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Daniel Andersen: Die Ökonomie als “letztes Bollwerk des Essentialismus”?
“Seitdem die Gesellschaft auf den
Boden der ökonomischen Tatsachen zurückgeholt wurde, ist der kulturalistische
Karneval der Differenzen vorbei. Unter dem bunten Überbau der Gesellschaft
kommt, in orthodoxer Diktion, ihre eintönige gemeinsame Basis wieder zum
Vorschein. Und was um die Verknüpfung von Kämpfen bemühten Aktivisten in
Jahrzehnten nicht gelang, hat die globale Krise binnen kürzester Zeit geschafft:
Millionen gehen gleichzeitig an allen Orten der Welt mit demselben Anliegen auf
die Straße. ... “It’s the economy, stupid!” – eine eher diffuse Erkenntnis dieser Art zieht seit dem Ausbruch des aktuellen kapitalistischen Krisenzyklus 2007, der wachsenden Prekarisierung der Mittelschicht und damit auch weiter Teile der eher bürgerlich und akademisch geprägten Linken und dem Abflauen des postmodernen Theorie-Hypes zunehmend weite Kreise. Aus guten Gründen möchte gleichzeitig kaum jemand zurück zu einer Privilegierung des “Hauptwiderspruchs” Kapital-Arbeit, gar zu einer ideologischen Überhöhung des (oft männlichen-weiß gedachten) Proletariats. Aber hat man nicht doch ein wenig “das Kind mit dem Bade ausgeschüttet”, als seit Ende der 1970er Jahre die marxistischen Kategorien der politischen Ökonomiekritik von weiten Teilen der Linken für obsolet erklärt wurden und stattdessen die fröhliche Feier der Differenz, des Diskursiven und der referenzlosen Simulakren sowie die Beschwörung der Pluralität von Herrschaft und der kleinteiligen Veränderungen im Hier und Jetzt begannen...? Aber wie müsste der Status der Ökonomie im Hinblick auf andere gesellschaftliche (Herrschafts-)Bereiche konzipiert werden, wenn diese als “in letzter Instanz” determinierend, aber nicht deterministisch gedacht werden soll? In den 1970er Jahren bildet die Frage ökonomischer Determination den Dreh- und Angelpunkt der Absetzbewegung vom Marxismus und von einer Bezugnahme auf eine revolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Exemplarisch dafür ist die postmoderne, “post-marxistische” politische Theoriebildung bei Ernesto Laclau und Chantale Mouffe. Relativ versteckt, aber argumentationslogisch zentral setzen sie sich in ihrem Hauptwerk Hegemony and Socialist Strategy[2] mit dem von Friedrich Engels eher beiläufig geprägten Konzept der “Determination durch die Ökonomie in letzter Instanz” auseinander. Sie verabsolutieren jedoch dessen starr-ökonomistische Auslegung durch die sozialdemokratische II. Internationale und den Stalinismus und ziehen andere Interpretationen gar nicht erst in Betracht – genau dies soll hier jedoch versucht werden. Der Begriff ökonomischer Determination verbindet sich mit der Frage von Reform und Revolution in doppelter Weise: I.) durch seine Bezugnahme auf eine Totalität, ein gesellschaftliches Ganzes – nämlich den Kapitalismus (bzw. die von der kapitalistischen Produktionsweise dominierte Gesellschaftsordnung), der als Ganzes abgeschafft und durch eine qualitativ neue Gesellschaftsordnung ersetzt gehört. Dem steht die postmoderne Abwendung von der Totalität zugunsten mikropolitischer Machtanalysen (Foucault, Deleuze) sowie eine affirmative Bezugnahme auf die rein sektoralen Kämpfe der Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren gegenüber. “’Society’ is not a valid object of discourse” schreiben Laclau/Mouffe folgerichtig[3] – die akademisch-höfliche Version von Margaret Thatchers ungefähr zeitgleicher Sentenz: “There is no such thing as society.” II.) durch seinen Notwendigkeitscharakter, der das politische Handeln begrenzt oder in bestimmte strategische Formen zwingt. So ist etwa der Klassenkampf eine objektive Realität, die sich schlicht durch den eisernen Zwang zur maximalen Kapitalverwertung reproduziert. Unabhängig davon, ob so etwas wie Klassenbewusstsein existiert oder nicht, muss eine auch nur reformistisch orientierte Bewegung auf den Klassenkampf als strukturierenden Rahmen des Politischen Bezug nehmen, inklusive der daraus resultierenden strategischen Erfordernisse (etwa der