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Stefan Hölscher: Das ZDF-Fernsehstudio im neuen Design oder:
Wie die Mitte besser sieht

Seit 2009 hat das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF), mit dem man angeblich schon vor dem Skandal um die direkte Einflussnahme auf dessen interne Entscheidungen durch den ehemaligen Ministerpräsidenten Hessens, den CDU-Politiker Roland Koch, glaubt man einem berühmten Werbeslogan, angeblich besser sehen konnte, ein neues Fernsehstudio, welches der interessierten Öffentlichkeit gegenüber einfach Grüne Hölle genannt wird. Dem ist nicht so, weil sich manche der Graswurzelrevolutionen der 1970er Jahre heute in ihr Gegenteil verkehrt hätten und die öffentlich-rechtlichen Anstalten ebenso wie manche Stadtteile vieler Metropolen der Bundesrepublik immer weiter in gentrifizierte Ghettos der Oberschicht verwandeln würden und man dort Bio kauft, weil Bio auf der Verpackung steht, sondern weil die Macher der Abendnachrichten auf die Idee gekommen sind, eine früher unter dem Namen Bluebox bekannte Filmtechnik weiter zu verfeinern, um mit den digitalen Programmiercodes des Internetzeitalters Schritt halten zu können.

Im neuen Fernsehstudio des ZDF werden die Kameras nur noch teilweise durch die lebendige Arbeit menschlicher Körper, sondern von zwei speziell für diese Aufgabe konstruierten Robotern bewegt. Die Moderatoren dürfen schon lange nicht mehr rauchen, wenn sie auf Sendung sind, haben aber als Ausgleich für ihre Strapazen einen Laptop der Marke Macintosh  sowie ein sogenanntes Steuerpult erhalten – letzteres kann ebenso direkt die automatischen Kameras ansteuern wie es die von der Redaktion in Echtzeit übermittelten nächsten Einspielungen ankündigt. Beide sind dezent in einem geschwungenen, dreiflügeligen Tisch eingelassen, dessen Design an das Innere des psychedelisch gestalteten Raumschiffs aus Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum erinnert. Würde sich das mediale Environment des neuen Studios nicht in leider überhaupt nicht spaßige gesamtgesellschaftliche Entwicklungen einfügen, könnte man fast über seine an die Anfänge des Science Fiction-Genres erinnernden Momente schmunzeln.

In einem Aufsatz mit dem Titel Das unerträgliche Bild vertritt der französische Philosoph Jacques Rancière die unkonventionelle These, dass uns die Fernsehanstalten keineswegs mit Bildern überschwemmen, sondern sie im Gegenteil deren Menge auf eine geordnete Anzahl und auf die redundante Veranschaulichung ihrer Bedeutung reduzieren würden. Das Problem sei nicht, dass wir zu viele Bilder sehen, sondern dass die Bilder, die wir präsentiert bekommen, zuvor ausgewählt worden sind von Menschen, die im Gegensatz zu uns für fähig gehalten werden, den Informationsfluss zu entziffern und zu übersetzen. Somit steht am Anfang der Politik der Medienbilder eine Trennung der Menschen in jene, die in der Lage wären zu sehen und zu sprechen über sie und die, welche dieses Vermögen nicht hätten. Daraus folgend ist Rancières zentraler Punkt im Hinblick auf den gegenwärtigen Medienwandel, dass es immer mehr einerseits das Sichtbare als Schicksal der Massen und andererseits das Sprachliche und die Kompetenz, über es zu urteilen, als Privileg einiger Weniger gibt.[i] Das Problem ist jedoch, dass die Körper, die im Sichtbaren besprochen und beurteilt werden, ohne selbst die Möglichkeit des Sprechens zu haben, mit denselben Fähigkeiten ausgestattet sind wie die, von denen sie kommentiert und in ein System der redundanten Bedeutung – wie die von dem hauptberuflichen Moderator Claus Kleber Erklärräume genannten Winkel des ZDF-Nachrichtenstudios – integriert werden. Ein Bild kommt niemals allein. Es ist stets Teil einer Anordnung von Bildern, die gemeinsam eine bestimmte Wirklichkeit bezeugen: „Das Informationssystem ist ein ‚Gemeinsinn‘ dieser Art: eine raumzeitliche Anordnung inmitten derer Wörter und sichtbare Formen zu gemeinsamen Gegebenheiten, gemeinsamen Wahrnehmungs-, Affektions- und Sinngebungsweisen zusammengesetzt sind.“[ii] Deshalb stellen die Massenmedien nach Rancière in erster Linie eine bestimmte Sichtbarkeit der Gemeinschaft her. Diese Sichtbarkeit ist aus vielen kleineren Sichtbarkeiten, die alle vermittels Ähnlichkeitsbeziehungen miteinander verbunden sind,  zusammengesetzt und hat die Funktion, Zeugnis abzulegen über eine uns allen gemeinsame Welt. Die Gemeinschaft des uns gemeinsamen Erfahrungsfeldes wird schließlich von dem, was Rancière Archi-Ähnlichkeit nennt, zusammengehalten als „jene, die kein Abbild der Wirklichkeit liefert, sondern unmittelbar von dem Anderswo, aus dem sie kommt, zeugt.“[iii]

