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Slave Cubela: Klassenkampf ohne Marx!
Zur bürgerlichen Theorie der Arbeit vor Marx

So unbestritten es ist, dass der materialistische Ansatzpunkt der Marxschen Theorie in seinem beständigen reflexiven Rekurs auf die (Re-)Produktionspraxis der Menschen besteht, so sehr wirft diese besondere Bedeutung der menschlichen Arbeit innerhalb der Marxschen Theorie doch auch bei vielen Marx wohl gesonnen Interpreten Fragen auf. Warum wird eine bestimmte Form menschlicher Praxis bei Marx derart hervorgehoben, und wie aktuell ist diese Hervorhebung heute noch? Geht mit dieser Exposition der menschlichen Arbeit bei Marx nicht eine Reduktion der komplexen menschlichen Verhältnisse und der Geschichte einher? Mündet diese Hervorhebung nicht notwendig in einen schematischen Basis-Überbau-Determinismus? Legt schließlich die Zentrierung der Marxschen Theorie auf die Dynamik menschlicher Arbeit nicht den Grund für jenen Arbeitsfetisch, den viele Interpreten für das emanzipative Scheitern der Arbeiterbewegung verantwortlich machen, so dass heute die Befreiung von der Arbeit als entscheidender Bezugspunkt linker Praxis gilt?

Bevor man diese und ähnliche Fragen beantworten kann, empfiehlt es sich, sie und damit auch das mit ihnen einhergehende Unbehagen etwas hinten anzustellen. Denn zu klären wäre zunächst, ob die weitreichenden Urteile über Marx und dessen Hervorhebung der menschlichen (Re-)Produktionspraxis nicht insofern vorschnell getroffen werden, als sie die Differenz zwischen der Marxschen Theorie und den Debatten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, auf die er sich bezieht, nicht berücksichtigen. Löst man jedoch das eingreifende Denken des Viellesers Marx aus dem Kontext heraus, von dem dieses Denken lebt und auf das es sich qua Marxschem Selbstverständnis kritisch zu beziehen sucht, ent- und verstellt man den kritischen Gehalt des Marxschen Zugangs zu diesen Debatten. Die Rolle, die die menschliche Arbeit im bürgerlich-sozialphilosophischen Diskurs bis 1840 spielt, ist dabei  auch heute von Interesse, um einerseits deren emanzipatorische Dimensionen in Erinnerung zu rufen und andererseits bei der Kritik des Marxschen Werks nicht hinter diesen zurückzufallen.

***

Beginnen wir mit dem vermutlich Bekannten, also jenen zwei Aspekten, die in der einschlägigen Literatur häufig genannt werden, wenn es um die besondere Bedeutung der menschlichen Arbeit in den sozialphilosophischen Debatten vor Marx geht: Arbeit und Reichtum. Arbeit ist dabei die zentrale antifeudale Kategorie des stärker werdenden Bürgertums, und diese bürgerliche Aufwertung der Arbeit gipfelt insbesondere im Werk John Lockes in der Legitimation sowohl des unbegrenzten Eigentumserwerbs durch Arbeit als auch der politischen Vertretungsansprüche des Bürgertums.[1] Je gewichtiger die soziale Position des Bürgertums in der frühen Neuzeit wird, desto mehr rückt auch die Frage nach den Ursachen des gesellschaftlichen Reichtums und den Möglichkeiten seiner Steigerung in den Mittelpunkt der sozialphilosophischen Publizistik. William Petty ist es, der Mitte des 17. Jahrhunderts die menschliche Arbeit neben der „Mutter“ Boden zum „Vater“ des Reichtums macht und damit den Grundstein für die so genannte Arbeitswerttheorie legt.[2]

Ohne die verschiedenen Verästelungen, die dieser Schritt Pettys zur Folge hatte, hier chronologisch nachvollziehen zu können[3], ist es für ein genaueres Verständnis der Reichtumsdebatte der werdenden bürgerlichen Gesellschaft sinnvoll, auf zumindest vier wesentliche Bereiche dieser Debatte besonders hinzuweisen.

