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Stefan Junker: Zur Rätediskussion – kurze Ergänzung zu Roman Danyluk und Ewgeniy Kasakow (Der folgende Beitrag bezieht sich auf die Artikel von Ewgeniy Kasakow „Verklärt & Vergessen: Die Räte und ihre Macht“, erschienen in grundrisse Nr.45, und Roman Danyluk „Ein Einwurf zur Rätediskussion“,erschienen in grundrisse Nr. 46.) Es ist sehr erfreulich, dass das Thema „Räte“ auf breiteres Interesse stößt. „Arbeiterräte“, „Sowjets“ sind zuerst nur Wörter unter vielen oder wenn wir so wollen Ausdruck dessen, was in der Arbeiterbewegung vor allem des 19. Jahrhunderts als Selbstbefreiung oder Emanzipation verstanden wurde. Sozialdemokratie und Bolschewismus haben dieses Verständnis in ihr Gegenteil verkehrt und die dominierten Arbeiterinnenbewegungen wieder der Dichotomie von Führern und Geführten unterworfen. Darum habe ich mich sehr über Danyluks Zustimmung in dieser Frage gefreut und ich gebe ihm absolut recht, dass die Diskussionen und die Beschäftigung mit den historischen Formen, worin die Befreiung der Klasse der Arbeitenden ihren Ausgang nimmt, wichtig sind. Zudem meine ich, und glaube nicht auf seinen Widerspruch zu stoßen, dass wir uns auch wissenschaftlich intensiver mit Räten, Sowjets usw. befassen sollten und zwar von einem sozialistischen bzw. kommunistischen Standpunkt aus betrachtet oder wenn wir so wollen auch von einem anarchistischen. Diesen Gesichtspunkt einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise vorzustellen war das treibende Motiv war in meinem Aufsatz[1] die Rätebewegungen und ihre Organisationsformen in einer Art Gesamtschau vorzustellen. Doch es bedarf gewisser Präzisierungen, weil andernfalls meine Ausführungen missverstanden werden könnten. Ich möchte darum einige Punkte als Behauptungen voranstellen: (1) Räte, Sowjets usw. sind keine Alternative für das politische System der bürgerlichen Gesellschaft. Sie sind vielmehr ihr revolutionärer Gegenentwurf. (2) Das Rätewesen kann darum verstanden werden, wenn von einer umfassenden Umgestaltung der Produktionsverhältnisse ausgegangen wird, hin zu einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit und mithin ohne Klassen. (3) Die geschichtliche Tendenz moderner Revolutionen zeigt die Tendenz, dass die ökonomische Umwälzung mit freier Assoziation in genossenschaftlich organisierte Arbeit ihren Ausgang nimmt. Räte und politische Demokratie Zuerst gilt dies für die mir häufig begegnete Vermengung der Methoden, welche die Räte an bürgerlichen Maßstäben misst, als ob wir über die politischen Formen befinden könnten, wie ein Unternehmer über den Einsatz bestimmter technischer Anlagen nach Kosten und Nützlichkeit befindet. Aussagen wie Räte seien demokratischer als Parlamente, drücken eher, unmittelbarer etc. den Volkswillen aus u.ä. führen die Diskussion in eine Sackgasse, weil sie gesellschaftliche Fragen auf die politische Ebene reduziert. Räte sollten dann die gesellschaftlichen Probleme lösen oder Aufgaben bewältigen, wozu die parlamentarischen Systeme offenbar nicht oder nicht mehr in der Lage seien. Schlimmer noch, es entsteht so der Eindruck, als hinge die Frage nach einem authentischeren demokratischen System vom Willen der richtigen politischen Entscheidungsträger ab oder ließen sich gar mit bestimmten Techniken politischer Organisationsformen erledigen. Dagegen läßt sich unschwer zeigen, dass - bürgerliche Verhältnisse, d.h. Lohnarbeit, vorausgesetzt - Räte die ihnen gestellten Anforderungen und Aufgaben nicht gerecht werden. Ich möchte dies an dem Beispiel der Frage nach dem Engagement für politische Partizipation illustrieren. Jede kommunale Repräsentation kennt das Problem, dass auf den Versammlungen für gewöhnlich nur ein geringer Prozentsatz der Entscheidungsberechtigten erscheint. Das Interesse an gesellschaftlichen Entscheidungen mitzuwirken, selbst da, wo eine gewisse Mitsprache möglich