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Karsten Schubert: Foucaults Verflüssigung
Postfundamentalistische Kritik und normative Institutionentheorie

Wir wissen nicht, wie eine emanzipative und kritische Institutionentheorie aussehen kann, weil wir in einem theoretischen Dilemma stecken: Traditionelle politische Theorie, von Liberalismus bis Marxismus, ist machtblind und damit unrealistisch – dies hat Foucaults Kritik gezeigt. Unrealistische Theorie kann nicht die Basis für die Konzeption guter Institutionen sein. Foucaults eigener Ansatz ist zwar realistisch, weil er unsere Normierung durch Macht thematisiert, aber antiinstitutionalistisch. Deshalb eignet auch er sich nicht ohne Weiteres für den Aufbau einer normativen Institutionentheorie. Ein dritter Weg ist nötig.

Ich denke, dass jeder ernstzunehmende Versuch, heutzutage normativ über Institutionen zu sprechen, die Einsichten foucaultscher Ansätze, vor allem zu Macht, Freiheit und Subjektivierung, berücksichtigen muss. Der erste Schritt zum Aufbau einer solchen „machtsensiblen“ und normativen Institutionentheorie ist eine genaue Analyse des foucaultschen Antiinstitutionalismus, die ich im ersten Abschnitt unternehme. Dabei führe ich den Antiinstitutionalismus auf ein „Verflüssigungsprimat“ zurück. Auf dieser Grundlage ist eine interne Kritik des foucaultschen Antiinstitutionalismus möglich, die ich im zweiten Abschnitt skizziere. Daraus ergeben sich die Grundzüge einer von Foucault inspirierten Institutionentheorie: die doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats.

1 Das Verflüssigungsprimat. Woher kommt der foucaultsche Antiinstitutionalismus?

„Verflüssigungsprimat“ bedeutet annäherungsweise eine Skepsis gegenüber jeglichen Verfestigungen, seien es politische Institutionen, Normen oder Theoriensysteme. Diese Skepsis zeigt sich bei Foucault in einer Bevorzugung von widerständiger Macht gegenüber zu Herrschaft verfestigter Macht und mikropolitischen Kämpfen gegenüber theoriegeleiteter Strategie. Ich vermute darüber hinaus, dass sich eine solche Skepsis nicht nur bei Foucault finden lässt, sondern sich auch im diskursiven Feld anderer aktueller französischer Theorien niederschlägt, auf je unterschiedliche Weise: in einer Bevorzugung von Politik gegenüber Polizei (Rancière), Gerechtigkeit gegenüber Recht (Derrida), Politik gegenüber Staat (Badiou), Werden gegenüber Sein (Deleuze), Multitude gegenüber Empire (Hardt/Negri), und Demokratie gegenüber Staat (Abensour).[1]

Ich analysiere das Verflüssigungsprimat anhand zweier Begriffspaare – Form/Inhalt und Flüssig/Fest. In dieser Analytik meint das Verflüssigungsprimat, dass erstens sozialontologische Fragen nach der Form gegenüber Fragen nach dem Inhalt bevorzugt werden. Das führe ich im Folgenden auf die antiessentialistische Annahme zurück, dass über Inhalte (der Politik) keine starken normativen Aussagen getroffen werden können, sondern nur über die Form (des Politischen). Zweitens wird die Frage nach der Form normativ vorentschieden zugunsten des Flüssigen. Das führe ich auf die antinormativistische Intuition zurück, dass traditionelle normativ-positive politische Philosophie potentiell repressive Effekte hat. Diese Auffassung bildet den Kern von Foucaults Vorstellung von kritischer Philosophie und erklärt seine genealogische Vorgehensweise. Das Verflüssigungsprimat führt zu theoretischem Antiinstitutionalismus, also der Ablehnung der Frage nach guten politischen Institutionen.

