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Ioannis Kompsopoulos und Ioannis Chasoglou: Griechenland und die EU:
Autoritäre positive Integration und der griechische Nationalstaat

Die Tatsache, dass konservative Journalisten das aktuelle Krisenmanagement der EU zum Anlass nehmen, ihre über Jahrzehnte vertretenen Auffassungen zu hinterfragen und die Demokratie in Europa bedroht zu sehen, verweist auf das offenbar außerordentlich problematische Verhältnis zwischen Europäischer Integration und Demokratie. Griechenland ist im fünften Jahr seiner schweren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Krise ein besonders hervorstechendes Beispiel dieser Entwicklungen. Noch vor wenigen Jahren hätten es die meisten Kenner des Landes wohl eher für unwahrscheinlich gehalten, dass ausgerechnet dort innerhalb kurzer Zeit das Parlament weitgehend seine Entscheidungsbefugnis verlieren würde, während faschistische Banden auf den Straßen weitgehend ungehindert ihr Unwesen treiben können. Nicht nur weiß jeder, wenn er auch sonst nichts weiß, dass die „Demokratie“ in Griechenland vor langer Zeit einmal ihren Anfang nahm. Griechenland ist auch in den letzten Jahrhunderten ein Land gewesen, in dem der Widerstand gegen die Herrschenden – seien es nun die Osmanen, die Deutschen oder die herrschenden Eliten des eigenen Landes – eine große Tradition hat.

Aufgrund der langen Geschichte autoritärer Regime in Griechenland – im Wesentlichen durchgehend bis 1974 – und wegen der intensiven Einmischung des „ausländischen Faktors“ („xénos parágondas“) in die Geschicke der Griechen ist das Land bis heute durch einen sehr hohen Grad an Politisierung und Mobilisierungsbereitschaft großer Teile der Gesellschaft gekennzeichnet. Zwar gab es auch vor der Krise schon Politikverdrossenheit in deutlich größerem Ausmaß als z.B. noch in den 70er- und 80er-Jahren, aber ein Besuch der Universitäten Athens oder Thessalonikis genügt, um zu erfahren, dass die weitgehend entpolitisierten mitteleuropäischen Verhältnisse dort immer noch weit entfernt sind: Die Universitäten sind ein Ort der politischen Organisierung und Diskussion, in jeder Fakultät gibt es ständige Informationstische der Jugendverbände der großen Parteien, aber auch der Kommunisten und verschiedener linksradikaler Gruppierungen, die um Einfluss unter den Studierenden konkurrieren.

In Griechenland ist es kaum möglich, unpopuläre Reformen ohne erhebliche politische Kosten durchzuführen, wie die Beispiele der gescheiterten Rentenreform 2001 und des ebenso erfolglosen Versuchs einer Teilprivatisierung der Hochschulbildung durch Änderung von Artikel 17 der Verfassung, der bislang private Hochschulen verbietet, zeigen. Dieser Stand der Kräfteverhältnisse ist zu berücksichtigen, wenn Zielrichtung und Verlauf der derzeitigen Transformation des Staates analysiert werden.

Griechenland in der EU und Eurozone: asymmetrische Beziehungen

Die wettbewerbsstaatliche Integrationsweise, die seit den 80er-Jahren zur strategischen Orientierung der Europäischen Integration aufgestiegen ist, war mit dem Versprechen verbunden, allen Beteiligten große Vorteile zu bieten[i]. Insbesondere die Einführung des Euro sollte durch Angleichung der Refinanzierungsbedingungen von Staaten und Unternehmen zu einer Konvergenz der nationalen Volkswirtschaften führen. In der Tat glichen sich die Renditen für südeuropäische Staatsanleihen mit der Einführung des Euro rapide an die der anderen Mitgliedsländer an und waren real durch die hohe Inflation in den südeuropäischen Ländern sogar noch niedriger. Griechenland z.B. wies zwischen 2001 und 2008 eine Inflationsrate von durchschnittlich 3,4% auf, die damit deutlich über der von Deutschland und Frankreich (beide etwa 1,9%) lag[ii].

Märkte tendieren grundsätzlich dazu, Disparitäten zu vergrößern. Zwischen Staaten kann diese Tendenz normalerweise wenigstens teilweise durch Auf- bzw. Abwertung der Währung kompensiert werden. Der Euro macht diesen Anpassungsmechanismus unmöglich. Ebenso schließt der acquis communautaire der EU tarifäre und nichttarifäre Handelshemmnisse für Waren und Dienstleistungen aus, verbietet also den Mitgliedsländern Protektionismus zum Schutz der eigenen Industrie.

Schließlich trugen auch die stagnierenden Reallöhne in Deutschland dazu bei, die Wettbewerbsfähigkeit des produktiven Sektors in den südeuropäischen Ländern immer weiter zu verschlechtern, was sich in einem stetigen Niedergang des primären und sekundären Sektors ausdrückte. In Griechenland war 2010 der Anteil des sekundären Sektors mit 12,2% der drittniedrigste in der EU, gleichzeitig machte der tertiäre Sektor 70% aus. Die griechischen Exporte, vor allem landwirtschaftliche Produkte, Nahrungs- und Tierfuttermittel sowie einige Halbfertigprodukte, betrugen 2008 deshalb nur noch 28,6% der Importe[iii].