ist, hält sich in engen Grenzen. Doch dann tauchen Themen auf, zu denen sich Menschen engagieren, und zu Tausenden auf die Straße gehen, sich in Initiativen organisieren und sich sogar mit der Staatsgewalt anlegen, wie während der Anti-Atom-Bewegung in Deutschland der 70er und 80er Jahre oder jüngst gegen den neuen Stuttgarter Bahnhof. Aber ebenso schnell, wie sich diese Bewegungen entwickeln, ebben sie wieder ab. Das politische Engagement erfordert eine Menge an Kraft, Zeit und Geld zusätzlich zu den Alltagsaufgaben. Und gerade das ist auf die Dauer nicht durchzuhalten, solange diese politische Betätigung kein Teil des unmittelbaren Lebensprozesses ist. Bereits in der Französischen Revolution war dieses Problem zu studieren und zwar anhand der revolutionären Clubs der Sansculotten. Zu Anfang tagten sie in Permanenz, fast täglich, und kaum eine Entscheidung des Konvents konnte an ihnen vorbeigehen. Dann aber zeigte sich, dass mit der schwindenden Bedeutung der behandelten Fragen, die Teilnahme merklich zurückging und nur diejenigen weiterhin die Versammlungen besuchten, die es sich im wahrsten Sinne des Wortes leisten konnten, weil sie keinen regelmäßigen Arbeiten nachgehen mussten. So drohten die revolutionären Clubs in die Hände der besser Begüterten zu fallen. Dem vorzubeugen untersagte Danton es ihnen, sich regelmäßig zu versammeln, sondern nur noch an bestimmten Tagen, um den Arbeitenden es zu ermöglichen, an allen Diskussionen teilzunehmen. Damit aber hat Danton die Clubs eines ihrer wesentlichen demokratischen Prinzipien beraubt, nämlich selbst zu entscheiden, wann sie sich versammeln, womit zugleich das Todesurteil über die Clubs gesprochen war.[2] Dieses Beispiel zeigt, die Unmöglichkeit, die demokratischen Prozeduren des Sozialismus in die heutige Gesellschaft zu einzupflanzen. Es kann sich folglich nicht darum handeln, irgendein Rätekonzept zu propagieren. Entstehen der Freiraum und die Notwendigkeit für die arbeitenden Klassen, sich selbst und vor allem ihre Interessen gegen die bestehenden Kapitalverhältnisse zu organisieren, werden solche selbstorganisierten Formen wie Räte, Sowjets, Kollektive, Initiativen pp. geschaffen. Räte und Revolution Diese Räte entziehen sich einem wirklichen Verständnis, solange sie nicht als Ausdruck veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse, Produktionsverhältnisse, begriffen werden, bzw. deren tendenzieller Vorwegnahme. Und dies setzt allemal eine revolutionäre oder revolutionsähnliche Situation voraus. Das Beispiel der Sansculottendemokratie hat auch gezeigt, dass jede proletarisch-demokratische Bewegung, welche dazu verdammt ist, auf das Privatleben und die Freizeit beschränkt zu sein, früher oder später an den Grenzen des Arbeitstages zerschellt. Es ist darum kein Zufall, dass eine der vornehmsten Forderungen aller modernen Revolutionen in der Verkürzung des Arbeitstags liegt. Gerade hier wird deutlich, dass die demokratische Umgestaltung der Gesellschaft von den Produktionsstätten ihren Ausgang nehmen muss, denn hier und nur hier wird die Teilhabe an den gesellschaftlichen Entscheidungen zu einer Bedingung des unmittelbaren Lebensprozesses. Oder um es anders zu formulieren: die Diskussionen und Entscheidungen über die gesellschaftliche Planung der Produktion sind zu einer Bedingung des Produktionsprozesses selbst geworden. Hieran anschließend gewinnt die Übernahme bzw. Kontrolle der gesellschaftlichen Aufgaben, welche die bürgerlichen Staaten für sich okkupiert haben, durch die Räte einen anderen Charakter. Dies verstehe ich unter anderem. unter Marxens Formulierung von der Zurücknahme des Staates in die Gesellschaft. Aufhebung der Lohnarbeit Das Studium moderner Revolutionen zeigte mir die Tendenz zu genossenschaftlicher Produktion und zur genossenschaftlichen Regelung gesellschaftlicher Prozesse. Es würde hier zu weit führen, die Abläufe zu beschreiben, die dahin führten oder