Ich möchte in diesem Zusammenhang vorschlagen, das neue ZDF-Fernsehstudio als Teil eines Symptoms zu lesen für solche gegenwärtige Entwicklungen, in denen sich die Gesellschaften zunehmend offensichtlicher in gesellschaftliche Mitten verwandeln und der Konsens als wortwörtliches Einvernehmen aller Sinne und Zusammenstimmen des Sichtbaren und dessen, was über es sagbar ist, zum Fundament für etwas wird, was Rancière an anderen Stellen wiederholt Post-Demokratie genannt hat. Es geht mir nicht darum, das neue Design des Studios unter apparativen, technischen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern ich will fragen, was diese Apparate und diese Technik in ihren Effekten für das Gemeinsame einer Gemeinschaft bedeuten. Im Folgenden soll keine medientheoretische Analyse des neuen ZDF-Fernsehstudios im Vordergrund stehen, obwohl ich am Rande ein gewisses medientheoretisches Instrumentarium, das wohl am nächsten liegt, wenn es um Phänomene der in den letzten Jahren zunehmenden Verschmelzung von heterogenen medialen Apparaten und Techniken geht, aus einem skeptischen Winkel heraus beleuchten will. Alle, die einmal die neuen Nachrichten des ZDF gesehen haben, wissen, dass sich deren Ingenieure nicht nur von Bildleisten wie denen in I TUNES oder YOU TUBE, sondern auch von der glatten, flächigen Kompositionsweise, bei der es keine harten Kanten zwischen den Bildelementen gibt und sie meistens fließend ineinander übergehen, aus MTV oder VIVA haben inspirieren lassen. Insofern könnte Henry Jenkins Recht haben, wenn er im Vorwort zu seinem 2006 erschienenen Convergence Culture – Where old and new media collide schreibt:

„By convergence, I mean the flow of content across multiple media platforms, the cooperation between multiple media industries, and the migratory behavior of media audiences who will go almost anywhere in search of the kinds of entertainment experiences they want. […] In the world of media convergence, every important story gets told, every   brand gets sold, and every consumer gets courted across multiple media platforms.“[iv]

Seit einiger Zeit macht die sogenannte Konvergenztheorie, deren Anhänger davon ausgehen, dass entweder die Medieninhalte, die medialen Dispositive oder beide immer mehr miteinander verschmelzen, viel Reden um sich. Was mich in diesem Zusammenhang jedoch mehr interessiert als die Anwendung dieses Instrumentariums auf ein empirisches Feld ist die Frage, inwiefern es selbst in erster Linie mit einer bestimmten Auffassung der gegenwärtigen Gesellschaften als Gesellschaften des Konsenses korrespondiert, also unentwirrbar in sein Untersuchungsfeld verwickelt ist. Ich möchte deshalb lieber, vor dem Hintergrund der Überlegungen Rancières zu dissensuellen Gemeinschaften, einen (etwas polemischen) Begriff der Divergenz einführen, den ich anschließend einer Konvergenz, zumindest der Medieninhalte, gegenüberstellen würde.