Verflüssigungsprimat:

1 (Sozialontologie)                       Antiessentialismus → ( Form → Inhalt )

2 (Normativität)                             Antinormativismus  → ( Flüssig → Fest )

→ Antiinstitutionalismus

Sozialontologie: Form statt Inhalt

Foucault stellt die Frageweise der politischen Philosophie von Inhalt auf Form um. Es geht ihm nicht um das „Was“ von Essenzen, sondern um das „Wie“ von Relationen oder Entwicklungen. Diesen Antiessentialismus, dessen Kern ein „Prozess unabschließbarer Infragestellung metaphysischer Figuren der Fundierung und Letztbegründung“[2] ist, teilt Foucault mit dem, was heute als „Postfundamentalismus“ gehandelt wird. Den systematischen Zusammenhang zwischen Antiessentialismus und dem Umstellen von Inhalt auf Form zeige ich durch eine Analyse der postfundamentalistischen Debatte um die politische Differenz[3] zwischen der Politik und dem Politischen, in der er besonders deutlich wird. Diese Differenz findet sich bei Foucault nicht explizit, ist aber in seiner Machtanalytik angelegt, während viele Autor_innen des Postfundamentalismus wiederum von Foucault beeinflusst sind.

Im Gegensatz zur Frage nach dem Inhalt der Politik, die „man ‚machen‘ sollte“[4], die auch die Frage nach der Einrichtung der Grundinstitutionen der staatlichen Politik erfasst, im Gegensatz zu dieser Beschäftigung mit „Haupt- und Staatsaktionen, Verfassungsnormen und Gemeinschaftsappellen“, teilen die postfundamentalistischen Autor_innen „ein Verständnis des Politischen, das auf die unhintergehbaren Momente des Dissenses und Widerstreits, des Ereignisses, der Unterbrechung und Instituierung abhebt.“[5] Sie untersuchen also abstrakte Formen des Politischen, und nicht die Inhalte der Politik: Widerstand als Form kann es gegen alle politischen Inhalte geben und das Besondere an Ereignissen, Unterbrechungen und Instituierungen ist, dass sie gerade nicht inhaltlich festgelegt sind, sondern die Form des Schaffens neuer Inhalte meinen. Diese Umstellung von Inhalt auf Form bedeutet eine Betonung von Offenheit, die schon auf die unten diskutierte Bevorzugung des Flüssigen hinweist: „Das Politische, wie es hier verhandelt wird, zeigt sich gerade darin, die Frage danach offen zu halten. Die vorgestellten Positionen sind insofern kritisch: Sie insistieren darauf, dass die definitorischen wie praktischen Schließungen des Politischen nicht das letzte Wort sein können.“[6] Das foucaultsche Erbe ist unverkennbar – doch wie hängt das postfundamentalistische Fragen nach der Form genau mit Antiessentialismus zusammen?

Dies wird klarer durch eine Analyse der theoretisch-politischen Situation, in der das foucaultsche bzw. postfundamentalistische Denken in die Welt gekommen ist. Es geht also um „die Frage des Grundes oder der Gründung postfundamentalistischen Denkens“[7]. Oliver Marcharts These ist, dass dieser Grund in einer „Sackgasse, in die konventionelle politische Theorien und Sozialtheorien geraten waren“[8], begründet ist. Er konkretisiert „konventionell“ als „fundamentalistisch“ und kennzeichnet damit essentialistische Theorien, die von der Möglichkeit eines „endgültigen positiven Grundes“ des Sozialen ausgehen – als Beispiele führt er ökonomischen Determinismus, Behaviorismus, Positivismus und Soziologismus an, wobei nach meiner Auffassung auch liberale und deliberative Essentialisierungen von Vernunft oder anerkennungstheoretische Anthropologisierungen darunter fallen. Postfundamentalistisches Denken hingegen reagiert auf das Symptom des „abwesenden Grundes von Gesellschaft“, das mit dem Ende der großen fundamentalistischen Erzählungen offenkundig geworden ist. Die ontologische These des Postfundamentalismus ist, dass es keinen notwendigen Grund gibt. „Wenn kein Grund notwendig ist (und jeder somit kontingent), dann ist die Kontingenz des Grundes notwendig. Kontingenz – als notwendige – ist ihre eigene Ausnahme.“[9] Diese antiessentialistische Sozialontologie ist der Hintergrund der Umstellung von Inhalt auf Form.