auch manche der scheinbaren Widersprüchlichkeiten zu behandeln. Aber bei der abstrakten Überlegung würde ich gerne etwas verweilen, nicht zuletzt, weil auch Marx im „Bürgerkrieg“ angedeutet hat, dass eine auf genossenschaftlicher Arbeit ruhende Gesellschaft jene Produktionsform sei, welche der bürgerlichen folge[3]. Wenn wir von einem Wesensmerkmal der bürgerlichen Gesellschaft sprechen wollen, so ist dies die Lohnarbeit. Und diese ist per Definition sowohl in einem genossenschaftlich organisierten Betrieb wie auch in einer Gesellschaft, deren Produktion genossenschaftlich organisiert ist, ausgeschlossen. Leider aber sind diese Fragen essayistisch nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit abzuhandeln. Angeblich habe ich mir „einen kleinen Seitenhieb auf den Anarchismus erlaubt“, weswegen mich Roman Danyluk korrigiert, dass der Anarchismus nicht unpolitisch, sondern apolitisch sei. Darunter sei zu verstehen: „Ablehnung politischer Logik, d.h. von Machtpolitik“ und Ablehnung „Herrschaft der Wenigen“. Ehrlich gesagt verstehe ich den Unterschied nicht, aber zu Spanien sei hier erinnert, dass diese „Ablehnung politischer Logik“ die Führer der spanischen Anarchisten nicht davon abgehalten hat, in die verschiedenen Regierungen einzutreten, angefangen vom Komitee der Antifaschistischen Milizen bis hin zur Einnahme von Ministersesseln in der Regionalregierung in Barcelona und der Zentralregierung in Madrid. In diesen Funktionen haben die Vertreter des spanischen Anarchismus sehr wohl eine „Machtpolitik“ der „Herrschaft von Wenigen“ betrieben, die auch nicht vor der Annahme „politischer Logik“ zurückschreckte. Selbstredend wurde diese Politik kaum schärfer als im spanischen Anarchismus selbst kritisiert und verurteilt. Im Nachhinein haben viele Anarchisten den Regierungseintritt als einen ihrer Hauptfehler kritisiert und selbst während der Revolution gab es hier mahnende Stimmen, von denen ich Camillo Berneri hervorheben möchte. Weit entfernt die Bedeutung des revolutionären Anarchismus herunterzuspielen, halte ich eine solidarisch- kritische Auseinandersetzung mit ihm, insbesondere seiner spanischen Spielart, für sehr fruchtbringend, vor allem wenn sein nicht immer eindeutiges Verhältnis zu proletarischer Selbstorganisation untersucht wird. Weitere Bemerkungen Kommen wir zum Form-Inhalts-Problem. Bestimmt die Form den Inhalt, fragt Ewgeniy Kasakow? Sein endlicher Schluss: die Entscheidungsform nimmt nicht diese Entscheidung vorweg, was offenkundig ist. Aber auf was will der Autor hinaus? „Die linke Suche nach einer 'echten Demokratie', die immer wieder auf die Räte Bezug nimmt, verläuft sich in einem Dilemma – einerseits propagiert man eine bestimmte Entscheidungsform, will damit aber auf eine bestimmte inhaltliche Entscheidung hinaus.“ Ewgeniy Kasakow unterstellt hier dem (linken) Rätewesen, dass es nur Entscheidungen akzeptiere, die im Interesse ihrer theoretischen Präsumptionen liegen. Das wäre bolschewistisch gedacht, stimmen die Räte für die Parteilinie, sind sie unterstützenswert, wenn nicht, nicht. Aber wer ist es hier, der oder die sucht? Theoretisierende Linke oder die Arbeitenden in ihren revolutionären Erhebungen selbst? Wir sind hier wieder bei unserem Anfang angelangt, als von historischen Prozessen unvermittelt auf irgendwelche theoretischen Konstruktionen gesprungen wurde. „Wenn die Mehrheit mal wieder nichts von linken Zielen hören will, kommt die Linke auf die Forderung nach mehr Mitgestaltung für die Mehrheit, in der Hoffnung, dass wenn die Leute alles selber entscheiden, würden sie schon auf andere Inhalte kommen.“ Der Konjunktiv bei Ewgeniy Kasakow, fürchte ich, möchte andeuten, dass das Vertrauen, Menschen würden sich in Freiheit und Demokratie für ihre Interessen entscheiden, als eitler Wunsch zu gelten habe. Aber wie sollte es denn anders gehen? Wer sollte denn anstelle der Betroffenen die Entscheidungen treffen? „Ohne Zweifel haben die Bolschewiki im Laufe des Bürgerkrieges die Räte der Partei untergeordnet...