Notwendigkeit der Koalitionsbildung unter den lohnabhängig Beschäftigten, der Abwehr von Streikbrecher/inne/n, der Einschätzung des bürgerlichen Staatsapparats als nicht-neutraler Instanz usw.). Aber auch die anderen politischen Kämpfe, egal wie nah oder weit sie von im engeren Sinn ökonomischen Fragen entfernt sind, werden mindestens indirekt durch die systemischen Zwänge der Kapitalverwertung berührt, begrenzt oder vorgeformt. Sei es, weil der Zugang zu materiellen Ressourcen (und somit die Verteilung des Mehrwerts) auf dem Spiel steht; sei es, weil auch Fragen der persönlichen Lebensgestaltung oder der “Anerkennung” vom gesellschaftlichen Zwang zur Konditionierung lohnarbeitsfähiger Subjekte nicht unabhängig gedacht werden können. (Dieser Punkt wird nicht zuletzt von der marktförmigen neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft bis in den Alltagsverstand der Individuen hinein illustriert.) Aus der Annahme einer solchen strukturierenden Kraft ökonomischer Zwangsverhältnisse im Hinblick auf gesellschaftliche Herrschaft insgesamt folgt keineswegs eine deterministische oder gar teleologische Geschichtsauffassung und auch kein Verständnis von Ökonomie als abstraktem “unbewegtem Beweger”, der gottähnlich über den realen Verhältnissen steht. Diese Ideologeme entspringen vielmehr der Gedankenwelt der sozialdemokratischen II. Internationale und des Stalinismus – sind mithin Ausdruck des reformistischen Verfalls der revolutionären Arbeiter/innen/bewegung. Laclau und Mouffe tun jedoch so, als müsse das Konzept einer letztinstanzlichen ökonomischen Determination zwangsläufig auf einen solchen Determinismus hinauslaufen – sie bezeichnen es als “letztes Bollwerk des Essentialismus”[4]. Damit nehmen sie den Anspruch der stalinistischen kommunistischen Parteien, den “authentischen” Marxismus allein zu repräsentieren, für bare Münze. Kein Wunder, dass sich in Hegemony and Socialist Strategy keine einzige direkte Referenz auf Marx findet, sondern Versatzstücke des “offiziellen Marxismus” zu einem hyperdeterministischen Pappkameraden aufgebaut werden, der ohnehin von niemandem mehr ernsthaft vertreten wird. Diesem stellen Laclau und Mouffe ihr eigenes Verständnis des Politischen entgegen, das alle sozialen und politischen Verhältnisse als kontingent und in alle Richtungen hin offen beschreibt: Alles ist mit allem “artikulierbar”, jegliche Notwendigkeitsbestimmungen im Hinblick auf Interessenslagen, Handlungsoptionen oder Zielsetzungen gelten ihnen als unzulässiger, apriorischer “Essentialismus”. Zwar konzedieren sie im Anschluss an Lacan die Notwendigkeit sogenannter “nodal points” (Knotenpunkte), die die Offenheit der Signifikationen, Identitäten und sozialen Beziehungen begrenzen; ferner ist bei ihnen gelegentlich auch vom “materiellen Charakter” jeder diskursiven Struktur die Rede, der einer ideellen Beliebigkeit entgegenzustehen scheint. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass sie mithilfe des von Althusser entwendeten Begriffs der “Überdetermination” jedes fixe Element als prinzipiell in alle Richtungen beweglich (“pierced by contingency”[5]) kennzeichnen, die “nodal points” folglich jederzeit auflösbar sind.[6] Überdetermination, von Althusser eingeführt, um zu verdeutlichen, dass Klassenkämpfe niemals “in Reinform” auftreten, sondern stets von anderen (geschlechtlichen, religiösen, nationalen, etc.) Konflikten überlagert – auch in dieser Gemengelage jedoch nicht als solche eliminiert – werden, verkommt in Laclau/Mouffes Interpretation zu bloßer Indetermination. (Nicht zufällig war “Indeterminate Communism” der Titel eines stark akademisch-postmodernistisch geprägten “Kommunismus-Kongresses” im Jahr 2003 in Frankfurt/Main, zu dem auch Chantal Mouffe geladen war). “The critique of reductionism has apparently resulted in the notion of society as a totally open discursive field.” (Stuart Hall über Laclau/Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy)[7] Entweder 100% eindeutige Determination oder völlige Offenheit – vor diese alleinige Alternative werden wir von Laclau und Mouffe gestellt. Das Ergebnis ist ein subjektivistischer Politizismus, der keine (systemisch oder historisch bedingten) strukturellen Begrenzungen mehr kennt, sondern politisches Handeln stets an den augenblicklichen Bündnisoptionen orientiert – viel postmodernes Theoriegedöns als Apologie des immergleichen opportunistischen Impulses. Ernesto Laclau geht so weit, die KPD der 1920er Jahre für ihre “bornierte” Klassenpolitik zu tadeln und empfiehlt rückblickend Radeks “Schlageter-Linie”, die ein “hegemoniales Bündnis” mit deutschen Nationalisten ermöglicht hätte.