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Gabriele Michalitsch: Regierung der Freiheit
Die Formierung neoliberaler Subjekte

Neoliberale Transformation zielt/e nicht nur auf grundlegende Restrukturierung von Ökonomie, Staat und Gesellschaft, sondern auch auf profunden Wandel von Denkweisen und Redefinition des Subjekts, an dem sich zu einem „permanenten ökonomischen Tribunal“ (Foucault) verdichtende neoliberale Postulate von Selbstverantwortung, Konkurrenzdenken, Marktverwertbarkeit, Leistungsdruck, Erfolgszwang und Versagensangst kristallisieren. Solche in schier endloser Wiederholung propagierten neoliberalen Parolen lassen sich – wie zahlreiche andere wesentliche Elemente neoliberaler Ideologie (Michalitsch 2004, 2006) – auf wirtschaftstheoretische Entwürfe zurückführen. Diese Verknüpfungen von (wirtschafts-)wissenschaftlicher Wissensproduktion und Subjektformierung stehen im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Hintergrund ihrer Thematisierung bildet die Frage nach – insbesondere im deutschsprachigen Raum weitestgehend ausbleibendem – Widerstand gegen die Exklusion, Marginalisierung, soziale Polarisierung verschärfenden politischen Reaktionen auf die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008: Was macht postdemokratische Austeritätspolitik akzeptabel? Und welche Rolle spielt Wirtschaftswissen dabei?

Theoretisch schließe ich hierbei an Foucaults Konzeptionen von Macht, Wahrheit und Regierung an. Dabei fokussiere ich auf die von Foucault hervorgehobene produktive Dimension von Macht und die enge Verknüpfung von Macht und Wahrheit: Macht zwingt Foucault folgend stets zu Wahrheitsproduktion, durch sie wird Macht ausgeübt (Foucault 2001/1996, 38). In westlichen Gesellschaften ist Wahrheit um den wissenschaftlichen Diskurs und die diesen produzierenden Institutionen zentriert. Permanenten ökonomischen und politischen Anforderungen ausgesetzt, wird sie vorrangig unter Kontrolle einiger weniger großer politischer und ökonomischer Apparate wie Universitäten, Militär und Massenmedien produziert und verteilt, in Erziehungs- und Informationsapparaten zirkulierend verbreitet und konsumiert (Foucault 1978, 52). Die Produktion von Wahrheit stellt schließlich einen Schlüssel von Regierung dar. Regierung bezeichnet eine Form von Machtausübung, die Individuen durch die Produktion von Wahrheit anleitet, führt und so zu Subjekten formt (vgl. Foucault 1996).

Wirtschaftswissen lässt sich in diesem theoretischen Kontext als spezifische Wahrheit zur Ausübung von Macht deuten, mit der nicht zuletzt Subjekte formiert und solcherart regiert werden. Um diese Zusammenhänge im neoliberalen Kontext zu verdeutlichen, beleuchte ich im Folgenden wirtschaftstheoretische Wahrheit, die, so meine These, im Zuge ihrer Verallgemeinerung durch Zirkulation in Bildungsapparaten und Medien neoliberale Subjektivität hervorbringt und damit Subjekte nicht primär mittels Zwang, sondern mittels Freiheit regiert. Dabei sollen materielle Verhältnisse und deren Zwangscharakter keinesfalls ausgeblendet werden, vielmehr begreife ich diese als mit entsprechenden Diskursen und deren Imperative verwoben, ich trenne diese lediglich analytisch, um einen meines Erachtens wesentlichen Aspekt der Frage nach Akzeptanz bestehender politökonomischer Verhältnisse und deren Veränderungspotenzial mit Blick auf die Mikroebene von Individuen zu beleuchten. Gleichzeitig wird dabei auch die Kohärenz von unmittelbar subjektorientierten und strukturorientierten politökonomischen Strategien neoliberaler Provenienz deutlich.