Denn die postfundamentalistische politische Theorie wäre wenig brauchbar, wenn sie mit der Einsicht in die notwendige Kontingenz aller Gründe enden würde. Das tut sie auch nicht. Stattdessen kreisen die Theorien von Foucault und anderen Postfundamentalisten um eine komplexere Beschreibung der kontingenten Gesellschaft und der verschiedenen auf der Ebene der Politik benutzten Begründungsversuche. Anstatt also gar nichts zu sagen oder partikulare Letztbegründungsversuche (Inhalt) anzubieten, untersuchen sie die kontingente Form des Politischen anhand verschiedener Begriffe, wie Macht, Hegemonie, Instituierung, Ereignis, usw.

Nimmt man den Postfundamentalismus ernst und geht von notwendiger Kontingenz, dem stets anwesend-abwesenden Abgrund aus, so muss er auch auf sich selbst angewandt werden. Es kann also keine letztbegründete Ontologie über das „wahre“ Politische geben, sondern die zahlreichen postfundamentalistischen Vorschläge einer antiessentialistischen Ontologie des Politischen sind selbst immer politische Einsätze, meist aus links-emanzipatorischer Stoßrichtung. Postfundamentalistische politische Philosophie arbeitet also notwendig mit strategischen Essentialismen.

Marchart behauptet, dass aus dem Postfundamentalismus keine, auch keine demokratische, Politik notwendig folge – weil es keine Letztbegründungen mehr gibt. Die normative Zurückhaltung bei Foucault und einigen postfundamentalistischen Autor_innen scheint ein Indiz für diese These zu sein. Meiner Ansicht nach fällt sie aber hinter die Einsicht in systematische Notwendigkeit von strategischen Essentialismen im Postfundamentalismus zurück. Ich denke, dass aus Marcharts Rekonstruktion des Postfundamentalismus gerade ein stärkeres Bemühen um die Rechtfertigung bestimmter demokratischer und egalitärer Inhalte der Politik folgen kann,[10] wie ich im zweiten Teil erläutern werde. Bestimmte (natürlich kontingente) Einsichten in die Form des Politischen können also durchaus verbunden werden mit der Forderung nach konkreten politischen Inhalten, wodurch die Form/Inhalts-Differenz im doppelten Sinne aufgehoben wird. Zunächst aber drängt sich die Frage auf, was die normative Zurückhaltung überhaupt motiviert, warum also nicht nur von Inhalt auf Form, sondern auf der Formseite auch von Fest auf Flüssig umgestellt wird.

Normativität: Flüssig statt Fest

Aus der sozialontologischen Betonung der Kontingenz bei Foucault und anderen postfundamentalistischen Theoretiker_innen ergibt sich zwar schon das Wandelbare als wesentliches Moment des Politischen, was die postfundamentalistische Philosophie für eine normative Bevorzugung der Verflüssigung disponiert. Doch diese sozialontologischen Weichenstellungen alleine können den bei Foucault und einigen Postfundamentalisten vorherrschenden Antiinstitutionalismus nicht erklären. Dieser wird erst verständlich, wenn man nachvollzieht, dass die durch den Antiessentialismus eröffneten Formfragen aus spezifisch normativen Gründen mit einer Bevorzugung des Flüssigen beantwortet werden. Dieser normative Antinormativismus geht davon aus, dass starke normative Theorien leicht zu repressiven bzw. totalitären Effekten führen und dass bestehende Ordnungen notwendig Ausschlüsse produzieren, woraus sich eine Bevorzugung der Verflüssigung sowohl in der politischen Theorie wie auch in der politischen Praxis ergibt. Er ist das zentrale Element von Foucaults Ethos der Kritik und begründet seine genealogische Methode.

Foucault versteht seine Arbeit als Kritik, durch die das, was für selbstverständlich gehalten wird, problematisiert werden kann, um Veränderung überhaupt erst zu ermöglichen und „durch die die gegenwärtige Ordnung des Seins an ihre Grenze geführt wird.“[11] Foucaults Methode, um diesen entselbstverständlichenden Effekt zu erzielen, ist die radikale Befragung der Gegenwart, die er durch historische Untersuchungen vornimmt, die die Kontingenz unserer geronnenen Weisen, zu denken und zu handeln und uns selbst zu verstehen, offenbaren. Solche historischen Untersuchungen hat er beispielsweise zum Wahnsinn, zur Wissensordnung der Humanwissenschaften, zum Strafsystem, zur Regierungsrationalität und zur Sexualität durchgeführt. Dieses Projekt einer „historischen Ontologie der Gegenwart“ oder genealogischen Kritik[12] soll nicht positiv „formale Strukturen mit universaler Geltung“[13], Wahrheit und Letztbegründungen feststellen, also nicht Festes etablieren oder entdecken. Sondern es soll die Historizität und Kontingenz unserer Denkweisen untersuchen, dadurch ihre Grenzen aufweisen und sie überschreitbar machen, mithin: sie verflüssigen, um „der unbestimmten Arbeit der Freiheit einen neuen Impuls zu geben.“[14] Dieser radikale Bruch mit der positiven Methode und Frageweise der etablierten Philosophie erklärt Foucaults Bedeutung für den Postfundamentalismus. Dabei hängt die verflüssigende Methode mit Foucaults normativer Zurückhaltung zusammen, was in seiner Auffassung des Verhältnisses der Philosophie zur Politik sichtbar wird.