[8] In der Konzeption des Ökonomischen als strukturierendem Prinzip eines gesellschaftlichen Ganzen gilt es jedoch, die Fallstricke des Ökonomismus zu vermeiden und dabei zum einen das Wesen dieser Determination (die in ihr angelegte spezifische Kausalität oder Wirkmächtigkeit) und zum anderen das Wesen des Ökonomischen näher zu beleuchten. 1.) Es soll ein “sektorales” Ökonomieverständnis vermieden werden, das Ökonomie auf eine Frage der Verteilung (im Unterschied etwa zu “Anerkennung”) reduziert (z.B. Nancy Fraser). Ebenso wird ein “limitativer” Determinationsbegriff verworfen, der die Relativität (die “Letztinstanzlichkeit”) ökonomischer Determination lediglich an ihre Reichweite (die Intensität, den Zeitraum oder den Gegenstandsbereich) bindet, dabei jedoch die qualitative Prägung des Determinierten durch die Determination außer Betracht lässt (Norman Geras). 2.) Es geht folglich “ums Ganze”: Die Ökonomie ist primär eine Frage der Produktion, nicht der Verteilung, und die Produktion strahlt auf die gesamte Gesellschaft aus. Damit soll jedoch nicht das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit als “Hauptwiderspruch” gegenüber anderen Unterdrückungsverhältnissen privilegiert werden. Gemeint ist vielmehr, dass die kapitalistische Produktionsweise der gesamten Gesellschaft ihren Stempel aufdrückt und alle gesellschaftlichen Verhältnisse in einer ihr zuträglichen Weise organisiert und diesen ihren Platz zuweist – ganz im Sinne der berühmten Marxschen Metapher in der Einleitung zu den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie: “In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind und [welche] sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.”[9] Die totalitätsstiftende Kraft der kapitalistischen Produktionsweise als “allgemeine Beleuchtung” aller gesellschaftlichen Beziehungen resultiert im Wesentlichen aus dreierlei Gründen: a) Die immanenten systemischen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise (Wertgesetz, Zwang zur Selbstverwertung des Werts, ...) bestehen unabhängig vom Wollen und Wissen der gesellschaftlichen Akteur/inn/e/n und erzeugen – bei Strafe des Stillstands der materiellen Produktion oder des Untergangs ihrer Agent/inn/en – einen permanenten, massiven Druck zugunsten ihrer Realisierung. (Natürlich setzen sich diese nicht zwangsläufig und unvermittelt durch, aber das “Theater des Politischen” wird beständig in ihren Bann gezogen, kreist um sie herum und wird bisweilen eben auch von ihnen vereinnahmt.) b) Diese systemischen Gesetzmäßigkeiten sind auf Existenzbedingungen angewiesen, welche jenseits der eigentlichen kapitalistischen Produktionssphäre liegen, von dieser jedoch im Interesse ihrer fortlaufenden Reproduktion parasitär angeeignet und zugerichtet werden – so etwa Hausarbeit, Erziehung, Pflege oder Bildung. Zu den Existenzbedingungen gehört aber auch die Atomisierung der lohnabhängig Beschäftigten entlang zahlreicher realer und imaginärer Spaltungslinien. Sie entsteht einerseits “naturwüchsig” aus der systemischen Konkurrenz der Arbeiter/inne/n untereinander, sie kann aber andererseits bei Bedarf (meist verschärften Klassen- oder Verteilungskämpfen) auch mit “außerökonomischen” politischen Mitteln angestachelt werden (Rassismus und Sexismus; zur Atomisierung ist auch die Vereinzelung der politischen Subjekte im Rahmen des auf den individuellen Wahlakt ausgerichteten politischen Systems zu nennen). Hinzu kommt natürlich die “historische Trägheit” des rückschrittlichen Bewusstseins auch unter den Subalternen selbst, die gemäß dem physikalischen