1. Wahrheitsproduktion: Ökonomisierte Subjekte

Sicher stellt das Modell des im Sinne eines Kosten-Nutzenkalküls stets rational seinen individuellen Nutzen maximierenden homo oeconomicus neoklassischer Wirtschaftstheorien einen wesentlichen Anker neoliberaler Subjektivität dar (Michalitsch 2002, 2006), doch fokussiere ich im Folgenden einerseits auf Joseph A. Schumpeters im Neoliberalismus besonders einflussreiches Unternehmermodell und andererseits auf jene spezifische Variante des homo oeconomicus, die mir für neoliberale Subjektformierung geradezu paradigmatisch scheint: auf Gary Beckers – 1992 mit dem Gedenkpreis an Alfred Nobel, dem „Nobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet – Entwurf des „Humankapitalisten“.

1. 1. Der Unternehmer

Im Gegensatz zur statischen Analyse der Neoklassik rückt Schumpeter, der keiner ökonomischen Schule zuzurechnen ist, die Dynamik des Marktes in den Vordergrund. Schumpeters 1911 in der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung konzipierte Idee des innovativen Pionierunternehmers weist dem Unternehmer (nicht zufällig ist hier nur von dem Unternehmer, nicht aber der Unternehmerin die Rede: Unternehmer sind Schumpeter zufolge stets zur ökonomischen Führerschaft bestimmte Männer), der nicht nur die Nachfrage befriedigt, sondern für Innovationen sorgt, eine besondere Rolle im Wirtschaftsprozess zu. Entscheidend hierfür sind nicht Erfindungen oder Ideen, sondern deren Durchsetzung im Konkurrenzkampf. Eine Innovation kann in der Produktion und im Verkauf eines neuen Gutes oder einer neuen Qualität desselben, in der Einführung neuer Produktionsverfahren, der Erschließung neuer Märkte, eines neuen Angebots an Produktionsfaktoren oder der Reorganisation eines Industriezweigs bestehen. Die Innovationen durchsetzenden Unternehmer treiben, motiviert von der Aussicht auf Pioniergewinne, die wirtschaftliche Entwicklung voran, denn der Innovator erringt eine vorübergehende Monopolstellung, ihm fallen entsprechende Monopolgewinne zu, bis Konkurrenten die Neuerung imitieren und die Monopolstellung verloren geht. Der dynamische Unternehmer beginnt von neuem seine Suche nach Innovation. In diesem Prozess liegt Schumpeter zufolge das wesentliche Charakteristikum von Kapitalismus.

Zwar sah Schumpeter in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942) dreißig Jahre später das Ende des von ihm beschriebenen Unternehmertypus unter dem Eindruck ökonomischer Konzentrationsprozesse, der Vormachtstellung verbürokratisierter Konzerne und der Ausweitung des Finanzsektors gekommen, doch die in den 1980er Jahren verstärkt einsetzende Schumpeter-Rezeption[1] blendete dies weitgehend aus – Schumpeter selbst hatte den Bedeutungsverlust der Unternehmerpersönlichkeit nicht nur als Zeichen schwindender Dynamik der Ökonomie interpretiert, sondern als Symptom des nahenden Untergangs des Kapitalismus (Schumpeter 1993/1942, 252ff).