„Philosophie, […] wäre [im Unrecht], wenn sie sagen wollte, was im Bereich der Politik zu tun und wie zu regieren sei. […] Die Philosophie hat nicht zu sagen, was in der Politik geschehen soll. Sie muß in einer ständigen und widerstrebenden Exteriorität gegenüber der Politik sein.“[15]

Kritische Philosophie soll nach Foucaults Ethos also nicht sagen, was zu tun sei, was wahr sei oder wie das Subjekt zu befreien sei – sie soll normativ zurückhaltend bzw. antinormativ sein. Sie soll nicht Wissens- und Wertsysteme erschaffen um politisch direkt zu intervenieren, also Festes erschaffen, vielmehr soll sie die vorhandenen hinterfragen und verflüssigen, und dabei in einer „Exteriorität gegenüber der Politik“ bleiben. Keine Politikberatung also. Doch was sind die Gründe für dieses kritische Ethos und die damit verbundene Methode?

Foucaults Ethos der normativ zurückhaltenden Kritik speist sich einerseits aus seinen (theorie-) politischen Erfahrungen und ergibt sich andererseits theorieintern aus seiner problematisierenden Methode selbst. Die Erfahrung des intellektuellen Umfeldes, in dem er aufwuchs, und der Katastrophen des 20. Jh. veranlassen ihn zu großer Skepsis gegenüber normativen Setzungen – denn er hält sie für gefährlich. Seine normative Zurückhaltung begründet Foucault damit, dass eine starke normative politische Theorie, die Anspruch auf praktische Wirksamkeit hat, unerwünschte politische Machteffekte nach sich ziehe. So führten gerade Theorien, die politische Verbesserung intendierten, leicht zu neuer repressiver Verfestigung von Macht und nicht zu ‚Freiheit‘. Foucault beruft sich an mehreren Stellen auf die Erfahrung der Geschichte, die gezeigt habe, dass totalitäre Systeme meist aus normativ starken und am ‚Guten‘ interessierten Theorien entstanden seien.[16] Diese Skepsis gegenüber Normativität generalisiert Foucault auf jegliche normative Sozialphilosophie und folgert daraus den Kernpunkt seines Ethos: die normative Zurückhaltung.

„[Ich gehöre] einer Generation von Leuten an, die nacheinander die Mehrzahl der Utopien zusammenbrechen sahen, die im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet worden waren, und die auch sahen, welche perversen und mitunter verhängnisvollen Wirkungen aus den in ihren Absichten großherzigsten Projekten folgen konnten. Ich habe immer darauf Wert gelegt, nicht die Rolle des prophetischen Intellektuellen zu spielen, der den Leuten vorab sagt, was sie tun müssen, und ihnen den Denkrahmen, Ziele und Mittel vorschreibt.“[17]

Die Wachsamkeit gegenüber unerwünschten Machteffekten ist nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Ergebnis von Foucaults Methode. Denn Foucault untersucht Wissen und Normativität als grundsätzlich machtvolle Phänomene: Es geht ihm um die Analyse der Machteffekte von Wissen und der Wissenseffekte von Macht. Insofern seine Methode darauf aufmerksam macht, dass Normensetzung grundsätzlich mit Machteffekten gekoppelt ist, die oft unerwünscht sein können, ergibt sich die Skepsis gegenüber Normativität auch immanent aus Foucaults Methode. Ethos und Methode stehen insofern in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis. Foucault fasst die daraus resultierende Rolle des spezifischen Intellektuellen zusammen, der nicht normative Vorgaben machen, sondern problematisieren soll:

„Die Rolle eines Intellektuellen ist nicht die, anderen zu sagen, was sie zu tun haben. Mit welchem Recht sollte man das tun? Und denken Sie nur an all die […] Programme zurück, die die Intellektuellen im Verlauf der beiden letzten Jahrhunderte formuliert haben und deren Auswirkungen man jetzt gesehen hat. Die Arbeit eines Intellektuellen ist nicht die, den politischen Willen anderer zu formen, sondern durch die auf seinen eigenen Gebieten durchgeführten Analysen die Selbstverständlichkeiten und die Postulate neu zu befragen, die Gewohnheiten und die Handlungs- und Denkweisen zu erschüttern, die übernommenen Vertrautheiten zu zerstreuen, wieder die Auseinandersetzung mit den Regeln und Institutionen zu suchen […].“[18]

Der Grund für die Trennung von Politik und Philosophie im Sinne einer normativen Zurückhaltung ist also die durch Foucaults Erfahrung und seine Methodik gespeiste Einsicht, dass normativ starke Theorien oft unerwünschte Machteffekte nach sich ziehen. Dieser Antinormativismus ist der Grund für Foucaults Ablehnung des Festen zugunsten des Flüssigen in Ethos und Methode. Damit sind die Gründe dafür geklärt, warum die politische Philosophie keine normativ positiven Aussagen über Institutionen machen sollte, also verflüssigen statt verfestigen sollte. Dies ist eine Seite des verflüssigungsbasierten Antiinstitutionalismus. Die andere Seite ist die institutionstheoretische These, dass Institutionen, grob verstanden als Herrschaft – die Verfestigung von Macht –, notwendig zu Repression und Ausschlüssen führen. Diese bei Foucault implizit enthaltene These liegt Rancières stark von Foucault beeinflusster Politphilosophie zugrunde.[19] Nach Rancière schließt politische Ordnung immer Menschen aus, und zwar nicht nur interessenbasiert, sondern fundamentaler: auf der epistemischen Ebene. Er führt als Beispiel die Sklaven im antiken Griechenland an, die nicht einfach so unterdrückt wurden, sondern die nicht als Menschen zählten, deren politische Partizipation also durch die bestehende Wissensordnung gar nicht denkmöglich war. Dies liegt nach Rancière daran, dass die herrschende Ordnung, also vor allem politische Institutionen, notwendig mit einem epistemischen Regime der Sichtbarkeit und Sagbarkeit verbunden sind – damit schließt er direkt an Foucaults epistemologische These der Verschränkung von Macht und Wissen an. Die Pointe ist, dass politische Institutionen notwendig Ausschlüsse produzieren und keine grundsätzlich gute Ordnung vorstellbar ist, um die sich beispielsweise die liberale politische Philosophie bemüht. Politisch emanzipatorische Akte sind für diese Theorie immer nur das eruptive Stören von Institutionen im Namen der Gleichheit – die Verflüssigung der vorhandenen Ordnung –, aber nicht das Bemühen um den geplanten Aufbau von guten politischen Institutionen – die Etablierung des Festen. Dies ist die institutionstheoretische Umsetzung des Antinormativismus, die sich nicht nur bei Foucault angelegt und bei Rancière ausformuliert findet. Sie ist strukturähnlich auch bei anderen französischen Theoretikern vorhanden, wie Badiou (Politik vs. Staat), Hardt/Negri (Multitude vs. Empire) und Abensour (Demokratie vs. Staat) und wird von post-anarchistischen Denker_innen dankbar aufgenommen.[20]

Zusammenfassung: Postfundamentalistische Sozialontologie und antinormative Normativität