Rancière beschreibt in Das Unvernehmen den Zustand der Gegenwart als Post-Demokratie und rückt diese in starke Nähe zur platonischen Idee des Staates als mit sich selbst identischem, organisch gegliederten Körper. Prinzipiell basiert für ihn jeder politische Raum zuallererst auf dem, was er eine erste Ästhetik nennt, die festlegt, was sicht- und sagbar ist, wer die Kompetenz zum Sprechen hat, wer wie mitgezählt wird und wer nicht. Sie ist „die Aufteilung des Sinnlichen, durch welche die Körper sich in Gemeinschaft befinden“[v], wobei jede Gemeinschaft immer auch Gemeinsames in Teile unterteilt und Anteile daran ungleich verteilt. Im Gegensatz zu anderen Aufteilungen des Sinnlichen lässt die Post-Demokratie das Erscheinen eines Anteils der Anteillosen nicht zu. Alle sind hier an ihrem Platz und sollen der ihnen angemessenen Tätigkeit nachgehen. Niemandem ist es erlaubt, etwas anderes zu tun als das, was bestimmte Fähigkeiten vorschreiben. Die Arbeiter in Platons Staat haben ebenso wenig Zeit, sich um etwas anderes als um ihre Arbeit zu kümmern wie die heute immer weiter wachsende sogenannte „Schwellenbevölkerung“[vi], deren Figur Michel Foucault in Die Geburt der Biopolitik hervorhebt, die die Fähigkeit hat, etwas anderes zu tun als zu warten auf Arbeit. Sie stellt eine von Foucault „Reserve der Handarbeit“[vii] genannte Menge – „aus der man schöpfen kann, wenn es nötig wird, die man aber auch auf ihren unterstützten Status verweisen kann“[viii] – dar für eine Wirtschaft, deren Ziel nicht länger die Vollbeschäftigung ist. In diesem ethischen Zustand einer Gemeinschaft fallen heute wie damals Seinsweisen und Tätigkeiten der Körper mit ihren Aufgaben und Plätzen unterschiedslos zusammen, ohne Abstand, ohne Lücken und ohne Löcher, aus denen etwas, das nicht seine klar umgrenzte Position im derart verrechneten Ganzen hat, entfliehen könnte.

Rancière verwendet zentral zwei Begriffspaare, anhand derer er entgegengesetzte Pole innerhalb jeder Aufteilung des Sinnlichen beschreibt. Erstens stellt er die Polizei der Politik gegenüber, zweitens die Identifizierung der Subjektivierung. Polizei ist für ihn der bereits konstituierte politische Raum als eine immer ungleiche Verteilung von Plätzen und Funktionen: „Für mich bezeichnet die Polizei eine Körperordnung, von der die Einteilungen zwischen den Weisen des Handelns, des Seins und des Redens definiert werden, eine Ordnung, durch die diesen bestimmten Körpern mittels ihres Namens diese bestimmten Stellen und diese bestimmten Aufgaben zugewiesen werden.“[ix] Politik dagegen hat keinen ihr eigenen Gegenstand, den sie als Ziel eines Projekts verwirklichen könnte, ihr Ausgangspunkt und ihr Einsatz ist jedoch stets die prinzipielle Gleichheit aller sprechenden Wesen. Diese Gleichheit lässt sich nicht berechnen oder einer gerechten Distribution unterziehen, sie kann immer nur aufs Neue und in singulären Akten verifiziert werden als Artikulation eines Anteils derer, die keinen Anteil haben (wozu potentiell jeder von uns gehört) und deshalb der einen, aufgeteilten Gemeinschaft eine andere, supplementäre entgegensetzen: „Als politisch kann jede Tätigkeit bezeichnet werden, die einen Körper von dem ihm angewiesenen Ort anderswo hin versetzt; die eine Funktion verkehrt; die das sehen lässt, was nicht geschah, um gesehen zu werden; die das als Diskurs hörbar macht, was nur als Lärm vernommen wurde.“[x]