“ Mit welcher Berechtigung? Weil die arbeitenden Menschen zu dumm, zu ungebildet, zu verführt usw. seien, ihre eigenen Interessen ernst zu nehmen, darum musste die durch den Marxismus geschulte Avantgarde (Lenin), die Aufgabe an sich reißen, die Arbeiterinnen und Arbeiter zum Sozialismus zu erziehen. Das liest sich bereits in Lenins „Staat und Revolution“ und ist noch bei Juri Andropow zu finden.[4] Aber sind wir Kommunisten Götter? Wer gibt uns, selbst Kinder unserer Zeit, das Recht, darüber zu entscheiden, was wahrer Sozialismus sei und was nicht? Es ist diese elitär, aufgeklärte Auffassung von Sozialismus, gegen die Marx seine Frage geschleudert hatte: „Wer erzieht die Erzieher?“ Dass in Russland nach dem Oktober 1917 verbreitet Forderungen nach Räten ohne Bolschewisten aufkamen, hatte gute sozialistische Gründe, waren doch bald nach der bolschewistischen Machtübernahme alle anderen Arbeiterparteien verboten bzw. von den Rätewahlen ausgeschlossen. Immerhin hatte der russische Staat damit begonnen, sich die Räte unterzuordnen – dass dies eine Leistung der Partei war, ist historisch so nicht ganz richtig, die Partei erhielt ihre Bedeutung erst später, wobei die Herrschaft in der Parteiführung lag und nicht in der Partei. Sich die Räte unterzuordnen – ob Staat oder Partei ist für die Argumentation hier einerlei – ist kein geringes Übel, denn es ist die Beseitigung des Sozialismus, bzw. Kommunismus schlechthin. Verstehe ich Ewgenij Kasakows erhobene Bedenken gegen Rätedemokratie, proletarische Demokratie oder wie wir diese Formen der Arbeiteremanzipation nennen wollen, recht, so wäre zu fragen: was hindert die Arbeitenden daran, ihre Interessen zu erkennen, selbst wenn sie in ihren eigenen Organisationen frei agieren können, bzw. wie können wir Kommunistinnen und Kommunisten die Prozesse unterstützen, dass die Schranken überwunden werden, welche die Arbeitenden daran hindern, sich als Klasse zu formieren und ihren Interessen gemäß zu handeln? Die Verklärung der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder als sozialistisch war und ist mit Sicherheit eines dieser „Hindernisse“. [1] Grundrisse 45, 15-24. [2] Soboul, Albert: Französische Revolution und Volksbewegung: die Sansculotten. FFM, edition surkamp 1978. Siehe v. a. Kapitel III. Die politischen Tendenzen der Pariser Sansculotterie. [3] Es sei hier die Stelle wiedergegeben: „Wenn aber die genossenschaftliche Produktion nicht eitel Schein und Schwindel bleiben, wenn sie das kapitalistische System verdrängen, wenn die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln, sie damit unter ihre eigne Leitung nehmen und der beständigen Anarchie und den periodisch wiederkehrenden Konvulsionen, welche das unvermeidliche Schicksal der kapitalistischen Produktion sind, ein Ende machen soll – was wäre das andres, meine Herren, als der Kommunismus, der ‚mögliche‘ Kommunismus?“ Marx, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW 17, 343. [4] Siehe den Artikel von Graf Jakob dieser Nummer, bzw. Lenin, W.I.: Staat und Revolution in LW 25, 416-417. „Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens ohne die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie.“ Und 66 Jahre später bei Andropow, J.W.: Die Lehre von Karl Marx und einige Frage des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR. Moskau, APN-Verlag 1983, 29: „Die im Kapitalismus bestehende Kluft zwischen den Interessen von Staat und Staatsbürger wurde bei uns beseitigt. Aber leider gibt es noch Menschen, die ihre egoistischen Interessen der Gesellschaft, ihren anderen Mitgliedern entgegenzusetzen versuchen. In diesem Licht wird klar, dass es notwendig ist, Erziehungsarbeit zu leisten – und manchmal auch Arbeit zur Umerziehung einzelner Personen - …“ |
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