, um uns im praktischen Wahrheitszeugnis zu helfen, uns zum Beispiel empirischen Anhalt zu geben, wo sich gerade welche Multituden bilden und wie diese Multituden ihr Begehren besser politisieren, d.h. organisieren können, als sie dies bis jetzt tun.[20] Da hilft uns Phänomenologie nur bedingt. Heidegger zum Beispiel, um damit zu enden, hätte ums Verrecken Sozialwissenschaft gebraucht. Stärker kann ich deren Notwendigkeit kaum unterstreichen.


[1] Im Vorgriff vgl. Thomas Seibert, Krise und Ereignis. 27 Thesen zum Kommunismus, Hamburg 2009.

[2] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, Ostberlin 1969: 5ff. Zur Einführung vgl. http://dhcm.inkrit.org/wp-content/data/hkwm-feuerbach-thesen.pdf.

[3] Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens. Vorlesung 1919. Frankfurt 1995. Für einen Überblick über die jüngeren Paulus-Deutungen Agambens, Badious, Santners und Žižeks vgl. Dominik Finkelde, Politische Eschatologie nach Paulus, Wien 2007. Wer hier Negri vermisst, sei auf seine Deutung des Buches Hiob verwiesen: The Labor of Job, Duke 2009.

[4] Herbert Marcuse, Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus. In: Herbert Marcuse/Alfred Schmidt: Existentialistische Marx-Interpretation, Frankfurt 1973: 41ff.

[5] Sehr pointiert in der Unterscheidung: Gajo Petrović, Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute, http://www.praxisphilosophie.de/petrovor.pdf.

[6] Michael Hardt/Antonio Negri, Common Wealth, Frankfurt 2010: 15f. Vgl. auch: Jean-Luc Nancy, La decision d’existence. In: Une pensée finie, Paris 1990: 143.

[7] Antonio Negri, Kairos, Alma Venus, Multitudo. In: Time for Revolution, New York/London, 2003: 186f und 253.

[8] Baruch de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg 1976: 118.

[9] Karl Reitter, Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens, Münster 2011: 296.

[10] Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1986: 266 bzw. Bauen Wohnen Denken, in: Vorträge und Aufsätze, Tübingen 2009: 145.

[11] Vgl. Offenbarung des Johannes, 17:14.

[12] Vgl. die Verweise im Register der Ethik: conatus, Streben, 332, cupiditas, Begierde, 317 und amor, Liebe, 327. Vgl. in Hardt/Negri 2010: 192 – 205 u. pass.

[13] Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? In: Wegmarken, Frankfurt 1967: 110.

[14] Negri 2003a: 217ff; vgl. auch Hardt/Negri 2010: 194ff.

[15] Michael Hardt/Antonio Negri, Empire, Frankfurt 2000: 420. Da der Begriff der „materialistischen Teleologie“ vielleicht der eigentliche Leitbegriff ihres Denkens ist, hier folgende Belegstellen: Hardt/Negri 2000: 61, 65, 76 – 79, 98, 139, 214, 375f, 403, 412 sowie Hardt/Negri 2010: 73, 385.

[16] Walter Benjamin, Briefe. Hg. von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Bd. 2, Frankfurt 1966: 514.

[17] Heidegger 1986: 22.

[18] Martin Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 1961: Bd. 2, 489.

[19] Alain Badiou, Ethik, Wien 2003: 79 – 119.

[20] Michael Jäger/Thomas Seibert, alle zusammen. jede für sich. die demokratie der plätze, Hamburg 2012.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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