1.) Innerhalb der schottischen Aufklärung Mitte des 18. Jahrhunderts kommt es– wohl ausgehend von der Rezeption Rousseaus – zu einer intensiven Auseinandersetzung um das Phänomen der Arbeitsteilung. Dabei wird zwar von keinem der beteiligten Autoren bestritten, dass die menschliche Arbeit durch die Arbeitsteilung eine immense Erhöhung ihrer Produktivkraft erfährt, doch während Adam Smith im berühmten Stecknadelbeispiel seines „Wohlstands der Nationen“ (1776) lediglich den Wohlstandseffekt der Arbeitsteilung hervorhebt[4], ist es sein Freund Adam Ferguson, der bereits die negativen gesellschaftlichen Folgen der Arbeitsteilung und damit den besonderen Einfluss der Produktion auf die gesellschaftliche Totalität in den Blick bekommt, wenn er in seinem „Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“ (1767) schreibt: „Allerdings kann bezweifelt werden, ob das Ausmaß nationaler Leistungsfähigkeit entsprechend dem Fortschreiten der Künste zunimmt. Viele gewerbliche Künste erfordern in der Tat keinerlei geistige Befähigung. Sie gedeihen am besten bei vollständiger Unterdrückung von Gefühl und Vernunft. Unwissenheit ist die Mutter des Gewerbefleißes ebenso sehr wie des Aberglaubens.“[5]

2.) Auch wenn Arbeit als Quelle des Reichtums gilt und davon ausgegangen wird, dass die Arbeitsteilung das Ergebnis dieses Prozesses vergrößert, wird die Frage, ob jede Art von Arbeit produktiv sei, unterschiedlich diskutiert. Während für die französischen Physiokraten lediglich die landwirtschaftliche Arbeit produktiv ist, überwindet Adam Smith diese Bestimmung tendenziell und verallgemeinert die Bestimmung der produktiven Arbeit auf andere Formen der Arbeit; der Franzose Jean-Baptiste Say entwickelt die Kategorie der immateriellen Arbeit und erklärt selbige gleichfalls zur produktiven Arbeit, und Marx selbst legt schließlich einen großen Exzerptband über diese Debatte an, der später als erster Band der so genannten Theorien über den Mehrwert erscheint.

3.) In den Kolonien der europäischen Staaten, aber auch in wichtigen Ländern wie den USA und Russland hat im 18. und 19. Jahrhundert eine besondere Form produktiver Arbeit trotz aller bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsversprechen weiterhin eine kaum zu unterschätzende Bedeutung: Zwangsarbeit als Sklavenarbeit oder Leibeigenenarbeit. Die zentrale Frage, die dabei innerhalb der Gruppe der bürgerlichen Gegner dieser Form der Arbeit diskutiert wird, lautet: Soll man sich mit moralischen Appellen an die Sklavenbesitzer und Feudalherren begnügen, oder kann man diesen nicht sogar demonstrieren, dass sie gegen ihr eigenes Interesse handeln, da freie Lohnarbeit produktiver als Zwangsarbeit sei. Say z.B., obgleich Gegner der Sklavenarbeit, kritisiert diese Bemühungen, da er Zwangsarbeit in den frühen Ausgaben seines „Traité d´économie politique“ (bis 1819) für mindestens ebenso profitabel wie die freie Arbeit hält und provoziert damit teils heftige Kritiken von Autoren wie Adam Hodgskin, Henri Storch, Charles Dunoyer und Charles Comte.[6]

4.) Unterstellt, die bürgerliche Gesellschaft hätte die Produktivität der in ihr geleisteten Arbeit optimiert und die Zwangsarbeit gehörte der Vergangenheit an: Sorgt dies auch dafür, dass die produktiven Arbeiter entsprechend ihrem Beitrag am gesellschaftlichen Reichtum partizipieren? Schon Adam Smith scheint jedenfalls an den Verteilungsvorstellungen des britischen Bürgertums zu zweifeln, wenn er mahnend schreibt: „Unsere Kaufleute und Unternehmer klagen zwar über die schlimmen Folgen hoher Löhne, da sie zu einer Preissteigerung führen, wodurch ihr Absatz im In- und Ausland zurückgehe, doch verlieren sie kein Wort über die schädlichen Auswirkungen ihrer Gewinne. Sie schweigen einfach über die verwerflichen Folgen der eigenen Vorteile und klagen immer nur über andere Leute.“[7]

Mit jedem dieser Debattenpunkte sind eine ganze Reihe weitreichender Implikationen verknüpft. Insofern stellt die bürgerliche Reichtumsdebatte und der damit verknüpfte Diskurs der Arbeit eine Mischung aus ökonomischen, ethnologischen, soziologischen, geschichts- und moralphilosophischen sowie psychologischen Elementen dar. Eindeutige Klassifizierungen dieser Debatte zum Zwecke der Orientierung bleiben deshalb bis zum heutigen Tag schwierig, da die unterschiedlichen sozialen Kontexte, die politischen Ambitionen und die jeweiligen Bezugnahmen der Autoren genau zu berücksichtigen sind und viele Begriffe und Argumente noch „work in progress“ darstellen. Erst im Zusammenhang mit der Industrialisierung, der Französischen Revolution und den frühen Anfängen der modernen Arbeiterbewegung kann ab Anfang des 19. Jahrhunderts eine Tendenzverschiebung innerhalb dieser Debatte festgestellt werden, indem der Zusammenhang von Arbeit und Herrschaft zum dominanten Diskussionsgegenstand und ein verstärktes Bemühen erkennbar wird, Geschichte und Gegenwart als Produkt von Klassenverhältnissen und Klassenkämpfen zu begreifen.[8]