Die Konfrontation zwischen Polizei und Politik ist es deshalb, die für Rancière eine dissensuelle Gemeinschaft ins Spiel bringt und nach ihm das Herz der Demokratie ausmacht. Durch Bilder des Ganzen, die sich selbst und jedem möglichen Ganzen unähnlich werden und an der Grenze aller Verrechnungen der Körper, ihrer Orte und Aufgaben, wird jede Zählung und Aufteilung des gesellschaftlichen Raumes, wenn es Politik gibt, mit ihrer eigenen Kontingenz konfrontiert. Die Figur eines notwendigerweise supplementären demos steht dann der berechneten Bevölkerung gegenüber. Während das identitäre, polizeiliche Prinzip einen Körper auf seinen Platz verweist und ihn stets daran erinnert, dass, wie Sokrates und Glaukon es in Der Staat fordern, seine Aufgaben nicht warten und er deshalb keine Zeit hat, sich anderen Dingen zu widmen als den Tätigkeiten, für die er bestimmt ist, seine Augen, wie Platon sagt, also immer dort sein müssen, wo seine Hände beschäftigt sind, bewegen Subjektivierungen die Körper weg von den Orten, die für sie vorgesehen sind. Sie können nie aufgehen in einer bestimmten Aufteilung des Sinnlichen und sind immer verbunden mit einer Reihe von singulären Handlungen, die „eine Instanz und eine Fähigkeit zur Aussage erzeugen, die nicht in einem gegebenen Erfahrungsfeld identifizierbar waren, deren Identifizierung also mit der Neuordnung des Erfahrungsfeldes einhergeht.“[xi] 

Was hat das alles nun mit dem neuen Design des ZDF-Nachrichtenstudios zu tun? Ich möchte behaupten, dass sich an ihm bestimmte Symptome ablesen lassen, die in einem engen Zusammenhang mit den Analysen zur Post-Demokratie stehen. In einer zentralen Passage seiner Untersuchungen über Das Unvernehmen setzt sich Rancière nämlich mit Jean Baudrillards Begriff der Simulation auseinander und kehrt dessen Behauptung, wir hätten es heute mit „Simulakren dritter Ordnung“, die losgelöst wären von jeder Referenz und als referenzloser Code und pures „Strukturgesetz des Wertes“[xii] frei zirkulieren würden, um. Rancière denkt das Problem der Simulation von einer anderen Richtung aus.

„Als Herrschaft der Meinung hat die Post-Demokratie zur Aufgabe, die verstörte und verstörende Erscheinung des Volkes und seiner immer falschen Zählung, hinter dem Verfahren einer allumfassenden Vergegenwärtigung des Volkes und seiner Teile und des Harmonisierens des Zählens der Teile und des Bildes vom Ganzen, zum Verschwinden zu bringen. Ihre Utopie ist jene einer ununterbrochenen Zählung, die das Ganze der >öffentlichen Meinung< als eins mit dem Volkskörper vergegenwärtigt. Was ist denn die Gleichsetzung der demokratischen Meinung mit den Umfragen und Simulationen? Sie ist eigentlich die Widerrufung der Sphäre der Erscheinung des Volkes. Die Gemeinschaft wird darin unaufhörlich ihr selbst präsentiert. Das Volk ist darin niemals mehr ungerade, unberechenbar und undarstellbar. Es ist immer zugleich vollständig abwesend und anwesend. Es ist ganz in einer Struktur des Sichtbaren gefangen, einer Struktur, in der man alles sieht und alles gesehen wird, und in der es daher keinen Ort mehr für das Erscheinen gibt.“[xiii]

Die Simulation ist deshalb nach Rancière nicht wie bei Baudrillard als Trugbild den Simulakren der Imitation und Produktion oder dem Realen entgegengesetzt, weil ihr Code referenzlos sei, sie ist vielmehr im Gegenteil ein Stadium der eindeutigen, höchsten und redundanten Referenz: Eine perfektionierte Archi-Ähnlichkeit der Bilder mit dem einen Bild der gut geordneten und organisch gedachten Gemeinschaft nach dem Modell Platons, in der die Köpfe denken und die Arme anpacken oder auf Arbeit warten, in neuem Gewand. Sie ist, wie Rancière weiter ausführt, kein Verlust der Wirklichkeit, sondern deren Reduktion auf das einzig Mögliche, das Notwendige und das kalkulierte Erscheinen, „die Herrschaft des All-Sichtbaren“[xiv]. An diesem Punkt lässt sich eine Begegnung zwischen Baudrillard und Rancière denken, denn gemeinsam ist ihnen die Problematisierung dessen, was von Theoretikern der Medienkonvergenz wie Jenkins an den neuen Medien euphorisch begrüsst wird, nämlich deren „implications for how we learn, work, participate in the [Hervorhebung d.A.] political process, and connect with other people all around the world.“[xv] Was dagegen sowohl für Baudrillard als auch für Rancière die Simulation ausschließt, ist gerade eine immer offene, dissensuelle Form von Politik, die jeden einheitlichen politischen Prozess von sich selbst abbringt und mit etwas konfrontiert, das in ihm unmöglich erscheint, eine in die Konvergenz jedes Prozesses eindringende Divergenz der Politik. Diese Divergenz, als das Erscheinen eines Anteils der Anteillosen im Raum derer, die bereits an ihm teilhaben und im Konsens ihre Teile und Anteile an dem, was sie zusammenhält aushandeln, ist der Abstand und die Trennung der Gemeinschaft von sich selbst.  Auf diesen Abstand und auf diese Trennung wollen sowohl Baudrillard als auch Rancière hinaus, sie ziehen aber sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen. Nach Baudrillard beruht der simulierte politische Prozess auf einem frei von jeder Referenz zirkulierenden Code, nach Rancière dagegen ist er es, der eine ethische Gemeinschaft begründet, indem er zu viel an Referenz mit sich bringt. Er verschmilzt untrennbar Wirklichkeit und Bild und verhindert dadurch eher die Erscheinung als dass er sie, wie bei Baudrillard, von jeder Referenz befreien und multiplizieren würde.