Trägheitsgesetz solange “ihre Bahn fortsetzt”, wie sie von keinen äußeren Kräften davon abgebracht wird. Die Kräfte des Kapitals haben daran jedoch nur ein begrenztes, und zwar von den Erfordernissen des Betriebsfriedens, des (Fach-)Arbeitskräftebedarfs und der Exportwirtschaft diktiertes Interesse. c) Den kapitalistischen Produktionsverhältnissen wohnt eine ebenso expansive wie destruktive Dynamik inne, die tendenziell immer weitere Lebensbereiche zu tangieren und letztlich dominieren sucht (reelle Subsumtion der Arbeitskraft, Ökonomisierung der natürlichen Ressourcen, warenförmige Gestaltung von Freizeit- und Reproduktionssphäre, ...) und die im Zeichen der periodischen kapitalistischen Krise tendenziell die gesamte Gesellschaft in Mitleidenschaft zieht (wie heute – nicht nur – in Griechenland zu beobachten ist, wo die ökonomische Zerrüttung die Lebenssituation nicht nur der männlichen Arbeiter, sondern insbesondere von Frauen, Jugendlichen und Migrant/inn/en beeinträchtigt). Wie unter b) ausgeführt ist der Kapitalismus zwar auf noch nicht von ihm “kolonisierte” Bereiche angewiesen, so dass dem expansiven Drang der Kapitalverwertung eine innere systemische Grenze gesetzt ist. Dieser Drang jedoch formt und beschränkt von vornherein den Spielraum des Politischen; und im Zeichen der periodischen Akkumulationskrisen werden politisch mühevoll erkämpfte Errungenschaften regelmäßig wieder zunichte gemacht oder infrage gestellt. Denn die Grundlage des Kapitals ist sowohl in politischer wie ökonomischer Hinsicht letztlich eben doch eine nationale (wie der Zerfallsprozess der EU und des Euros und die wachsende Entfremdung innerhalb der transatlantischen “Bündnispartner” gerade sehr anschaulich zeigen). Folglich werden die im nationalen Rahmen getroffenen politischen Vereinbarungen (Kompromisse, Zugeständnisse, die den Verwertungsprozess “zähmen”, “regulieren”, d.h. vordergründig erst einmal behindern) in dem Moment hinfällig oder jedenfalls stark bedroht, in dem sie dem internationalen Konkurrenzwettbewerb, der sich die nationalen Kapitalien – bei Strafe ihres Untergangs – zu stellen haben, im Wege stehen (und in der Krise setzen sich unter dem Druck der Umstände in der Regel die vordergründigen gegenüber den “vernünftigen”, längerfristigen Kapitalinteressen durch). 3.) Wenn der Ökonomiebegriff folglich nicht auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital eingeschränkt wird, sondern im Hinblick auf die Existenzbedingungen und die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erweitert wird, sind die Fragen von Herrschaft, Geschlechterverhältnissen oder Umgang mit natürlichen Ressourcen in ihm inbegriffen. Laclau und Mouffe hingegen beziehen sich mit ihrem Verständnis von (Determination durch die) Ökonomie implizit auf die Tradition des sozialdemokratisch-stalinistischen Ökonomismus im Sinne einer Privilegierung des – auf reine Lohnfragen reduzierten – Klassenkampfs als “Hauptwiderspruch”. Dies jedoch ist gerade ein Ausdruck des reformistischen Verfalls der Arbeiter/innen/bewegung – Ausdruck dessen, dass hier der Bezug “aufs Ganze” zugunsten der unmittelbaren Interessen von Teilen der lohnabhängig Beschäftigten fallengelassen wurde. Paradigmatisch dafür ist der französische Mai ’68, der von der stalinisierten Kommunistischen Partei für ein paar Lohnerhöhungen ausverkauft wurde. 4.) Das Verhältnis des Ökonomischen zum “Nicht-Ökonomischen” (d.h. auch, aber nicht nur zu seinen im engeren Sinn außerökonomischen Reproduktionsbedingungen) zeichnet sich unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise wesentlich durch die mystifizierende Abspaltung “der” Ökonomie vom Rest der Gesellschaft, d.h. insbesondere durch die Trennung von Ökonomie und Politik aus. Diese Trennung wird von der “postmarxistisch”-postmodernen politischen Theorie im Grunde als selbstverständliche Gegebenheit vorausgesetzt. “Radikaldemokratie” schreiben sich Laclau und Mouffe auf ihre Fahnen – aber wie wäre diese denn vorstellbar, solange Privateigentum an den Produktionsmitteln herrscht und die damit verbundenen Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten eine wahrhaft gesellschaftliche Entscheidung darüber, wie gelebt, produziert und konsumiert werden soll, versperren? Erst mit der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise würden sowohl Ökonomie als auch Politik und Staat in die Gesellschaft aufgelöst. 