Besondere Beachtung – nicht zuletzt da in deutschen Debatten kaum gegenwärtig -  verdient hierbei die Herausbildung eines „militant economic liberalism“ (Welch)[9] in Frankreich nach 1815 durch Autoren wie Thierry, Dunoyer oder Comte. Denn diese Liberalen ziehen nicht nur die klassentheoretischen Konsequenzen aus den Debatten um die Produktivität der Arbeit, indem sie das Verhältnis der produktiven und unproduktiven Klassen als wesentliches Verhältnis ihrer Zeit begreifen, sondern sie radikalisieren die bürgerliche Reichtumsdebatte, indem sie feststellen: Es ist die Arbeit der produktiven Klassen, die die Basis aller menschlichen Gesellschaften darstellt, und es ist die Gewalt und der Zwang der unproduktiven Klassen, die dafür sorgen, dass die produktiven Klassen selbst nach der Französischen Revolution noch um die Früchte ihrer Arbeit gebracht werden. Anders gesprochen, gilt für diese Autoren: Alle Geschichte ist Geschichte des (Verteilungs-)Kampfs zwischen produktiven und unproduktiven Klassen.

Die Folgen dieser Radikalisierung bürgerlichen Denkens sind immens. So wird die Orientierung der politischen Praxis des Bürgertums an Naturzustandskonstruktionen, aber auch an vormodernen, meist antiken Vorbildern in dieser Fraktion des französischen Liberalismus zurückgewiesen. Schon in den frühesten Stadien der Menschheitsgeschichte, so betont z.B. Dunoyer in seinem Werk „L’Industrie et la morale“, habe bereits eine Ausbeutung der produktiven Klasse der Frauen durch die unproduktive Klasse der Männer stattgefunden, in deren Licht die bisherigen Naturzustandskonstruktionen sich als historisch falsch erwiesen, ganz zu schweigen davon, dass es nie einen vorsozialen Zustand der Menschheit gegeben habe. Ebenso unterschlüge der gerade in der Französischen Revolution so wichtige Rekurs auf die Antike, dass die Tugendhaftigkeit und der Gemeingeist der alten Griechen und Römer gerade die wesentliche produktive Klasse der Sklaven ausgeschlossen habe.[10]

Zudem verstehen diese liberalen Denker die Französische Revolution als eine – letztlich infolge der Produktivitätsfortschritte notwendige – Erhebung der produktiven Klassen gegen das alte Joch der unproduktiven Klassen, und sie ist für sie ähnlich wie die englische Revolution im 17. Jahrhundert ein emanzipativer Fortschritt.[11] Dennoch bemängeln sie den lediglich politischen Charakter der Revolution, also die Konzentration der Akteure auf Verfassungsdebatten, die Aufblähung des Staatsapparats (da diese erneut nur die produktiven Klassen belaste) sowie die monarchistische Wendung der Revolution unter Napoleon I., und sie kommen zu dem Schluss, dass die Rechte der produktiven Klassen statt von ihren besten Vertretern wie Industriellen, Bänkern, Geschäftsleuten zu sehr von „unproduktiven“ Akteuren wie Anwälten und Gelehrten vertreten würden, zu viele Akteure der produktiven Klassen sich im Laufe der Revolution korrumpieren gelassen hätten, zu lange die Antike als ideeller Orientierungsrahmen für die Revolution gegolten habe.  Dies und die militärische Bedrohung von außen hätten verhindert, dass die Revolution zu einer echten Emanzipation der produktiven Klassen geführt habe.[12]