1.2. Der Humankapitalist

Gary Becker bestimmt die Ökonomie der neoklassischen Tradition entsprechend über Allokation. Die Definition der Ökonomik als Wissenschaft, die sich der Zuweisung knapper Mittel zu konkurrierenden Verwendungszwecken widmet, begrenzt das Ökonomische nicht auf den Marktbereich, sondern bestimmt Ökonomie über die Art des Problems, das es zu lösen gilt. Fragen der Knappheit und Wahl stellen sich Becker zufolge etwa in privaten Haushalten, Gewerkschaften oder Parteien ebenso wie in Unternehmen: „The economic approach is clearly not restricted to material goods and wants, nor even to the market sector” (Becker 1976, 6). Becker unterwirft folglich sämtliche Lebensbereiche der Logik ökonomischer Optimierung und entsprechender individueller Nutzenmaximierung. Familie, Ehe, Kinderzahl ebenso wie Kriminalität und Politik werden Gegenstand der ökonomischen Analyse. Die Ehe wird hierbei als Zwei-Personen-Firma zur Produktion von Kindern definiert, auf dem Heiratsmarkt konkurrieren Männer bzw. Frauen um PartnerInnen, um durch Heirat ihr individuelles Nutzenniveau zu erhöhen (Becker 1976, 169ff.), aber auch die Quantität – und Qualität – von Kindern wird über deren Schattenpreis ökonomisch verhandelbar (Becker 1976, 195ff.).

Das rationale Kosten-Nutzen-Kalkül wird damit zur universellen Grundlage menschlichen Verhaltens.[2] Das Kalkül gilt Becker folgend jedoch nicht nur für Beziehungen zu anderen, sondern mit der Humankapitaltheorie auch für das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst. Neben schulischer Ausbildung und On-the-Job-Training wird Humankapital auch durch Verbesserungen von „emotional and physical health“ (Becker 1975, 40) gebildet. Das Ausmaß der Investition in Humankapital hängt wie bei jeder Investition vorrangig von deren erwarteter Rentabilität ab, dem – monetären und psychischen – return on investment: „Persons investing in human capital can be considered ‘firms‘ that combine such capital perhaps with other resources to produce earning power“ (Becker 1975, 102). Daher investieren Menschen mit besseren Fähigkeiten und folglich besseren Marktchancen auch mehr in ihr Humankapital. Investitionen in Humankapital werden sehr weit gefasst. Zu ihnen zählt auch gesunde Lebensführung, denn „a decline in the death rate at working ages may improve earning prospects by extending the period during which earnings are received; a better diet adds strength and stamina, and thus earning capacity” (Becker 1975, 40). Zumindest drei Fünftel des persönlichen Einkommens werden Becker zufolge über das Humankapital und individuelle Fähigkeiten bestimmt (Becker 1975, 237).

Die Bildung von Humankapital lässt sich nicht vom Prozess der Selbst-Konstituierung trennen. Das Wirtschaftssubjekt wird damit nicht nur als Konsumfaktor oder Arbeitskraft, sondern in seiner Entität zur ökonomischen Einheit, die menschliche Existenz in ihrer Gesamtheit auf die Ökonomie gerichtet, die Marktlogik ins Individuum verlagert. Das Individuum avanciert zum Unternehmer seiner selbst, Selbst-Formierung koppelt sich an Marktverwertbarkeit.

Becker selbst betrachtet die Ordnung der Wirtschaft folgerichtig auch unter dem Aspekt der Subjektproduktion: „Wirtschaftsordnungen, die auf Privatinitiative und Wettbewerbsmärkte setzen, sind effizienter als solche, die auf umfangreiche staatliche Kontrolle setzen. Langfristig gesehen sind jedoch die Auswirkungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung auf die Selbstverantwortung, die Initiative und andere Tugenden vielleicht sogar von noch größerer Bedeutung“ (Becker/Becker 1998, 117).