Der Konkurrenzdruck auf die EU-Mitgliedsstaaten wird zudem durch die forcierte Finanzialisierungsstrategie[iv] weiter verschärft, weil so der Ausgleich der Profitraten zwischen den nationalen Standorten und den Sektoren der Ökonomie erleichtert wird[v]. Die europäische Integration stellt sich seit den 80er-Jahren als spezifisch europäische, forcierte Verlaufsform der Transformation des Wohlfahrtsstaates der Nachkriegszeit (bzw. in Südeuropa der postfaschistischen Ära) hin zum „nationalen Wettbewerbsstaat“ dar[vi]. Die EU beruht auf einer liberalen Wirtschaftsverfassung, deren Kernstück die Konkurrenz der nationalen Produktions- und Distributionsregime in einem weitgehend ungehinderten Standortwettbewerb ist. Die liberale wettbewerbsstaatliche Wirtschaftsausrichtung der EU ist auch als „Neomerkantilismus“ bezeichnet worden, weil sie die Produktion für den Weltmarkt zu konkurrenzfähigen Preisen und so erzielte Handelsüberschüsse zur zentralen Antriebsfeder der Kapitalakkumulation erhebt[vii]. Dabei handelt es sich natürlich um ein Nullsummenspiel, weil den Überschüssen der konkurrenzstarken Länder notwendigerweise Defizite der schwachen Länder gegenüberstehen. Die Konstruktion der EU, die substanzielle Transfers, die über die Struktur- und Kohäsionsfonds hinausgehen, ausschließt, vergrößert daher zwangsläufig die Kluft zwischen den stärker und geringer entwickelten Ländern. Unter diesen Bedingungen führten verbesserte Kreditkonditionen nur dazu, dass das Leistungsbilanzdefizit mit Krediten finanziert und damit die strukturellen Widersprüche der kapitalistischen Integration Europas für einen gewissen Zeitraum zugedeckt werden konnten.

In Griechenland bildete sich so ein spezifisches, vor allem auf kreditfinanzierten staatlichen und privaten Konsum gestütztes Akkumulationsregime heraus, das in den Jahren zwischen der Einführung des Euro und dem Ausbruch der Krise eine der höchsten Wachstumsraten der Eurozone ermöglichte. Durch Krise und Austeritätspolitik sinkt der private Konsum seit Jahren; sein Anteil am BIP stieg jedoch von 65,8% 2009 auf 77,4% 2011[viii].

2009 brachen die Staatseinnahmen ein und wurde die Krise im Finanzsektor wie in allen Industriestaaten durch die Rekapitalisierung der Banken auf die Ebene der Staatsfinanzen verschoben, nachdem die Ableitung der langfristigen Überakkumulationstendenzen in den Finanzsektor durch einen globalen „spatio-temporal fix“[ix] sie nicht mehr hinauszögern hatte können. Die EU hatte in der Implementierungsphase ihres Krisenmanagements kurzfristig ihre langjährige angebotsorientierte Politiktradition mit Elementen expansiver Fiskalpolitik angereichert. In Reaktion auf die explosiv anwachsende Staatsverschuldung folgte wiederum Austeritätspolitik pur.

Autoritärer Wettbewerbsetatismus

Die Europäische Integration hat auf breiter Front zur Konzentration ökonomischer Macht bei einigen führenden mittel- und nordeuropäischen Ländern mit Deutschland an der Spitze und bei den großen, transnational operierenden Unternehmen beigetragen[x]. Die Finanzialisierung der nationalen Volkswirtschaften in der EU trägt entscheidend zu dieser Beschleunigung der Konzentration und Zentralisation des Kapitals bei. Das ist der wesentliche Zweck des Integrationsprojektes. Die ökonomische Machtkonzentration bei den dominierenden Fraktionen des Kapitals findet ihren Ausdruck auch in entsprechenden politischen Entwicklungen.

Anzeichen für eine Zentralisierung politischer Entscheidungsbefugnisse in den Händen der Exekutive muss man nicht lange suchen. Eine radikale Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten oben genannter Kapitalfraktionen, wie sie nach Auffassung der Autoren mit der aktuell praktizierten Wirtschaftsregierung angestrebt wird, ist nicht möglich ohne eine Beschneidung der Einflussmöglichkeiten der davon in ihren Lebenschancen beeinträchtigten Bevölkerungsmehrheit auf die Wirtschaftspolitik. So wird etwa die sogenannte „Unabhängigkeit“ der Zentralbanken explizit deshalb gefordert, damit diese ihre auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik frei von Einwirkungen der Arbeiterorganisationen oder Parlamente umsetzen können. Auf diesem Modell beruht auch die Europäische Zentralbank.

Die autoritäre Rekonfiguration der wirtschaftspolitischen Instanzen durch Verankerung von Beschränkungen der Handlungsfreiheit nach Maßgabe eines „disciplinary neoliberalism“ ist in der neogramscianischen Integrationsforschung als „new constitutionalism“ bezeichnet worden[xi]. Da jedoch mittlerweile auch die durch die Verfassung gesetzten Grenzen überschritten werden, wo sie hinderlich sind – so z.B. im Fall des Fiskalpaktes[xii] – konstatiert Oberndorfer eine weitere neue Qualität, die er als „autoritären Konstitutionalismus“ und im Anschluss an Poulantzas als „autoritären Wettbewerbsetatismus“ fasst.