5.) Die politische Relevanz dieser Analyse zeigt sich daran, dass der hier vorausgesetzte Determinationsbegriff keiner linearen Kausalität folgt, dass also nicht die Frage nach der ursächlichen Entstehungsgeschichte dieser oder jener Herrschafts- und Unterdrückungsform im Vordergrund steht, sondern die Frage nach deren Abschaffung. Die meisten davon sind tatsächlich bereits vor dem Kapitalismus entstanden – eine Tatsache, die jedoch oft verwendet wird, um die Determinationsthematik in unfruchtbarer Weise auf die Frage “Wer oder was hat schuld?” zu reduzieren und vom eigentlich Spannenden, politisch Relevanten abzulenken. Völlig unabhängig von ihrem Ursprung können nämlich sämtliche Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse nur mit einer Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise als conditio sine qua non abgeschafft werden. Der Hinweis darauf, dass dies eine notwendige und noch nicht hinreichende Bedingung sei (dass also mit dem Tag X der Vergesellschaftung der Produktionsmittel noch nicht das Patriarchat und der Rassismus abgeschafft sind), sollte sich – eigentlich – erübrigen, wenn deutlich geworden ist, dass (und wie) eine solche Umwälzung nicht vom Himmel fallen wird (bzw. nicht, wie nach 1945 in Osteuropa von einer militärischen Macht aufoktroyiert werden wird), sondern erkämpft werden muss. Dieser Kampf kann nämlich nur dann erfolgreich sein, wenn in ihm der Kommunismus – als “wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ (Marx in der Deutschen Ideologie) – bereits “vorweggenommen” wird, wenn er sich also den Kampf gegen sämtliche Formen von Unterdrückung auf die Fahnen schreibt. Nicht (nur) aus moralischen, sondern allein schon aus strategischen Gründen verbietet sich per se 1.) eine Fixierung auf reine Lohnfragen (bzw. die unmittelbaren Interessen des weißen, männlichen Facharbeiters), weil diese ja als solche automatisch im kapitalistischen Rahmen der Anerkennung von Lohnarbeit verblieben; und 2.) ist ein die Lohnfragen überschreitender Kampf um die Aneignung der Produktionsmittel darauf angewiesen, dass gerade die am meisten unterdrückten Schichten der Arbeiter/innen/klasse (Frauen, Migrant/inn/en, Jugendliche, ...) zu politischem (Selbst-)Bewusstsein erwachen und im Rahmen der neuen Organe der Doppelherrschaft (Räte ... oder was es auch immer an konkreten Organisationsformen geben wird) ihre Interessen artikulieren – die zwangsläufig keine rein ökonomischen sein, sondern “das ganze Leben” und damit alle Sphären von Herrschaft und Unterdrückung betreffen werden. Eine Revolution, die ausschließlich oder auch nur in erster Linie von männlichen, weißen Facharbeitern getragen würde, ist schlichtweg undenkbar – die gesamte Geschichte der weltweiten Arbeiter/innen/bewegung wie auch die logische Notwendigkeit der Überwindung von Spaltungen sprechen dagegen. Es geht folglich um die strategische “Überdetermination” der ökonomischen Kämpfe mit allen anderen Formen von Unterdrückung als notwendige Voraussetzung – schon für das Gelingen der rein ökonomischen Kämpfe (vgl. das Beispiel des Gate Gourmet-Streiks 2005, der nur durch den Zusammenhalt weiblicher und männlicher, eingewanderter und deutscher Arbeiter/innen und durch die selbständige Artikulation der “besonderen” Interessen der Frauen und Migrant/inn/en durchgestanden werden konnte) – sowie für das Weitertreiben der ökonomischen Kämpfe in Richtung der Aneignung der Produktionsmittel und der Transformation der gesamten Gesellschaft. Die ökonomische Determination hat folglich einen projektiven Charakter, der in allen politischen Projekten vorausgesetzt sein muss, wollen sie nicht im Fahrwasser eines Reformismus enden, der sich mit der Reparatur dieser oder jener Teilbereiche begnügt und die grundlegende Frage “Wie soll die Gesellschaft organisiert sein?”, die