2. Wahrheitszirkulation: Neoliberale Imperative

Diese hier nur ansatzweise skizzierten Konzeptionen Beckers und Schumpeters werden in vereinfachter Form von Bildungssystem und Medien popularisiert und verallgemeinert. Aus seinem Theoriekontext gelöstes Wissen zirkuliert in Form repetitiver Postulate, die letztlich als Anker von Selbsttechnologien dienen und so Prozesse von Subjektformierung regulieren. Damit wird deutlich, wie Zwang und Freiheit, wie Herrschafts- und Selbsttechnologien ineinander übergehen und sich Macht keineswegs auf ihre repressive Dimension beschränken lässt. Im Folgenden skizziere ich sieben letztlich auf Becker und Schumpeter rekurrierende, meines Erachtens zentrale Postulate, die öffentliche Diskurse der letzten beiden Jahrzehnte in permanenter Wiederholung durchzogen und sich solcherart im Alltagsdenken verfestigten. Als Imperative adressieren sie partiell zwar auch Kollektive, primär jedoch Individuen, gerade mit ihnen verbindet sich die Lösung der Einzelnen aus ihren sozialen und gesellschaftlichen Kontexten. Dabei zielen sie auf Aushöhlung von sozialer Kohäsion und Solidarität und sind demnach auch auf Individualisierung und Entpolitisierung gerichtet.

- Selbstverantwortung: Das Postulat der Selbstverantwortung fokussiert Verantwortung auf das je eigene Selbst, dies impliziert einerseits die Zuweisung alleiniger Verantwortung für die eigene Existenz und gesellschaftliche Positionierung an die Einzelnen, andererseits schließt sie Verantwortung für andere aus. Im Gegensatz zum bis dato dominanten Bedeutungsgehalt von Verantwortung werden gerade deren soziale und gesellschaftliche Dimensionen dabei ausgeblendet. Solcherart auf Eigenverantwortung reduziert, wird diese zunehmend zu einer Frage von Management eines offenen, multiplen Selbst, das in allen seinen Facetten zugleich zu optimieren, zu perfektionieren ist. Während (Erwerbs-)Arbeit als Selbstverwirklichung gedeutet wird, wird auch Essen zu Arbeit, stellt doch allein die Frage der „richtigen“ Ernährung angesichts wuchernden und sich kontinuierlich wandelnden ernährungswissenschaftlichen Wissens eine ebenso permanente wie umfassende Herausforderung dar (Fach 2004, 231).

Selbstverantwortung schließt demnach auch den eigenen Körper ein: Das Subjekt trägt die Verantwortung für seine Gesundheit. Krankheit wird zum Zeichen defizitärer Selbstführung und mangelnder Prävention. Sie impliziert daher nicht zwangsläufig das wohlfahrtsstaatliche Recht auf ärztliche Behandlung, sondern obliegt vermehrt individueller „Problemlösungskompetenz“. Damit wird schließlich nicht nur die Grenze von Arbeit und Freizeit flüssig, auch die zwischen Leben und Tod scheint, wenn auch nicht aufhebbar, so doch individuell verschiebbar. Die Forderung nach Selbstverantwortung, Selbstmanagement, Selbstoptimierung mündet in ein „humankapitalistisches“ Selbst-Verständnis als „Eigen-Produkt“ (Hondrich 2001, 8), in dem von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso wie individuellen biographischen Voraussetzungen abstrahiert wird. Damit werden gesellschaftliche Marginalisierung und Exklusion mit persönlicher Schuldzuschreibung verknüpft, somit individualisiert und Subjekte enthistorisiert. Dies spiegelt sich auch in gesellschaftlicher Enthistorisierung, mit der (Lebens-)Zeit auf ein – primär konsumtives – Jetzt verkürzt wird.

- Wettbewerb: An Selbstverantwortung koppelt sich das universalisierte Marktprinzip des Wettbewerbs, demzufolge auch soziale Beziehungen vorrangig als Konkurrenzverhältnisse definiert werden. Das Soziale wird ökonomisiert, die Gemeinsamkeit der Individuen besteht primär im Kampf aller gegen alle, in dem die Marktförmigkeit des Subjekts zur Existenzfrage mutiert. Wer sich der allgemeinen Vermarktung nicht einzupassen vermag, auf dem Kampffeld des Konsums nicht mithalten kann, ist denn nicht nur zu Recht arm, sondern auch schwach und minderwertig. Als Zeichen der Unterlegenheit wird Armut denn mit Scham besetzt, tabuisiert, versteckt: Wer im Wettbewerb bestehen will, darf keine Schwäche zeigen. Private Beziehungen, persönliche Kommunikation bleiben davon nicht unberührt: Was lässt sich noch sagen, wenn alle bloß Stärke demonstrieren? Mit der Einschränkung offener Kommunikation verbindet sich die Unterminierung sozialen Zusammenhalts, den vielfach der durchaus politische Rückzug ins engste Private begleitet.