Die Europäische Union als Herrschaftsprojekt der europäischen Eliten[xiii] spielt eine maßgebliche Rolle bei den Restrukturierungsprozessen. Zwar sind die Nationalstaaten auch heute noch die Hauptarena gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, da die Staatsmacht immer noch vor allem auf nationaler Ebene konzentriert ist. Die Europäische Integration führt aber in zunehmendem Maße zu einer Delegation von typischerweise nationalstaatlichen policy-Kompetenzen auf die supranationale Governance-Ebene. Diese oberflächlich betrachtet klassenneutrale Umverteilung von Macht liegt darin begründet, dass die nationalstaatliche Arena, die mit Poulantzas als „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“[xiv] begriffen werden kann, trotz einiger „Roll-Backs“ im Großen und Ganzen immer noch Ausdruck der Kräfteverhältnisse vom Ende des Zweiten Weltkriegs ist. Damals hatte die durch den antifaschistischen Widerstand mobilisierte und organisierte Arbeiterschaft denselben Bewusstseinsstand wie die rasch wieder an die Macht kommenden Eliten: Dass Kapitalismus, Krise, Faschismus und Krieg in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen[xv].

Diese Konstellation war ausschlaggebend bei der Organisation der Produktion und Distribution im Westen Europas in der Nachkriegszeit sowie im Süden Europas bei der Rekonstitution der bürgerlichen Demokratien nach dem Sturz der Diktaturen in den 70er-Jahren. Auf europäischer Ebene ist die Durchsetzungsfähigkeit der Interessen der subalternen Schichten strukturell deutlich geringer als auf nationalstaatlicher Ebene, weshalb jede Übertragung politischer Kompetenzen an supranationale Instanzen eine Schwächung des Einflusses „von unten“ und damit eine Stärkung der Position multinational organisierter Akteure der Privatwirtschaft darstellt. Die europäische Governance-Ebene ist im Anschluss an Poulantzas als „Verdichtung zweiter Ordnung“[xvi] bezeichnet worden. Die Stärkung dieser Ebene hat die Umgehung der nationalstaatlich verdichteten Kräfteverhältnisse zum Ziel, um diese dann schließlich mit den auf europäischer Ebene zur Verfügung stehenden Instrumenten radikal umzuwälzen.

Zentrales Ziel der europäischen Eliten ist die Stärkung der EU als „Globalisierungsakteur“[xvii], ihre Konsolidierung als eines der führenden kapitalistischen Zentren in der weltweiten Konkurrenz. Die Reorganisation des europäischen Kapitalismus nach britischem und US-amerikanischem Vorbild schließt vor allem auch eine signifikante Schwächung der Gewerkschaften und anderer Interessenvertretungen der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit ein, wie sie in Großbritannien unter Thatcher und in den USA unter Reagan sehr erfolgreich durchgesetzt wurde.

Wie drückt sich die dargelegte allgemeine Tendenz im Konkreten aus? – Es gibt in letzter Zeit eine ganze Reihe von Beschlüssen und Entwicklungen, die sich in die allgemeine Tendenz zur verstärkt autoritären Herrschaftsdurchsetzung, insbesondere auf dem strategischen Gebiet der Wirtschaftsregierung einordnen:

Die Entscheidungsfindung und Verständigung des Herrschaftspersonals jenseits der formell vorgesehenen Organe wie etwa in der “Frankfurter Gruppe”. Diese informelle Versammlung, die sich aus den führenden Funktionären der europäischen Institutionen und der dominanten europäischen Staaten zusammensetzt, trifft weitreichende Entscheidungen außerhalb der langsameren formalen Kanäle[xviii].

Das Konzept “Europäische Wirtschaftsregierung”, das im Herbst 2011 in Kraft getreten ist, wertet die Exekutive in Gestalt der Europäischen Kommission sehr auf, indem sie die Kompetenz zur Setzung makroökonomischer Ziele und zur Verhängung von Sanktionen gegen abweichende Wirtschaftspolitik erhält. Die Europäische Wirtschaftsregierung ist ein weiterer Baustein der konstitutionellen Festlegung der EU auf permanente Austeritätspolitik[xix].

In dieselbe Richtung weisen eine Reihe weiterer Mechanismen des Krisenmanagements, die die EU hastig eingerichtet hat, um nationale Wirtschaftspolitiken supranational zu vereinheitlichen und verbindlich festzulegen: Da gibt es die „Excessive Imbalance Procedure“ und die „Macroeconomic Imbalance Procedure“, die eine ständige supranationale Kontrolle und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte ermöglichen. Hierbei gilt dank deutscher Intervention ein Leistungsbilanzdefizit bereits ab 3 % als exzessive Überschreitung, aber ein Leistungsbilanzüberschuss erst ab 6 %. Mit dem „Europäischen Semester“ wird die nationale Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten ex ante überwacht und vom Europäischen Rat für sechs Monate im Voraus festgelegt. Der „Euro-Plus-Pakt“ verstärkt die Koordination der Fiskalpolitik, der „Sixpack“ legt Referenzwerte für die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts fest, sieht ein „Verfahren bei übermäßigem Defizit“, ein Frühwarnsystem für Ungleichgewichte und einen Korrekturmechanismus vor. Die Verfügungsgewalt des nationalstaatlichen Souveräns über den Staatshaushalt, im 19. Jahrhundert als große Errungenschaft der Demokratie gefeiert, wird durch all diese Maßnahmen substanziell beschnitten.