Schließlich gehen sie davon aus, dass die Emanzipation der produktiven Klassen mit Notwendigkeit kommen werde, denn, wie erneut Dunoyer betont, der industrielle Fortschritt sei letztlich nicht aufzuhalten und das emanzipative Zeitalter des Industrialismus nur eine Frage der Zeit. Wie aber hat man sich dieses Zeitalter des Industrialismus vorzustellen? Dazu Dunoyer: “Das Anliegen des Menschen ist keine Frage der Regierung – vielmehr sollte der Mensch der Regierung hierbei eine nachrangige, wir können fast sagen eine möglichst kleine Bedeutung zusprechen. Sein Ziel ist vielmehr Industrie, Arbeit und die Produktion all dessen, was er braucht, um glücklich zu sein. In einer guten Ordnung sollte die Regierung nur ein Nebenaspekt der Produktion sein, eine Agentur, kontrolliert von den Produzenten, die für sie zahlen, und die ihre Person und ihr Eigentum schützt, während sie arbeiten. In einer guten Ordnung muß die größtmögliche Anzahl der Personen arbeiten und die kleinstmögliche regieren. Der perfekte Zustand wäre erreicht, wenn die ganze Welt arbeitet und niemand regiert.“[13] Oder in den Worten einer Interpretin: „Was ist das Ziel der Menschheit, was ist das Ziel der Gesellschaft? Es ist nicht die Schaffung einer neuen Form der Regierung. Es ist die Schaffung von Industrie, Arbeit, Produktion und auf diese Weise von Glück. (…) Alle Formen der Regierung sind diesem Ziel nachgeordnet. Idealerweise sollte es gar keine Regierung geben, jeder sollte arbeiten und niemand sollte regieren.“[14] Also: Mit dem Zeitalter des liberalen Industrialismus geht die Menschheit einem (fast-)anarchischen und klassenlosen Zustand des ewigen Friedens durch die Emanzipation der Produktion bzw. der produktiven Klassen entgegen.

Ohne nun den Einfluss dieser Autoren für die unmittelbare historische Entwicklung der bürgerlichen Reichtumsdebatte hier überzeichnen zu wollen, kann man feststellen, dass die industrialistische Verknüpfung des Primats der produktiven Arbeit mit ihrer Theorie der Klassenkämpfe einen Höhepunkt dieser Debatte darstellt. Die nachfolgende Diskussion hingegen stellt diesen Zusammenhang in Frage oder beschränkt sich auf einzelne Aspekte:. Einerseits sucht das bürgerliche Denken die hervorgehobene Stellung der Arbeit durch den Verweis auf die Bedeutung anderer Faktoren für die soziale Entwicklung theoretisch wieder zu relativieren, was aber die Frage provoziert, ob dieser Schritt einer Re-Moralisierung des Arbeitsdiskurses[15] tatsächlich ein Schritt nach vorn ist. Andererseits kommt es zwar  zu bemerkenswerten Erkenntnisfortschritten in Bezug auf eine  ökonomische Theorie der Arbeit, doch diese können nicht mehr in eine neue bürgerliche Theorie des Sozialen überführt werden.

Eine Re-Moralisierung des Arbeitsdiskurses im Zusammenhang mit dem Auftreten des Industrialismus lässt sich am Beispiel Henri de Saint-Simons zeigen, der die Entstehung des Industrialismus durch enge persönliche Verbindungen zu Dunoyer, Comte und vor allem seinen zeitweiligen Sekretär Thierry verfolgt und zunächst begrüßt. Dementsprechend formuliert er: „Die gesamte Gesellschaft ruht auf der Industrie. Die Industrie ist die einzige Garantie für ihre Existenz, die einzige Quelle für Reichtum und Wohlstand. Die positive Entwicklung der Industrie ist auch für die Gesellschaft positiv. Die Industrie sollte der Ausgangspunkt wie auch das Ende aller unserer Anstrengungen sein.“[16]Saint-Simon kommen allerdings nach und nach eine Reihe von Zweifeln an bestimmten Aspekten des liberalen Industrialismus. Zunächst einmal ist er nicht davon überzeugt, dass das Phänomen einer neuen, nicht-produktiven Bürgerklasse, die den Erfolg der Französischen Revolution beeinträchtigte und die er im Gegensatz zur classe industrielle als classe bourgeois bezeichnet[17], lediglich vorübergehend sein müsse. Sodann modifiziert er das Geschichtsbild des Industrialismus, da er davon ausgeht, dass mit dem Menschheitsfortschritt die menschlichen Ideen ein immer wichtigerer Faktor für weitere Fortschritte sind, so dass ein Fortschrittsautomatismus qua Produktionsfortschritten für ihn keineswegs gesichert ist. Schließlich beschäftigt ihn das Elend der niederen produktiven Klassen seiner Zeit, und er beginnt, sich intensiv mit der Situation dieser Klassen auseinanderzusetzen. Seine Schlussfolgerung aus diesen Zweifeln, die hier aufgrund der Uneinheitlichkeit und Unabgeschlossenheit seines Werks allenfalls angedeutet werden kann, lautet: Es ist zumindest für eine Übergangsphase angebracht, „die mächtigsten Industriellen mit der Lenkung des öffentlichen Geschicks zu betrauen“[18], wobei hier der Bedeutung der Ideen dadurch Rechnung zu tragen ist, dass in dieser Regierung der produktiven Klassen nicht nur führende Männer aus Industrie, Landwirtschaft und Finanzwesen, sondern auch Künstler und Wissenschaftler ihren Platz haben sollten, damit ein Ausgleich zwischen der geistigen Macht der Künste und Wissenschaften mit der weltlichen Macht der Industriellen möglich wird.[19] Ergänzend plädiert Saint-Simon insbesondere in seinem letzten Werk für eine Aufklärung der niederen produktiven Klassen durch die Etablierung eines neuen Christentums, denn: “Die von der Schule zurückgehaltenen wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen in angemessener Weise, die ihnen sakralen Charakter verleiht, vertreten werden, um sie den Kindern aller Klassen und den unwissenden Personen jeden Alters nahe zu bringen.“[20]