unmittelbar an die Frage der Produktionsweise gebunden ist, außer Acht lässt. Sofern die revolutionäre Option scheitert, wird die letztinstanzlich determinierende Kraft des Ökonomischen regressiv in Erscheinung treten – eben in Gestalt der globalen Krise kapitalistischer Verwertung, die als Immobilien- und Finanzkrise ihren Ausgang nahm, heute als Staatsschuldenkrise erscheint und morgen als ausgewachsene Weltwirtschaftskrise samt Krieg und Massenverelendung alle gesellschaftlichen Sphären mit sich in den Abgrund reißen könnte. Anmerkungen/Quellenangaben: [1] Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: Editorial zu Kosmoprolet # 3, Berlin 2011. [2] Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London/New York 2001 (erste Auflage 1985). [3] Vgl. ebenda, S. 111. [4] Vgl. ebenda, S. 75. [5] Vgl. ebenda, S. 110. [6] Vgl. ebenda, S. 112: “The impossibility of an ultimate fixity of meaning implies that there have to be partial fixations – otherwise, the very flow of differences would be impossible. [...] We will call the privileged discursive points of this partial fixation, nodal points. (Lacan has insisted on these partial fixations through his concept of point de capiton, that is, of privileged signifiers that fix the meaning of a signifying chain)”. [7] Stuart Hall: On postmodernism and articulation. An Interview with Stuart Hall, ed. by Lawrence Grossberg, in: Kuan-Hsing Chen, David Morley (Hg.): Stuart Hall. Critical Dialogues in Cultural Studies, London 1996, S. 146. [8] Laclau vertritt diese Auffassung in seiner Auseinandersetzung mit Poulantzas, den er – ebenso wie den für dessen Theoriebildung zentralen Gramsci – noch für zu “orthodox” hält: “It is no surprise then, when Poulantzas discusses the political strategies of the Comintern, that he tends to consider any kind of nationalist agitation as a concession to the adversary. Thus, in his discussion of the Schlageter line – whereby Radek proposed to initiate nationalist agitation in Germany against the Versaille Treaty – Poulantzas considers it inadmissible opportunism. [...] If [...] it was not possible to agitate against the Versailles Treaty because this would have been chauvinist, this is because for Poulantzas nationalism is an ‘element’ of bourgeois ideology and, as such, is not susceptible to transformation in a socialist direction.” (Ernesto Laclau: Politics and Ideology in Marxist Theory. Capitalism, Fascism, Populism, London 1977, S. 96f.) Für Laclau ist der berüchtigte Schlageter-Kurs der KPD daher offensichtlich kein “inadmissible opportunism”, sondern ein denkbarer Schritt hin zur Überwindung marxistischer “Klassenborniertheit”. Albert Leo Schlageter, ehemaliger Freikorpssoldat und NSDAP-Mitglied, wurde im Mai 1923, zur Zeit der Ruhrbesatzung, wegen Spionage und Sabotage von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Unterstützt von Komintern-Präsidiumsmitglied Karl Radek förderte der KPD-Vorsitzende Thalheimer die in der Partei verbreitete Position, die nationalistische Propaganda gegen den Versailler Vertrag und gegen die Besetzung des Ruhrgebiets “nicht den Rechten zu überlassen”. Wie weit Radek in seiner Anbiederung an die Nazis geht, zeigt dieser Auszug aus seiner “Schlageter-Rede” vor der Komintern im Juni 1923: “Schlageter, der mutige Soldat der Konterrevolution, verdient es, von uns Soldaten der Revolution männlich-ehrlich gewürdigt zu werden. Sein Gesinnungsgenosse Freska hat im Jahre 1920 einen Roman veröffentlicht, in dem er das Leben eines im Kampfe gegen Spartakus gefallenen Offiziers schildert. Freska nannte den Roman: Der Wanderer ins Nichts. Wenn die Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wollen, den Sinn der Geschicke Schlageters nicht verstehen werden, so ist Schlageter umsonst gefallen, und dann sollten sie auf sein Denkmal schreiben: der Wanderer ins Nichts.” (zitiert nach: www.marxists.org/deutsch/archiv/radek/1923/06/schlageter.html, letzter Zugriff: 31.10.2013) [9] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, (Ost-)Berlin 1974, S. 27. |
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