Kulturindustriell in unzähligen Sportevents und Shows, die den Kampf darum, der/die Beste, der Stärkste, die Schönste, schlicht SiegerIn zu „sein“, in der massenmedialen TV-Arena inszenieren, vorexerziert, wird Wettbewerb nicht nur zur Folie alltäglichen Verhaltens, sondern auch die Apologie des Humankapitals betrieben: Der Sieg ist stets nur mein Verdienst. In den Niederungen des Alltags lässt sich denn die politische Standardbotschaft, nur mit entsprechender „Qualifikation“ sei ein Arbeitsplatz zu erlangen, leicht übersetzen. Während Arbeitslosigkeit so zum individuellen Mangel transformiert wird, bleiben Arbeitskräftenachfrage von Seiten der Unternehmen oder die Fragen, was als Arbeit gesellschaftlich anerkannt oder wie Arbeit organisiert wird, dethematisiert.

- Fairness: Die Funktionsfähigkeit von Wettbewerb als gesellschaftliches Organisationsprinzip setzt die Einhaltung von Regeln voraus. Entsprechend verbindet sich das Konkurrenz- mit dem Fairnesspostulat, das vor allem mit Hilfe von Sport als Masseninszenierung eingängig gemacht wird. Entsprechend hart werden sportliche Regelverstöße exemplarisch geahndet: Keine Gnade bei Doping-Sünden. Nur der faire Kämpfer kann Held sein. Ganz im Gegensatz zu Gerechtigkeit bezieht sich Fairness lediglich auf die Einhaltung von Spielregeln, ohne das Spiel selbst in Frage zu stellen. Fairness setzt die Anpassung der spielenden KonkurrentInnen stets voraus. Damit wird Wettbewerb grundlegend legitimiert, aber auch als gesellschaftliches Leitprinzip gestützt, indem Gerechtigkeit als Fairness reinterpretiert wird und so letztlich zu Immunisierung sozialer Hierarchien und politökonomischer Verfasstheit beiträgt.

- Unternehmertum: An Selbstverantwortung und Wettbewerb schließt das Postulat universeller Entrepreneurship nahtlos an. Es fordert von den Individuen, nicht nur ihre Arbeit, sondern ihre gesamte Existenz unternehmerisch zu gestalten, sich als „unternehmerisches Selbst“ (Bröckling 2007) zu konstituieren. Damit werden nicht nur Marktprinzipien im Individuum verankert, sondern auch gesellschaftliche Konflikte. Schließlich ist jede/r UnternehmerIn seiner/ihrer selbst zugleich die Ware, die es als Produkt zu vermarkten gilt. Der Widerspruch von Arbeit und Kapital wird somit ins Subjekt verschoben, an die Stelle von Klassengegensätzen und gesellschaftlichen Interessenkonflikten tritt nur noch als individuelle Konkurrenz wahrnehmbarer Wettbewerb in scheinbarer gesellschaftlicher Harmonie.

- Aktivität: Der Unternehmer verkörpert das Gegenteil des nunmehr als passiv, risikoavers und sicherheitsbedürftig gezeichneten, traditionell weiblich konnotierten, zunehmend auf Empfangen von Sozialleistungen reduzierten Menschenbildes des Wohlfahrtsstaates. Dessen vermeintlicher Passivität wird denn allgemeine Aktivität entgegengehalten. Unproduktiver Muße steht aktive Freizeit gegenüber, in die keinesfalls Ruhe einkehren darf. Fitness und Wellness (Greco 2004) ergänzen einander und sichern vorrangig im Wettbewerb effiziente Reproduktion für Wettbewerb. Wie Kapital kennt auch Humankapital keine Grenzen.