Foucault und die postfundamentalistische Sozialontologie spannen die Differenz von Form und Inhalt aufgrund der antiessentialistischen Einsicht in die notwendige Abwesenheit eines letzten Grundes auf, aus der sich die einfache Beschäftigung mit dem Inhalt (der Politik) verbietet, und fokussieren deshalb die Form (des Politischen). Die spezifisch normative Intuition, dass starke normative Theorien und Verfestigungen von Macht in Institutionen zu repressiven und ausschließenden Effekten führen, führt zu Antinormativismus in der Theoriebildung und Antiinstitutionalismus als politisches Programm. Antinormativismus bedeutet, keine festen normativ positiven Theoriegebäude aufzustellen, sondern durch eine spezifische philosophische Methode bestehende Theorien zu verflüssigen. Antiinstitutionalismus bedeutet, politische Institutionen als notwendig ausschließend zu beschreiben und deshalb deren Störung anzuregen. Das Verflüssigungsprimat verstellt dadurch die Frage nach guten Institutionen aus einer foucaultsche Perspektive und ist ein Grund dafür, dass es keine machtsensible und normative Institutionentheorie gibt.

2 Die doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats. Wie mit Foucault nach guten Institutionen fragen?

Der erste Schritt zu einer machtsensiblen und normativen Institutionentheorie ist die doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats. Dazu zunächst zwei Prämissen: Erstens bleibt die Frage nach guten politischen Institutionen relevant, auch wenn Foucaults Methode auf der Intuition beruht, dass sie zu stellen potentiell repressive Effekte haben kann. Zweitens ist es für das Ziel einer kritischen, antitotalitären und emanzipativen Theorie guter Institutionen nötig, von Foucault und anderen Postfundamentalisten auszugehen. Der Hintergrund dieser zweiten Prämisse ist, dass nur diese Tradition der politischen Philosophie sensibel genug für die potentiell repressiven Machteffekte ist, die politische Philosophie erzeugt – mit anderen Worten: gerade weil sie auf dem Verflüssigungsprimat basiert.

Doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats heißt: Fragen nach dem Inhalt wieder zu stellen, also neben den sozialontologischen Fragen nach der Form des Politischen auch die eher normativen Fragen nach dem Inhalt der guten Einrichtung der Politik zu stellen; und hierbei zu fragen, wie das Flüssige mit dem Festen in Institutionen vermittelt werden kann. Die Vermutung ist, dass die geforderten Institutionen so konstruiert sein müssen, dass sie das Flüssige grundsätzlich eingeschrieben haben, das heißt auf der Abwesenheit von Letztbegründungen beruhen und ihre eigene Kritik ermöglichen.

Eine normative Institutionentheorie auf Foucault aufbauen zu wollen scheint gerade nach der Rekonstruktion des Verflüssigungsprimats kontraintuitiv, weshalb ich im Folgenden erläutere, warum sich die dafür vorgeschlagene doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats aus zentralen Einsichten von Foucault und der postfundamentalistischen Politphilosophie ergeben kann.

Form/Inhalt: Mehr Inhalt

Die Einsicht des postfundamentalistischen Denkens ist, dass es keinen letzten Grund gibt, sondern nur kontingente und konkurrierende Begründungsschemata. Auch die durch diese Einsicht aufgespannte politische Differenz zwischen dem tieferliegenden Politischen und der partikular-kontingenten Politik selbst und jede Aussage über die Form des Politischen ist immer schon verankert in einer bestimmten Politik – denn wenn eine Theorie behaupten würde, das wahre Wesen der Politik gefunden zu haben, würde sie fundamentalistisch und nicht postfundamentalistisch sein. Anders gesagt: Wenn Foucault der Normierung durch Macht sozialphilosophisch großes Gewicht zuspricht, dann ist das ein konkreter politischer Einsatz und nicht die Ausgrabung der letzten Wahrheit des Sozialen. Der Weg ist also, politische Kritik postfundamentalistisch zu betreiben, und im Bewusstsein der Unmöglichkeit von Letztbegründungen strategische Essentialismen aufzustellen, beispielsweise eine plausiblere – machtsensiblere – Theorie politischer Institutionen und der daraus abzuleitenden Politik. Genau dies meine ich mit der verschiebenden Aufhebung der Form/Inhalts-Differenz. Sie darf nicht einfach wieder geschlossen werden, denn das wäre ein Rückfall in den Fundamentalismus, sondern der Inhaltspol soll im Bewusstsein der Differenz stärker ausbuchstabiert werden. Damit können Fragen der konkreten politischen Ordnung machsensibel und normativ in den Blick genommen werden, die im aktuellen Diskurs der Foucault-Orthodoxie oft als oberflächlich, alltäglich und rein herrschaftsstabilisierend angesehen und deshalb a priori ausgeschlossen werden.