Während in Frankreich durch diesen Anstoß Saint-Simons eine “Revolte gegen Positivismus und Ökonomismus“[21] in Gang kommt, hat die polit-ökonomische Reflexion auf die bestehenden Gründe des Elends der niederen produktiven Klassen in Großbritannien - neben der Entwicklung und Verbreitung utopischer Ideen sowie normativ-moralischer Aufrufe zur sozialen Versöhnung – eine höhere Bedeutung. In diesem Zusammenhang spielen David Ricardos „Principles of Political Economy and Taxation“ (1817) eine besondere Rolle für die Entwicklung der Reichtumsdebatte. Zum einen geht er davon aus, dass der Tauschwert einer Ware voll und ganz auf die für ihre Herstellung notwendige Arbeitszeit zurückzuführen sei, zum anderen argumentiert er, dass Arbeitslohn und Unternehmerprofit in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stünden. Diese beiden Bestimmungen sorgen in der Folge dafür, dass die intendierte soziale Stoßrichtung der “Principles“ immer mehr in den Hintergrund tritt. Denn war es eines der Ziele Ricardos mit seinen Ausführungen über den Fall der allgemeinen Profitrate die Grundbesitzer als unproduktive Klasse darzustellen[22] die einem anhaltenden Fortschritt der Gesellschaft für alle produktiven Klassen im Wege stehe, sorgt seine Arbeitswert- und Lohntheorie nun als theoretischer Bumerang dafür, dass die Produktivität des industriellen Bürgertums in den Mittelpunkt und ins Zwielicht gerät.[23] Doch damit längst nicht genug. Gerade Ricardos These vom umgekehrt proportionalen Lohn-Profitverhältnis treibt den Keil noch ein Stück weiter in die produktive Klasse, da der Interessengegensatz zwischen Lohnempfängern und Unternehmern jetzt für den aufmerksamen Leser als unabänderlicher Bestandteil der neuen bürgerlichen Gesellschaft erscheinen muss. So überrascht es dann keineswegs, wenn in der französischen Debatte bereits 1820 Sismonde de Sismondi in seinem Werk „Nouveaux Prinicipe d`Économie politique“ unter Hinweis auf diesen Interessensgegensatz die emanzipative Hoffnung eines industrialistischen Zeitalters auf Grundlage der gegenwärtigen Produktionsbeziehungen verabschiedet.[24]

Bildlich gesprochen gelangt also die bürgerliche Reichtumsdebatte nach Ricardos Hauptwerk in eine Art theoretisches Grenzgebiet. Auf der einen Seite desselben liegt das seit knapp 150 Jahren inzwischen gut vermessene Land der Arbeit, mit seiner Eigentumstheorie, mit seiner Bedeutung für eine neue Geschichtsperspektive „von unten“, mit seinen weitreichenden Implikationen für das Verständnis diverser sozialer Phänomene wie Politik, Kunst und Wissenschaft, mit seiner Theorie der produktiven Klassen bzw. des Kampfes zwischen produktiven und unproduktiven Klassen und schließlich mit seiner Hoffnung auf ein kommendes Zeitalter der emanzipierten und emanzipierenden Produktion. Auf der anderen Seite wiederum sorgt die von Ricardo provozierte These, dass die produktive Klasse diejenige der Lohnabhängigen ist, für den irritierenden Ausblick auf kaum bekanntes Terrain, in dem es scheint, als ob das Eigentum des Bürgertums zu unrecht erworben ist, in dem Geschichte „von unten“ neue horizontale Interessenslinien zu berücksichtigen hat, in dem die Klassenkampftheorie sich gegen das Bürgertum zu wenden beginnt und in dem eine echte Emanzipation der Arbeit nur durch die Aufhebung der bürgerlichen Klasse und der sie bevorzugenden Produktionsverhältnisse erwartet wird.