Der Fiskalpakt beschneidet die Haushaltsrechte der EU-Mitgliedsstaaten (außer Großbritannien und Tschechien, die beide den Fiskalpakt nicht unterschrieben haben), denen fortan Haushaltsdefizite über 0,5 % des BIP untersagt sind. Bei Verstoß greift ein “automatischer Korrekturmechanismus”, der dann zu “Strukturreformen” unter Aufsicht der Kommission verpflichtet. Als völkerrechtlicher Vertrag außerhalb des Rahmenwerks der EU verpflichtet er zur Festschreibung austeritätspolitischer Leitlinien in den nationalen Rechtsordnungen unter Umgehung der europarechtlich eigentlich zwingenden Konsenserfordernisse. Ähnlich war das Vorgehen schon bei der Europäischen Wirtschaftsregierung[xx].

Die freiwillige Abtretung wirtschaftspolitischer Souveränität der überschuldeten europäischen Staaten an europäische Institutionen und den IWF unter dem Dach der Troika ermöglicht es den nationalen Regierungen, unter Verweis auf die Weisungen „von oben“ eine umfassende Umstrukturierung der nationalen Arrangements der Produktion und Distribution auf Kosten der Lohnabhängigen in Angriff zu nehmen.

Der Rücktritt der gewählten Regierungen in Griechenland und Italien, nachdem auf europäischer Ebene entsprechender Druck ausgeübt worden war und die Einsetzung von „technokratischen“ Regierungen. Als der griechische Premierminister Georgios Papandreou im Herbst 2011 ein Referendum über die Austeritätspolitik ankündigte, hatten die in der „Frankfurter Gruppe“ versammelten europäischen Führer endgültig genug von ihm und strichen Griechenland die Zahlung der nächsten Kredittranche. Dies hat Papandreou endgültig zerstört und die Bahn frei gemacht für einen genehmeren Kandidaten, nämlich den „technokratischen“ ehemaligen griechischen Zentralbanker und zuständigen Beamten für die Eingliederung Griechenlands in die Eurozone Loukas Papadimos.

Die Verschiebung des Diskurses hin zu offener Propagierung autoritärer Problemlösungsstrategien, so etwa Merkels Versprechen, eine „marktkonforme parlamentarische Mitbestimmung“ zu erreichen[xxi] oder einschlägige Kommentare in den Mainstream-Zeitungen, die zum Zweck höherer Effizienz einem Rückbau der bürgerlichen Demokratie das Wort reden[xxii].

Die europäische Integration war seit der Konstitution des EG-Binnenmarkts in den 80er-Jahren immer dem Muster „negative Integration“[xxiii] gefolgt, die nationalstaatliche Regulierungen im Zuge der Schaffung des gemeinsamen Marktes abbaute, ohne dies durch eine „positive Integration“ zu ergänzen, die auf supranationaler Ebene neue Regulierungskompetenzen geschaffen hätte. Nunmehr entsteht jedoch ein Netz von Governance-Instanzen, das sich schon im letzten Jahrzehnt vage andeutete und durch die gegenwärtige Krisenlösungspolitik in rascher Abfolge extrem verdichtet wurde. Hiebei handelt es sich um „positive“ Integrationsschritte in einer „Post-Ricardianischen“, auf institutionelle Konvergenz der Mitgliedsstaaten abzielenden Logik[xxiv].

Angesichts der Stärkung der Exekutive und der damit beabsichtigten verbesserten Fungibilität des europäischen Systems nach den Imperativen des global wirkenden Wertgesetzes könnte man diese Tendenzen als „autoritäre positive Integration“ bezeichnen. Dadurch werden vermeintlich neutral-„technokratische“ Entscheidungsstrukturen, die in Wirklichkeit aber alles andere als neutral sind, sondern durchaus bestimmte ökonomische Interessen repräsentieren, an die Stelle von politisch wenigstens bis zu einem gewissen Grad rechenschaftspflichtigen Parlamenten, staatstragenden Bewegungen und Parteien gesetzt. Dies alles geschieht freilich, ohne dass sie deshalb auch formell verschwinden würden. Die technokratische Effizienz-Ideologie fungiert dabei als Verschleierung des ansonsten offensichtlichen sozialen Charakters dieser Regierungsprojekte.

Autoritäre Entwicklungen in Griechenland

In keinem anderen europäischen Land gehen zurzeit so radikale wirtschaftliche Umstrukturierungen vor sich wie in Griechenland. Die mit der Troika vereinbarte Krisenlösungspolitik legt den hauptsächlichen Nachdruck auf Zweierlei: interne Devaluation und Kürzung der Staatsausgaben.