Flüssig/Fest: Das Flüssige verfestigen

Der Einsatz von Foucaults Ethos der Kritik ist die Vermeidung von totalisierenden Effekten normativer Theoriebildung, weshalb er die Kritik verflüssigend konzipiert. Er verzichtet auf feste normative Großkategorien wie Freiheit, gerade um Freiheit im Konkreten zu verteidigen. Doch die Theorien, die er für ihre repressiven Effekte kritisiert, sind bestimmte: Sie sind essentialistisch und haben keinen wachsamen Blick für die Gefahr von theoriepolitischen Machteffekten. Foucault kritisiert vor allem einen dogmatischen Marxismus, der auf einer unhinterfragten teleologischen Geschichtsphilosophie beruht und einen Humanismus, der auf ausschließenden Setzungen über den Menschen beruht. Foucault ist in seiner Kritik dieser Theorien insofern zuzustimmen, als dass solche Theorien tatsächlich leicht zu unerwünschten Machteffekten führen. Daraus folgt jedoch nicht, dass alle Theorien mit normativen Ansprüchen quasi automatisch in totalitären Systemen enden, wie Foucaults Kritik es zu suggerieren scheint. Dies festzustellen käme dem Aufstellen eines universalen historischen Gesetzes gleich und wäre deshalb mit Foucaults Ethos und Methode inkompatibel, die eine grundlegende Skepsis gegenüber solchen ahistorischen Setzungen begründen. Viel eher öffnet Foucault durch seine komplexitätssteigernden Problematisierungen den Blick dafür, genauer zu unterscheiden, welche theoriepolitischen Interventionen welche Machteffekte haben, um diese beurteilen zu können. Es ist also nicht nötig, gänzlich auf normative Theoriebildung zu verzichten; es gilt vielmehr, die normative Theorie so zu gestalten, dass sie die von Foucault geäußerten Bedenken berücksichtigt. Daraus folgt bezüglich Institutionen (das Feste), sie so zu gestalten, dass sie die Verflüssigung integrieren, also ihre eigene Kritik ermöglichen. Auch wenn man mit Rancière einsieht, dass Institutionen grundsätzlich zu Ausschlüssen führen, so lässt sich immer noch zwischen besser und schlechter ausschließenden Institutionen unterscheiden. Diese realistische Frage wäre die eigentlich kritische, während eine zu starke Betonung des Verflüssigungsprimats bei einigen zeitgenössischen Theoretiker_innen zu einer regelrechten Entpolitisierung führt.

Eine solche doppelte Aufhebung des Verflüssigungsprimats ist die nötige Vorarbeit, um mit Foucault und anderen postfundamentalistischen Theoretiker_innen die Frage nach guten Institutionen zu stellen, mithin eine machtsensible und normative Institutionentheorie zu entwickeln. Damit können wir uns aus dem theoretischen Dilemma befreien, in dem wir durch den langwährenden Lagerkampf zwischen traditionell-normativer Sozialphilosophie und postfundamentalistischer Theorie geraten sind, und das unseren Blick für eine emanzipativ-kritische und realistische Konzeption von Institutionen verstellte.

Literaturverzeichnis

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Foucault, Michel (2005): Strukturalismus und Poststrukturalismus. Gespräch mit G. Raulet, Frühjahr 1983. 330. In: Foucault, Michel: Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, Bd. 4, S. 521–555.

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Koch, Andrew M. (2011): Post-Structuralism and the Epistemological Basis of Anarchism. In: Rousselle, Duane; Evren, Süreyyya (Hg.): Post-anarchism. A reader. London: Pluto [u.a.], S. 23–40.

Marchart, Oliver (2010): Politische Theorie als Erste Philosophie. Warum der ontologischen Differenz die politische Differenz zugrunde liegt. In: Bedorf, Thomas; Röttgers, Kurt (Hg.): Das Politische und die Politik. Berlin: Suhrkamp, S. 143–158.

Marchart, Oliver (2011): Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp.

May, Todd (2011): Is Post-Structuralist Political Theory Anarchist? In: Rousselle, Duane; Evren, Süreyyya (Hg.): Post-anarchism. A reader. London: Pluto [u.a.], S. 41–45.