Ein solcher Ausblick auf Unbekanntes muss verunsichern, so dass es bald zu einer Reihe grundsätzlicher Entscheidungen der diversen Grenzgänger kommt. Bereits acht Jahre nach Ricardos Tod (1831) ergreifen die etablierten bürgerlichen Ökonomen Großbritanniens im Political Economy Club fast geschlossen gegen diesen Partei, indem sie in einer Reihe von Debatten im Political Economy Club zu London fast einmütig zu dem Schluss kommen, dass alle wesentlichen Elemente der Theorie Ricardos zu verwerfen seien.[25] Mit diesem Schritt stellen die britischen Ökonomen zugleich die Weichen für die Abkehr von der Arbeit als zentraler Kategorie modernen bürgerlich-ökonomischen Denkens. Mutigere Grenzgänger wie William Thompson oder John Francis Bray betreten das neue Land der Arbeit, indem sie den Klassengegensatz von Arbeit und Kapital zur Grundlage einer neuen, „kämpferischen“ Sozialwissenschaft zu machen suchen.[26] Dabei entdecken sie nicht nur weitere Bestimmungen der Arbeit wie die des Mehr-Werts und machen diese fruchtbar für das Verständnis der Entstehung des bürgerlichen Reichtums, sie bemühen sich zudem, praktikable Übergangsszenarien für die radikale Umwälzung bürgerlicher Verhältnisse zu entwerfen. Obgleich ihre Pionierarbeiten – gemessen an ihrem weitgehenden Anspruch – nicht immer überzeugen können, können sie als Wegbereiter der Erforschung der proletarischen Arbeit gelten. Davon zu unterscheiden ist schließlich eine Gruppe der Unentschiedenen in jenem Grenzgebiet. Einerseits halten diese Autoren wie etwa John Wade an den Bestimmungen der klassischen bürgerlichen Ökonomie fest und gehen dementsprechend davon aus, dass Unternehmer weiter Bestandteil der produktiven Klasse seien[27]; andererseits schreiben sie für die entstehende Arbeiterbewegung, d.h. sie sorgen nicht nur für die Verbreitung der klassischen politischen Ökonomie in der Arbeiterbewegung, sondern versuchen auch, ihre eigenen Erkenntnisse für selbige nutzbar zu machen. So verknüpft etwa Wade seine Theorie der endogenen bürgerlichen Wirtschafts- und Krisenzyklen mit dem Aufruf an die Arbeiter, in Zeiten guter Konjunktur für die folgenden Abschwünge vorzusorgen.[28] Auch wenn es diese Gruppe der Unentschiedenen bis zum heutigen Tag gibt, sie sogar in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine kaum zu unterschätzende Rolle spielte und spielt, so erschöpfen sich jedoch mit Mitte des 19. Jahrhunderts die Erkenntnisfortschritte dieser Gruppe. Dementsprechend endet hier das, was man vielleicht das heroische Zeitalter der bürgerlichen Theorie der Arbeit nennen könnte.

Nach diesem Durchgang durch die verschiedenen bürgerlichen Theorien der Arbeit vor Marx dürfte sicher sein, dass der Zusammenhang zwischen Produktion und Emanzipation keineswegs ein originär Marxscher ist, im Gegenteil. Basis-Überbau-Logik, Klassen- und Klassenkampftheorie, Staats- und Politikkritik, Zyklen- und Krisentheorie - all diese Elemente, die häufig genug als Besonderheit der Marxschen Theorie verstanden und tradiert wurden, erweisen sich nach diesem Rückblick auf die Zeit vor Marx als im Kern bereits von bürgerlichen Denkern vorgedacht. Allein, hat sich vor diesem Hintergrund der hier betriebene Aufwand überhaupt gelohnt? Unterstreicht dieser Text nicht lediglich, was im Anfang zumindest noch zweifelhaft schien, nämlich dass Marx durch die Aufnahme des bürgerlichen Produktivitätsprimats dieses in den emanzipativen Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft hineingetragen hat, so dass auch er dafür verantwortlich ist, dass dieser Kampf trotz proletarischer Vorzeichen arbeitsfetischistisch befangen blieb? Ohne diesen Fragen direkt entgegnen zu wollen, zum Schluss drei Überlegungen, die eine andere Interpretation des hier Entwickelten zumindest möglich machen.