Ersteres soll die Kosten des Faktors Arbeit senken und damit auch die Ansprüche der Arbeiterklasse an Lohnniveau und materiellem Lebensstandard. Das wird neben einer direkten Lohnsenkung im öffentlichen Sektor, dessen Abschlüsse als Leitwert für die gesamtwirtschaftliche Lohnfindung fungieren, vor allem durch eine Änderung des Tarifsystems ins Werk gesetzt. Das bisher dominante System der sektoralen Tarifabschlüsse wird zerschlagen und durch Tarifabschlüsse auf individueller Ebene ersetzt. Letzteres soll laut dem zwischen Troika und griechischer Regierung abgeschlossenen Memorandum und dem darin ausgeführten ökonomischen Anpassungsprogramm zu 63 % zur Senkung des griechischen Schuldenstandes beitragen. So wird aber auch die Fähigkeit des Staates vermindert, den Ansprüchen auf soziale Sicherung, soziale Mobilität durch Bildung und öffentliche Gesundheit gerecht zu werden. Der Staat wird sich als glaubwürdiger Adressat solcher Ansprüche dementsprechend immer mehr verabschieden. Die EU fungiert dabei als eine Art Blitzableiter, auf die zur Durchsetzung unpopulärer Politiken immer wieder verwiesen werden kann, die aber gleichzeitig außerhalb der Reichweite des Widerstands der davon Betroffenen liegt.

Die sozialen Folgen der Austeritätspolitik sind verheerend: Ende 2012 ist mehr als jeder Vierte arbeitslos, bei jungen Arbeitnehmern zwischen 18 und 25 sind es ungeheure 60%[xxv]. Etwa 30% der Bevölkerung lebt in absoluter Armut und das Pro-Kopf-Einkommen fällt rapide[xxvi]. Diese „Schocktherapie“ der Troika ist nahezu vergleichbar mit derjenigen, die die mittel- und osteuropäischen Länder bei ihrer Systemtransformation über sich ergehen lassen mussten.

Eine derartig einschneidende Verschlechterungen des Lebensstandards konnte die hegemoniale Struktur Griechenlands nicht unberührt lassen. Die griechische Elite hatte sich seit dem Sturz der Diktatur 1974 auf ein Zweiparteiensystem gestützt, das dank mehrheitsförderndem Wahlrecht kaum der Konkurrenz kleinerer Parteien ausgesetzt war[xxvii]. Die zwei Pole dieses Systems, die konservative Nea Dimokratía und die sozialdemokratische PASOK, banden den weitaus größten Teil der Wählerschaft durch Klientelbeziehungen an sich und konnten sich fast ohne Unterbrechung als jeweils alleinige Regierungspartei abwechseln. Dieses System ist nun vermutlich endgültig kollabiert: Zwar bescherte das erpresserische Klima der Juni-Wahl im vergangenen Jahr der Nea Dimokratía einen knappen Vorsprung, aber sie verfehlte bei Weitem die für eine Alleinregierung erforderliche Mehrheit im Parlament und musste daher mit der PASOK und der ebenfalls sozialdemokratischen DIMAR („Demokratische Linke“) koalieren.

Während die Nea Dimokratía noch vergleichsweise glimpflich davonkam, ist die PASOK mit 12,3% (in aktuellen Umfragen liegt sie etwa zwischen 5 und 9%) auf einen Bruchteil ihres ehemaligen Stimmenanteils zusammengeschrumpft. PASOK und Nea Dimokratía haben ihr Wählerpotential, das überwiegend aus Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes und der Staatsbetriebe bestand, durch die Sparpolitik strukturell zerstört. Der PASOK hat das offenbar mehr geschadet als der Nea Dimokratía.

Die Wähler der PASOK wanderten in erster Linie zur „Koalition der radikalen Linken“, SYRIZA. Diese Partei, die in deutschen Medien oft fälschlich als „linksradikal“ gebrandmarkt wurde, verfolgt einen wesentlich moderateren Politikansatz als die PASOK in der Post-Diktatur-Ära. Trotzdem versuchten auch Teile der griechischen Massenmedien, SYRIZA als radikal darzustellen, sodass deren Regierungsübernahme Griechenland in eine Katastrophe stürzen würde: Die von den Sparmaßnahmen um Lohn und Brot gebrachten Wähler schenkten entweder den Medien Glauben und wählten die konservative Option oder sie klammerten sich an die Hoffnung einer sofortigen Lösung ihrer Probleme durch eine von SYRIZA getragene oder geführte Linksregierung.

Die KKE bezeichnet sich als marxistisch-leninistisch und propagiert den revolutionären Sturz des Kapitalismus. Sie setzt zu diesem Zweck nicht auf Parteienbündnisse, sondern auf eine Allianz gesellschaftlicher Bewegungen mit der ihr nahestehenden Gewerkschaftsfront PAME als Kern. Obwohl die KKE ein hohes und tendenziell wachsendes Mobilisierungspotential „auf der Straße“ aufweist und seit Jahrzehnten in allen gesellschaftlichen Kämpfen präsent ist, verlor sie in der Juniwahl 2012 fast die Hälfte ihrer Wähler.