- Flexibilität: Omnipräsenter Wettbewerb und allumfassendes Unternehmertum fordern stete Beobachtung der Konkurrenzsituation, entsprechend schnelle Anpassung, unerschöpfliche Kreativität (Bröckling 2004) und permanente Innovation. Flexibilität lautet denn der neoliberale Imperativ. Wo Stabilität mit Erstarrung und Regelmäßigkeit mit Veränderungsunfähigkeit gleichgesetzt werden, haben sich die Einzelnen als „biographisch offene, örtlich ungebundene und unbeschränkt anpassungsfähige Subjekte zu präsentieren“ (Lemke 2004, 85). Der geforderte „flexible Mensch“ (Sennett 1998) kennt keine langfristigen Bindungen und keine definitiven Festlegungen. Erfahrungswissen, Traditionen und Routinen werden zu überflüssigem, beschränkendem Ballast, Vergangenheit mutiert zum Hemmnis einer offenen, scheinbar beliebig gestaltbaren Zukunft. Das Selbst bleibt flexibel, unbestimmt – und umso leichter bestimmbar.

- Erfolg: Gleichsam gekrönt wird die Ver-/Befolgung neoliberaler Imperative mit dem Postulat des Erfolgs, der zunehmend als Persönlichkeitseigenschaft präsentiert wird – verbunden mit der impliziten Aufforderung unermüdlicher Arbeit an sich selbst. Im Strahlen des Erfolges erscheint das vermeintlich selbstproduzierte Subjekt als Souverän, das sich im (a)sozialen Wettbewerb durchgesetzt hat. Die Indikatoren des Erfolgs sind, obgleich bevorzugt marktgebundene Siegeszeichen wie Geld und Macht, austauschbar, wenn die gesamte Lebensführung zum Wettbewerb avanciert. Der Erfolg an sich entscheidet – während die Erfolglosen noch ihr Scheitern erfolgreich zu bewältigen haben (Neckel 2004). Je mehr nach Erfolg streben, umso öfter bleibt dieser zwangsläufig versagt, denn stets kann er nur wenigen zukommen – und so wird er, mit Leistung legitimiert und eingebunden in umfassende Diskurse von Freiheit und Wahl, zur perfekten Rechtfertigung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Hierarchisierung.

3. Selbst-Regierung

Die hier dargestellten Postulate sind in die „großen neoliberalen Erzählungen“ von Freiheit und Wahl eingelagert, sie ergänzen und stützen einander und charakterisieren den neoliberalen Subjektentwurf. Insbesondere im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse zeigt sich dessen klassenspezifischer und maskulinistischer Charakter. Es liegt auf der Hand, dass ökonomische Verhältnisse Entrepreneurship oder Aktivität im Allgemeinen klare Grenzen setzen oder Chancen im Wettbewerb und Erfolg hochgradig von ökonomischen Ausgangsbedingungen bestimmt werden. Schließlich bleibt nicht nur etwa Frauen zugewiesene, unbezahlte, „private“ Versorgungsarbeit gänzlich ausgeblendet, sie erweist sich als mit diesem Subjektentwurf ebenso unvereinbar wie nach wie vor dominante Weiblichkeitskonstruktionen, die Frauen mit Liebe, Schwäche, Gebundenheit, Emotionalität assoziieren.