„Die Identität des Wirklichen mit seiner Reproduktion und Simulation ist das Nichtstatthaben der Verschiedenartigkeit des Erscheinens, das Nichtstattfinden also der politischen Konstituierung der nicht-identitären Subjekte, die die Gleichartigkeit des Sinnlichen stören, indem sie die getrennten Welten zusammen sehen lassen, indem sie Welten strittiger Gemeinschaften organisieren. Der >Verlust des Wirklichen< ist tatsächlich ein Verlust des Erscheinens. Was er also >befreit< ist nicht eine neue Politik der kontingenten Vielheit, sondern die polizeiliche Gestalt einer Bevölkerung, die genau identisch mit der Aufzählung ihrer Teile ist.“

Indem also das demos, das immer ein supplementäres ist und in keinem Ganzen aufgehen kann, in die Figur der Bevölkerung umgerechnet, auf das Gesetz von Statistik und Wahrscheinlichkeit reduziert und allabendlich in den Nachrichten besprochen und als mit sich identische Sichtbarkeit präsentiert wird, kommt es ebenfalls nicht zu seiner Erscheinung in Form von strittigen Bildern. Denn die Erscheinung des Volkes wäre immer eine von sich selbst abweichende Gemeinschaft und die Artikulation eines prinzipiellen Dissenses über das ihr Gemeinsame innerhalb der Aufteilung des Sinnlichen. Rancière kann, weil nach ihm heute eine einzige Rechnung ohne Rest aufgeht und die Gemeinschaft vollends in die Auszählung ihrer Meinungen und in Interessen präzise zählbarer Teile verwandelt wird, zu dem Schluss kommen, dass die mediale Simulation politischer Prozesse etwas immer unmöglicher erscheinen lässt: Den Einsatz und die Verifikation der prinzipiellen Gleichheit aller sprechenden Wesen und somit die Bühne der Politik selbst. Durch die mediale Simulation von politischen Prozessen wird jeder potentielle Streithandel zwischen zuvor nicht festgelegten Parteien auf ein mögliches Problem und bestimmte Positionen innerhalb des polizeilich strukturierten Sinnlichen reduziert, jedes Ereignis mit einem zu ihm passenden Kommentar (und jeder Kommentar mit einem zu ihm passenden Kommentator) vernetzt und eingefügt in den einen gemeinsamen, ungleich verteilten Raum. Somit ist die arche als Einzäunung des Politischen der gegenwärtigen Gesellschaften, wie sie auch als Symptom am neuen Design des ZDF-Fernsehstudios abgelesen werden kann, eine Herrschaft des Vollen als der vollständigen Innerlichkeit einer Gemeinschaft, die nach Rancière letztlich mit ihrer eigenen Leere zusammenfällt, indem „das Leere ihrer Rede das Leere des politischen Schauplatzes überdeckt“[xvi].