Rancière, Jacques (1995): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Saar, Martin (2007): Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt: Campus.


[1] Es versteht sich, dass sich diese Autoren nicht über einen Kamm scheren lassen. Zu ihren Differenzen gibt es umfangreiche Literatur, siehe Fußnote 3. Die meisten würden ihren Einsatz weniger in einer Bevorzugung einer Seite der jeweiligen Differenz verorten, als im Aufmachen der Differenz selbst, und sie sind reflexiv genug, um sich gegen den Vorwurf einer simplen „Bevorzugung“ zu immunisieren.

[2] Marchart (2011): Die politische Differenz, S. 16. Oliver Marchart, der den Begriff „Postfundamentalismus“ geprägt hat, geht in seiner Analyse auf Foucault nur am Rande ein und konzentriert sich auf Nancy, Lefort, Badiou, Laclau, Agamben und Rancière.

[3] In Anlehnung an Heideggers ontisch-ontologische Differenz bezeichnet „das Politische“ die ontologische Dimension der politischen Beziehungen – dasjenige, was sie im Kern ausmacht und das Gegenstand der politischen Theorie ist – während „die Politik“ die ontische Dimension bezeichnet – die alltägliche Art und Weise, wie politische Beziehungen praktisch-institutionell eingerichtet sind, die von der empirischen Politikwissenschaft untersucht wird (vgl. Heidegger (1967): Sein und Zeit, S. § 3-5). Die Konzepte der politischen Differenz unterscheiden sich bei verschiedenen postfundamentalistischen Ansätzen erheblich; Überblicke und Vergleiche finden sich in drei aktuellen Sammelbänden: Bröckling (Hg.) (2010): Das Politische denken, Bedorf, Röttgers (Hg.) (2010): Das Politische und die Politik und Flügel, Heil, Hetzel (Hg.) (2004): Die Rückkehr des Politischen.

[4] Bröckling, Feustel (2010): Einleitung, S. 7.

[5] Ebd., S. 8.

[6] Ebd., S. 9.

[7] Marchart (2010): Politische Theorie als Erste Philosophie, S. 144.

[8] Ebd., S. 144.

[9] Ebd., S. 147.

[10] Trotz seiner wiederholten Feststellung, dass Demokratie nicht notwendig aus dem Postfundamentalismus folge, stellt Marchart eine politische Ethik der Demokratie auf, die auf der postfundamentalistischen Einsicht in die generelle Grundlosigkeit und in die fundamentale „Selbstentfremdung“ jeder sozialen Entität beruht. Daraus leitet er einen Solidaritätsbegriff ab, der auf eine Kritik von Identitätspolitik abstellt und der es verbietet, einen Fremden „an die Ketten seiner mutmaßlichen Identität zu legen“ (S. 361). „Selbstinfragestellung“ als ein wichtiges Element demokratischer Praxis hervorzuheben und mikropolitische Zusammenhänge von freiheitseinschränkender Identitätsfestschreibung zu kritisieren ist zwar richtig, aber Marchart verpasst es, stärkere Schlüsse über dafür notwendige demokratische Institutionen zu ziehen. Vgl. Marchart (2011): Die politische Differenz, S. u.a. 245-253 und 329-365.

[11] Butler (2009): Was ist Kritik?, S. 237.

[12] Martin Saar hat diese Methode der „genealogischen Kritik“ systematisch untersucht, vgl. Saar (2007): Genealogie als Kritik.

[13] Foucault (1990): Was ist Aufklärung?, S. 49.

[14] Ebd., S. 49.

[15] Foucault (2009): Sitzung vom 9. März 1983, erste Stunde, S. 444–445.

[16] Foucault (1990): Was ist Aufklärung?, S. 49. Vgl. auch Ebd., S. 47.

[17] Foucault (2005): Was heißt Strafen?, S. 785. Vgl. auch Foucault (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier, S. 105–106 und Foucault (2005): Strukturalismus und Poststrukturalismus, S. 544f.

[18] Foucault (2007): Die Sorge um die Wahrheit, S. 236.

[19] U. a. Rancière (2002): Das Unvernehmen.

[20] Vgl. bspw. May (2011): Is Post-Structuralist Political Theory Anarchist? und Koch (2011): Post-Structuralism and the Epistemological Basis of Anarchism.

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