Erstens: mag eine Relativierung des Produktivitätsprimats heute zwar als Charakteristikum einer offenen, nicht-dogmatischen Linken gelten, dann ist diese Relativierung historisch, wie das Beispiel Saint-Simon gezeigt hat, jedoch gleichfalls bürgerlichen Ursprungs. Dass diese Relativierung ebenso dazu führt, dass hinter der meist furchtbar undogmatischen Fassade des Anti-Ökonomismus fast immer ein harter und bornierter Kern politischer Emanzipations- bzw. Avantgardevorstellungen erscheint, zeigt übrigens die Geschichte der Arbeiterbewegung, denn in dieser war der Kampf gegen den Ökonomismus, der Kampf partei-kommunistischer Dogmatiker wie Lenin oder Gramsci gegen jene syndikalistischen Gruppen ihrer Zeit, die jenseits von Staat und Partei darum bemüht waren, ihr emanzipatives Augenmerk auf die Selbstorganisation der Arbeiter in der Produktion zu legen![29]

Zweitens: die augenscheinliche Nähe der Marxschen Theorie der Arbeit auf der einen und der bürgerlichen Theorie der Arbeit auf der anderen Seite könnte, statt schnelle Identifizierungen beider Theoriestränge nach sich zu ziehen, auch als Anstoß figurieren, das theoretische Mikroskop der Linken erneut zu schärfen. Wer die komplizierte und politisch aufgeladene Überlieferung und Edition der Marxschen Manuskripte kennt und wer die Philologiefeindlichkeit vieler Bewegungslinker erfahren hat, den würde es nicht wundern, wenn bei näherer Betrachtung insbesondere der Marxsche Produktionsbegriff noch einige bislang unbekannte Seiten und Implikationen entfalten würde. Dass dies kein bloßer Verdacht ist, dazu sei an den vielschichtigen Arbeits- und Produktivitätsbegriff erinnert, den Marx in den „Pariser Manuskripten“, aber auch in den „Grundrissen“ entwickelt hat, ebenso wie man als Interpret nicht vergessen sollte, dass für Marx eine radikale Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft und die Schaffung einer freien Assoziation der Produzenten stets auch die Aufhebung der Charaktermaske „Arbeiterklasse“ unterstellte.

Schließlich: was spricht trotz dieser notwendigen Präzisierungsarbeit eigentlich grundsätzlich gegen die Annahme, dass Produktion und Emanzipation zusammen gehören? Oder mit den Worten von Marx: „Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab. Und so als Fluch nimmt A. Smith die Arbeit. Die ’Ruhe’ erscheint als der adäquate Zustand, als identisch mit ’Freiheit’ und ‚Glück’. Daß das Individuum “in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit’ auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe, scheint A. Smith ganz fern zu liegen.“[30] Warum also sollte die Linke nicht - anknüpfend an die fortschrittlichen Formen der hier dargestellten bürgerlichen Theorie - wieder stärker betonen, dass sie für eine Gesellschaft kämpft, in der alle Menschen ihr individuelles Bedürfnis nach „einer normalen Portion Arbeit“ befriedigen können, für eine Gesellschaft in der Produktion und Emanzipation nicht nur wie in der bürgerlichen Gegenwart temporär und zufällig, sondern wirklich zueinander finden?


[1] Vgl. z.B. Hans Frambach: „Arbeit im ökonomischen Denken. Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart“, Marburg 1999, S. 81-83

[2] Hierzu siehe Jochen Hartwig: „Petty – oder: die Geburt der Arbeitswertlehre aus den Problemen des frühen Kapitalismus“, in: Historical Social Research, Nr. 4/2001 (26), S. 88-124

[3] Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Fragment Marxens über die Geschichte der politischen Ökonomie, in: MEGA I/27, S. 131-215

[4] Adam Smith: „Der Wohlstand der Nationen“, Buch 1, Kapitel 1

[5] Adam Ferguson: „Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“, Frankfurt/Main 1988, S. 340

[6] Einen guten Überblick über diese Debatte gibt David M. Hart in seiner Doktorarbeit: „The Radical Liberalism of Charles Comte and Charles Dunoyer“, in: http://homepage.mac.com/dmhart/ComteDunoyer/index.html (27.11.2007), insbesondere Kapitel 3

[7] Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, Buch 1, Kapitel 9.