Aus den Verlusten der Nea Dimokratía und der rechtsradikalen LAOS, die den Einzug ins Parlament 2012 verpasste, speist sich der rasante Aufstieg der nationalsozialistischen Chrysi Avgi („Goldene Morgendämmerung“), die bei den Wahlen 7% der Stimmen erreichte, aber in allen aktuellen Umfragen bereits deutlich darüber liegt. Die Faschisten üben ihre in Griechenland traditionelle Rolle als parastaatliches Repressionsorgan und Ausgangspunkt rassistischer und nationalistischer Hetze aus. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass die gewaltsamen Übergriffe der Neonazis auf Migranten und Andersdenkende oft die Rückendeckung der Polizei genießen[xxviii]. Erwiesen ist ebenfalls, dass in Athen jeder zweite Polizist seine Stimme der Chrysi Avgi gab[xxix].

Stichwortgeber der Faschisten waren über lange Zeit PASOK und Nea Dimokratía, die durch repressive und rassistische Maßnahme gegen Immigranten sowie den dazugehörigen Legitimationsdiskurs viele zentrale Positionen der Chrysi Avgi salonfähig gemacht haben – so z.B. durch die Operation „Xenios Zevs“ („gastfreundlicher Zeus“), im Zuge derer Zehntausende ausländisch aussehende Menschen verhaftet und in „Sammellagern“ konzentriert wurden und werden. Für den Aufstieg der griechischen Faschisten ist die Rolle der LAOS als Türöffner nicht zu unterschätzen: Nach dem Sturz der Militärdiktatur gehörte zur politischen Mehrheitskultur Griechenlands auch ein antifaschistischer Konsens, der die Faschisten als ideologische Erben des Obristenregimes für lange Zeit zu einer unbedeutenden Randgruppe degradierte. Mit LAOS gelang 2004 zum ersten Mal einer Partei der Einzug ins Parlament, auf deren Listen bekannte Rechtsextreme wie Kostas Plevris, Adonis Georgiadis und Makis Voridis[xxx] kandidierten und deren Hetze sich gegen Migranten, Juden, Homosexuelle und Kommunisten richtete. Die Technokraten-Regierung von Loukas Papadimos machte Voridis 2011 zum Minister für Infrastruktur und Georgiadis zum Staatssekretär für Entwicklung.

Die Politik des Kabinetts Papadimos bescherte der ehemaligen Protestpartei LAOS zwar den Absturz in die Bedeutungslosigkeit, machte aber rechtsextremes Gedankengut salonfähig. Die Chrysi Avgi, die ihren Platz einnahm, gab sich immer schon bedeutend weniger Mühe, ihren faschistischen Charakter zu verbergen. In älteren Ausgaben ihrer Zeitung findet man noch Hakenkreuze und Hitlerbilder, aber auch heute grüßt man sich bei der Chrysi Avgi vorschriftsmäßig mit ausgestrecktem rechtem Arm.

Die griechische Polizei ist nicht erst seit neuestem bekannt für ihre Brutalität. In den vergangenen Jahren nahmen Fälle von exzessiver Gewalt gegen Demonstrationen, politisch motivierte Festnahmen und Foltervorwürfe zu. Durch die gewaltsame Räumung von Hausprojekten geht die Polizei in letzter Zeit auch verstärkt gegen das anarchistische Milieu vor. Diese Entwicklung erinnert an vergangen geglaubte Zeiten (20er- bis 70er-Jahre), als parastaatliche Organisationen und einzelne bezahlte Gewalttäter ungesühnt missliebige Personen umbringen konnten. In den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren wurden so ganze Regionen entvölkert, weil die Menschen vor der politischen Verfolgung in die Großstädte oder ins Ausland flohen. Der international bekannteste und später vom Regisseur Costa-Gavras verfilmte Fall solcher Gewaltwillkür betraf den Parlamentsabgeordneten Grigoris Lambrakis, der vor den Augen einer gesamten Einsatzmannschaft der Polizei von einem staatlich beauftragten Killer zu Tode geknüppelt wurde.

Das Ende der Demokratie in Griechenland?

Der Zustand der politischen Systeme in Europa ist mit dem Attribut „postdemokratisch“ zu fassen versucht worden. Colin Crouch bezeichnet mit diesem Begriff eine Degeneration der Demokratie in einen Zustand, der nicht mehr im engeren Sinne demokratisch ist, sich aber durch diverse Residuen der demokratischen Periode dennoch von vordemokratischen Zuständen abhebt. In einer „Postdemokratie“ herrschen nach Crouch in der Bevölkerung Unzufriedenheit mit dem politischen System und Resignation vor, was es den „Repräsentanten mächtiger Interessengruppen“ erleichtert, das politische System für ihre Ziele „einzuspannen“[xxxi].