Zugleich lassen sich die skizzierten, auf Subjektformierung gerichteten Postulate vielfach als politische Restrukturierungsprinzipien identifizieren. Sie avancierten zu zentralen Leitlinien von Politik und bestimm(t)en insbesondere die neoliberale Neuausrichtung von Arbeits- und Sozialpolitik, an ihnen wird der enge, mehrdimensionale Zusammenhang von Wirtschaftswissen und neoliberaler Politik, von Wahrheit, Macht und Regierung deutlich. Neoliberale Regierung ist demnach spezifische „Selbst-Regierung“: Neoliberale Subjekte steuern sich selbst. Markt und Individuum sind über das Prinzip der Selbststeuerung aneinander gekoppelt. Herrschaft „des Marktes“ bedeutet Wettbewerb und impliziert damit individuelle Unterwerfung unter „Marktgesetze“, die staatliche Gesetze ersetzen oder ergänzen. Dem Staat bleibt diesbezüglich die bloß residuale Funktion der Sicherung entsprechender Rahmenbedingungen. Der „Apparat“ des Marktes besteht in der Gesamtheit seiner TeilnehmerInnen, mit dem sich neue Formen von Kontrolle jenseits autoritärer Repression und wohlfahrtsstaatlicher Integration verbinden und die „Freiheit“ der Einzelnen konstituieren. Neoliberalismus bedeutet demnach Regierung durch „Freiheit“. – Und wie soll sich Widerstand gegen Freiheit formieren? Wie sollen neoliberal formierte Subjekte Widerständigkeit entwickeln?

Im Zuge der anhaltenden Wirtschaftskrise mag „Freiheit“ an Zuverlässigkeit, mögen die genannten Postulate an appellativer Kraft verloren haben, doch sie haben sich in den letzten beiden Dekaden den Subjekten eingeschrieben, werden von diesen verkörpert. Wo sie dennoch brüchig zu werden drohen, verstärken sich repressive Herrschaftstechniken. Bei den Marginalisierten, Ausgegrenzten, den großen VerliererInnen neoliberaler Transformation lässt sich wohl vielfach nicht (mehr) auf adäquate Selbststeuerung bauen. Gegen sie wird gerüstet.

Literatur

Becker, Gary S. (1975): Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, New York/London.

Becker, Gary S. (1976): The Economic Approach to Human Behaviour, Chicago/London.

Becker, Gary S./Becker, Guity Nashat (1998): Die Ökonomik des Alltags. Von Baseball über Gleichstellung zur Einwanderung: Was unser Leben wirklich bestimmt, Tübingen.

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/Main.

Bröckling, Ulrich (2004): Kreativität, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 139-144.

Fach, Wolfgang (2004): Selbstverantwortung, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 228-235.

Greco, Monica (2004): Wellness, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 293-299.

Hondrich, Karl Otto (2001): Der Neue Mensch, Frankfurt/Main.

Kocyba, Hermann (2004): Aktivierung, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 17-22.

Lemke, Thomas (2004): Flexibilität, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 82-88.

Michalitsch, Gabriele (2004): Was ist Neoliberalismus? Genese und Anatomie einer Ideologie, in: Graf, Daniela/ Kaser, Karl (Hg.): Vision Europa. Vom Nationalstaat zum europäischen Gemeinwesen, Wien, 144-163.

Michalitsch, Gabriele (2006): Die neoliberale Domestizierung des Subjekts. Von den Leidenschaften zum Kalkül, Frankfurt/Main.

Neckel, Sighard (2004): Erfolg, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/Main, 63-70.

Schumpeter, Joseph A. (1993/1942): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen/Basel.

Schumpeter, Joseph A. (1987/1912): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin.

Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin.


[1] Während die Zahl der Publikationen zu und über Schumpeters Werk in den 1960er und 1970er Jahren auf vergleichsweise niedrigem Niveau stagnierte, stieg sie in den 1980er Jahren erheblich (vgl. Seifert 1993, 528).

[2] Auch altruistische Handlungen stehen hierbei auf Selbstinteresse beruhender individueller Nutzenmaximierung nicht entgegen. Zudem müssen die „Entscheidungseinheiten“ nicht notwendigerweise bewusst kalkulieren, entsprechend seien auch starke Emotionen keineswegs ausgeschlossen (Becker 1976, 7).

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ISSN 1814-3164 
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