[8] Einige der wichtigsten Werke sind hierbei: Charles Hall: „The Effects of Civilisation on the People in European States“ (1805); Robert Owen: „Essays on the Formation of Character“ (1813) / „Two Memorials on Behalf of The Working Classes“ (1818); Patrick Colquhoun: „A Treatise on the Wealth, Power and Resources of the British Empire“ (1814); Francois Montlosier: „De la Monarchie Francaise“ (1814); Henri de Saint-Simon: „L’Industrie ou discussions politiques, morales et philosophiques“ (1817); Augustin Thierry:, „Des nations et de leurs rapports mutuels“ (1817); Benjamin Constant: „Mémoire sur les cent jours“ (1820); Francois Mignet: „Histoire de la Revolution francaise“ (1824); Charles Dunoyer: „L`Industrie et la morale“ (1825); Charles Comte: „Traité de legislation“ (1827); Francois Guizot: „Cours d’histoire moderne, histoire générale de la civilisation en Europe“ (1828); William Mackinnon: „On the Rise, Progress and Present State of Public Opinion“ (1828); John Wade: „History of the Middle and Working Class“ (1833); Peter Gaskell: „The Manufacturing Population of England“ (1833). Einen ersten Einblick in die benannten englischen Werke gibt Asa Briggs: “The Language of Class in Early Nineteenth Century England”, in: Ders./John Saville (Hrsg.): “Essays in Labour History”, London/New York 1960. Für die Französische Debatte s. die bereits zitierte Arbeit von David M. Hart. Vorläufer dieser Debatte sind im 18.Jahrhundert Millar in Schottland sowie Letrosne, Linguet, Turgot oder de Gournay in Frankreich

[9] Cheryl B. Welch: “Liberty and Utility. The French Ideologues and the Transformation of Liberalism”, New York 1984, S. 158

[10] Vgl. David M. Hart, a.a.O., Kapitel 4, Abschnitt D

[11] Ebd. – Darüber hinaus vgl. Shirley M. Gruner: “Economic Materialism and Social Moralism. A study in the history of ideas in France from the latter part of the 18th Century to the middle of the 19th century”, The Hague/Paris, 1973, S. 103-108. Über die unmittelbare Bedeutung dieser historischen Debatten für Frankreich nach 1815 und über die konservativen Gegenspieler in dieser Debatte gibt Auskunft: Stanley Mellon: „The Political Uses of History. A Study of Historians in the French Restoration”, Stanford 1958. Eine neue Interpretation findet sich bei Ceri Crossley: “French Historians and Romanticism. Thierry, Guizot, the Saint-Simonians, Quinet, Michelet”, London/New York 1993

[12] Shirley M. Gruner, a.a.O., S. 99

[13] Zitiert und übersetzt nach David M.Hart, a.a.O., Kapitel 4, Abschnitt D

[14] Shirley M. Gruner, a.a.O.,  S. 100f. (Übersetzung von S.C.)

[15] Der Begriff der Re-Moralisierung wird hier im Sinne der französischen Bedeutung von morale als Gesamtbegriff für Ideen, Normen, Geist, Mentalität etc. gebraucht.

[16] Zit. nach Jean Bruhat: „Der Französische Sozialismus von 1815 bis 1848“, in: Jacques Droz (Hrsg.): „Geschichte des Sozialismus. Von den Anfängen bis 1875“, Band II: Der utopische Sozialismus bis 1848, S. 117

[17] Shirley M. Gruner, a.a.O., S. 117

[18] Zit. nach Jean Bruhat, a.a.O., S. 121

[19] Ebd., S. 121

[20] Ebd., S. 122

[21] Shirley M. Gruner, a.a.O., S. 129ff.

[22] David Ricardo: „Grundsätze der Politischen Ökonomie und Besteuerung“, Kapitel VI.

[23] Francois Bedarida: „Der Sozialismus in England bis 1848“, in: Jacques Droz, a.a.O., , S. 49-51

[24] Shirley M. Gruner, a.a.O., S. 132f.

[25] Vgl. Ronald L.Meek: „Der Untergang der Ricardoschen Ökonomie in England“; in: Ders.: „Ökonomie und Ideologie. Studien zur Entwicklung der Wirtschaftheorie“, Frankfurt/M 1973, S. 94ff.

[26] Neben dem bereits zitierten Aufsatz von Francois Bedarida siehe  hierzu auch die beiden Klassiker Edward P. Thompson: „Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse“, Frankfurt/ Main 1987, sowie Michael Vester: „Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß. Die Entstehung antikapitalistischer Theorie und Praxis in England 1792-1848“, Frankfurt/ Main 1972

[27] Vgl. E.P. Thompson, a.a.O., S. 873

[28] Vgl. Daniele Besomi: “John Wades´s early endogenous dynamic model: ´Commercial Cycles´ and theory of crisis”, in: http://www.unil.ch/webdav/site/cwp/users/neyguesi/public/Wade.pdf (2.2.2008); in: European Journal of the History of Economic Thought, 15:4, Dezember 2008

[29] Michael Krätke: „Antonio Gramscis Beiträge zu einer Kritischen Ökonomie“, in:www.glasnost.de/autoren/kraetke/gramsci.html (8.3.2006)

[30] Karl Marx: „Grundrisse der politischen Ökonomie“, Berlin 1974, S. 504f.

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