Der kontemporäre Autoritarismus ist aber nicht einfach nur ein Übergewicht wirtschaftlicher Interessen über demokratische Institutionen. Eine solche Lesart lässt außer Acht, dass kapitalistische Gesellschaften ihrem Wesen nach auf asymmetrischen sozialen Beziehungen beruhen. Der Staat ist auch kein neutrales Werkzeug, das prinzipiell von jedem für die eigenen Interessen verwendet werden könnte, sondern bereits strukturell Ausdruck bestimmter Macht- und Gesellschaftsverhältnisse[xxxii]. Ein Demokratieverständnis, das Demokratie formal über das Vorhandensein bestimmter Institutionen wie Wahlen, Parlamente, Verfassungsmäßigkeit usw. definiert, erweist sich als unzureichend, um Facetten des heutigen Autoritarismus wie Elitennetzwerke, Konzernmacht oder die Imperative globalen und regionalen Standortwettbewerbs zu erfassen. Wenn Demokratie hingegen als gleicher Zugang zu allen wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen verstanden wird, erscheint die Konzentration ökonomischer Macht grundsätzlich auch demokratiepolitisch problematisch. In diesem Sinne müsste die von Crouch konstatierte Tendenz dann auch weniger als Verfall eines demokratischen Idealzustands konzipiert werden denn als funktionale Restrukturierung der kapitalistischen Herrschaft, die immer schon nur bei bestimmten theoretischen Vorannahmen als demokratisch bezeichnet werden konnte.

Das bedeutet jedoch nicht, dass zwischen verschiedenen Ausprägungen kapitalistischer Herrschaft keine Unterschiede zu machen seien oder dass die aktuellen Entwicklungen nichts qualitativ Neues enthielten. Im Sinne eines Mehr oder Weniger an institutionalisierten realen Einflussmöglichkeiten weist die gegenwärtige Entwicklung der politischen Herrschaftsausübung und ihrer Apparate deutlich autoritäre Merkmale auf. Viele davon hatte Poulantzas bereits in den 70er-Jahren als Phänomene der Krise bürgerlicher Herrschaft diagnostiziert: Die Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative zur besseren Ausübung der monopolkapitalistischen Hegemonie durch die Staatsapparate; die Untergrabung des Öffentlichkeitsprinzips, indem Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden; die Funktionsweise der Parteien als Transmissionsriemen der Exekutive, weshalb es bei den Wahlen nicht einmal mehr auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verschiedene Optionen zur Auswahl gibt; das Vorherrschen der technokratischen Effizienz-Ideologie[xxxiii].

All diese Aspekte des „autoritären Etatismus“ lassen sich im Fall Griechenland heute beobachten. Die schon von Poulantzas beschriebene Assimilation der großen Parteien an das System zeigt sich etwa darin, dass die Austeritätspolitik bisher von vier Parteien aus unterschiedlichen ideologischen Lagern (von rechtsradikal bis sozialdemokratisch) ohne erkennbare Unterschiede durchgeführt wird, und dies durchaus auch von Parteien der Linken: Die DIMAR unter Fotis Kouvelis ist gegenwärtig im Bündnis mit den beiden Trägern des alten Zweiparteiensystems mit der Umsetzung der Troika-Vorgaben beschäftigt, aber auch SYRIZA sieht sich dazu veranlasst, ihre Programmatik ständig abzumildern, um die „europäischen Partner“ und die Investoren nicht zu verschrecken. Der Parteivorsitzende Alexis Tsipras hat immer wieder die Bedeutung eines „guten Klimas für Unternehmer“ hervorgehoben und die Politik von Obama und Hollande angepriesen[xxxiv]. All dies spricht dagegen, dass von einer „Linksregierung“ unter Führung von SYRIZA eine signifikant abweichende Politik zu erwarten wäre.

Es ist, entgegen einer vor allem in Griechenland weit verbreiteten Auffassung, keineswegs so, dass die Krisenpolitik dem Land ausschließlich von außen aufgezwungen wird. Wäre es so, dann hätten die liberalen Reformen keine Chance auf Umsetzung, denn Griechenland ist – ebenfalls im Widerspruch zur landläufigen Meinung der dortigen Bevölkerung – nach wie vor ein durchaus souveräner Staat, dem Politiken dieser Art nicht aufgezwungen werden können. Der griechische Unternehmerverband SEV setzte sich von Anfang an für die Austeritätspolitik in vollem Umfang ein, weil er sich davon eine dauerhafte Ausschaltung der Arbeitnehmerorganisationen und eine Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit durch „interne Abwertung“ erhofft[xxxv]. Die Teilnahme an der Eurozone wird von den dominierenden Kapitalfraktionen des Landes als strategisches Ziel eingestuft, für das tiefe soziale und politische Verwerfungen in Kauf genommen werden müssen. Die Willfährigkeit der Athener Regierung gegenüber Brüssel und Berlin ist also vor allem Ausdruck einer Interessenkonvergenz und nicht Auswirkung von äußerem Zwang oder einer bereits erfolgten Aufhebung der nationalen Unabhängigkeit. Das verbreitete Gefühl, eine neue deutsche Besatzung zu erleben, trägt zur Ausbreitung antideutscher Ressentiments bei, die die Problemwahrnehmung auf Ebene des griechischen Nationalstaats behindern. Das gezielte Schüren nationalistischer und chauvinistischer Befindlichkeiten im Süden wie im Norden Europas ist ebenfalls ein Charakteristikum der neueren autoritären Entwicklungen.

Zunehmende Polizeigewalt, staatliche Verfolgung von Migranten, Aufstieg des Faschismus und Entmachtung des Parlaments zeigen unzweideutig, in welche Richtung sich das politische System Griechenlands bewegt: In Richtung einer zunehmend auch gewaltsamen Ausübung der Herrschaft zugunsten einer privilegierten Minderheit und ihrer politischen Agenda.

Die Legitimation der aktuell implementierten Politik und des gegebenen wirtschaftlichen und politischen Systems schwindet stetig und die Unterwerfung einigermaßen majoritärer Bevölkerungsteile darunter gelingt zunehmend nur noch durch Repression und gezielte Verbreitung von Angst: Angst vor der explodierenden Kriminalität, vor sozialem Absturz, vor einem Bürgerkrieg, vor dem Faschismus, vor dem Kommunismus, vor einem Austritt aus EU und Euro, einem Wahlsieg von SYRIZA, vor „illegalen Einwanderern“ oder der Türkei. Die regierenden Parteien werden überhaupt nur noch wiedergewählt, um vermeintlich oder tatsächlich größere Übel zu vermeiden, nicht aber ihrer Politik wegen: nur noch 18% der Bevölkerung sprechen sich für das Memorandum aus, dagegen hoffen 63% auf tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen und zusätzliche 23% auf einen radikalen Bruch durch eine Revolution[xxxvi]. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass die brodelnde Unzufriedenheit mit dem parteipolitischen Establishment und der sozialen Katastrophe letzten Endes außer Resignation und Verbitterung nichts Neues hervorbringen wird.

Griechenland ist durch die besondere Tiefe der Krise ein Extremfall der autoritären Tendenz. Daher ist auch nicht davon auszugehen, dass sich in den nächsten Jahren dieselbe Entwicklung in vergleichbarer Intensität in allen EU-Mitgliedsstaaten abspielen wird. Als Extremfall zeigt aber am klarsten, wohin die Reise geht. Autoritäre positive Integration auf europäischer Ebene und die autoritäre Entwicklung des Nationalstaats stehen in einem wechselseitigen ursächlichen Zusammenhang: Die auf die Prioritäten des Standortwettbewerbs festgelegte Wirtschaftspolitik kann nur mit nicht-konsensualen Mitteln durchgesetzt werden und man beschneidet daher auf nationaler Ebene die Einflussmöglichkeiten auf die Politik. Umgekehrt schränkt die autoritäre Transformation des Nationalstaats die Möglichkeiten zum Widerstand gegen die Politik der EU ein.

Von autoritärer positiver Integration zu sprechen impliziert keineswegs, dass die negative Integration der vergangenen Jahrzehnte außer Kraft gesetzt oder auch nur abgeschwächt würde. Beide Tendenzen widersprechen einander nicht, sondern wirken im Gegenteil komplementär in dieselbe Richtung. Die Folgenschwere dieser Entwicklung für die Gesellschaften Europas lässt sich kaum abschätzen.

Literatur:

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Zeise, Lucas (2012): Euroland wird abgebrannt. Profiteure, Opfer, Alternativen, Köln


[i]            Cecchini 1988

[ii]              Milios/Sotiropoulos 2010; IMF World Economic Outlook

[iii]              Brenke 2012

[iv]              Bieling 2003, 2006a

[v]              Zeise 2012, 23

[vi]              Hirsch 1995

[vii]             Becker 2011

[viii]            GTAI 2010, 2012

[ix]              Harvey 2003

[x]              Chasoglou 2012, Becker/Jäger 2012

[xi]              Gill 1998

[xii]            Oberndorfer 2012

[xiii]            Chasoglou 2012

[xiv]            Poulantzas 2002, 159

[xv]             Abendroth 1965, Canfora 2006

[xvi]             Brand et. al. 2007

[xvii]            Bieling 2010

[xviii]           Nelson 2011

[xix]            Klatzer/Schlager 2011, 62f, Oberndorfer 2012a, 418

[xx]             Oberndorfer 2012a, 418f, 2012b, 63ff

[xxi]            Löwenstein 2011

[xxii]            Krauss 2011, Frey 2011

[xxiii]           Scharpf 2008

[xxiv]           Höpner/Schäfer 2010

[xxv]            SPIEGEL 2012

[xxvi]           Poelchau 2013

[xxvii]          Egner 2009

[xxviii]          Amnesty International 2012

[xxix]           Lambropoulos 2011

[xxx]            Plevris ist ein Neonazi und Holocaustleugner, der sich in seinem Buch „Juden – die ganze Wahrheit“ explizit für die Vernichtung der Juden ausspricht. Georgiadis pries dieses Buch öffentlich im Fernsehen und ist mittlerweile genau wie Voridis, dem ehemaligen Vorsitzenden der Jugendorganisation der faschistischen EPEN, bei der Nea Dimokratía gelandet.

[xxxi]           Crouch 2008, 30

[xxxii]          vgl. Poulantzas 2002

[xxxiii]          Poulantzas 2002, 246-272

[xxxiv]          To Pontiki 2012, Kakoulidis 2012

[xxxv]          Frangakis 171

[xxxvi]          Skai/Kathimerini 2013

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