Ich möchte diesbezüglich mit einer weiteren Anekdote enden: Der Moderator Claus Kleber sagt an einer Stelle, während er das neue ZDF-Nachrichtenstudio präsentiert, dass jetzt für Improvisation kein Platz mehr ist, weil die unterschiedlichen Videoeinspielungen, Graphiken und Live-Schaltungen zu Interview-Partnern genau getimt seien und sich die Nachrichtensprecher deshalb stets darüber bewusst sein müssten, auf welcher Wand der Grünen Hölle das folgende Material im „Klärraum“ eingeblendet wird. Ebenso wenig könne man jetzt noch punktuell den gesprochenen Text verändern, während die Sendung laufe. Die Grüne Hölle als Symptom der ethischen, post-demokratischen Gemeinschaft bestimmt also einen Raum der Konvergenz, der alle Ereignisse umfasst und in sein Kalkül integriert. Sie ist deshalb auch ein Raum des reinen Möglichen, der alles verbietet, was unmöglich ist: „>Alles ist möglich<, das heißt, >nichts ist als das Mögliche<. […] Das, was nicht möglich ist, hat kein Recht auf Existenz. […] Das Mögliche wird heute dem >einzig Möglichen< gleichgesetzt. In diesem Sinn wird es mit der Notwendigkeit gleichgesetzt“[xvii], wie Rancière schreibt. Es gibt also zwei einander entgegengesetzte Tendenzen, die sich heute aneinander messen könnten. Die Konvergenz, mögen ihre technischen und apparativen Dispositive, wie Jenkins betont, auch noch so sehr auseinander gehen, die alles auf eine einzige Seinsweise der vereinten und mit sich deckungsgleichen Gemeinschaft zusammenzieht einerseits und andererseits eine unmögliche, aber doch insistierende Divergenz, welche die Gemeinschaft von sich selbst entfernen und die Körper voneinander und von ihren berechneten Plätzen trennen würde. Diese heute mehr und mehr unmöglichere Gemeinschaft des Abstands und der Trennung ist es, die den auf ihre vollständige Sichtbarkeit reduzierten Gesellschaften andere Bilder entgegensetzten würde. Bilder, die sich selbst unähnlich sind. Aber doch immer nur Bilder. Um mit Rancière zu enden: „Es geht darum, andere Wirklichkeiten, andere Formen des Gemeinsinns zu erzeugen, das heißt andere raum-zeitliche Anordnungen, andere Gemeinschaften der Wörter und der Dinge, der Formen und der Bedeutungen.“[xviii] Insofern finden momentan vielleicht Medienwandlungen statt, nicht aber ein Wandel der einen, einzigen, möglichen Wirklichkeit.

P.S.:

Wer nach dem Lesen dieses Artikels doch noch schmunzeln will... Hier erklärt Claus Kleber, einer der Moderatoren des heute journals, das neue Fernsehstudio des ZDF:

http://www.youtube.com/watch?v=cdb1T3H9oXY

(Zugriff am 22.1.2013)


 

[i]     Jacques Rancière, Das unerträgliche Bild, in: ders., „Der emanzipierte Zuschauer“, Wien: Passagen Verlag, 2009, vgl. S. 116.

[ii]    Ebd., S. 120.

[iii]   Ders., Die Bestimmung der Bilder, in: ders., „Politik der Bilder“, Berlin/Zürich: diaphanes, 2005, S. 16.

[iv]   Henry Jenkins, Convergence Culture – Where old and new media collide, London/New York: New York University Press, 2006, S. 2f.

[v]    Jacques Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 38.

[vi]   Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II – Die Geschichte der Biopolitik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 289.

[vii]  Ebd., ebd.

[viii] Ebd., ebd.

[ix]   Jacques Rancière, Gibt es eine politische Philosophie?, in: ders./Alain Badiou, „Politik der Wahrheit“, Wien: turia+kant, 2010, S. 82.

[x]    Ebd., S. 83.

[xi]   Ders., Das Unvernehmen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 47.

[xii]  Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München: Matthes&Seitz, 1991, S. 71.

[xiii] Jacques Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 112 f.

[xiv] Ebd., S. 114.

[xv]  Henry Jenkins, Convergence Culture – Where old and new media collide, New York: New York University Press, 2006, S. 23.

[xvi] Jacques Rancière, Gibt es eine politische Philosophie?, in: ders./Alain Badiou, „Politik der Wahrheit“, Wien: turia+kant, 2010, S. 80.

[xvii]         Ders., Über den Nihilismus in der Politik, in: ders./Alain Badiou, „Politik der Wahrheit“, Wien: turia+kant, 2010, S. 183.

[xviii]        Ders., Das unerträgliche Bild, in: ders., „Der emanzipierte Zuschauer“, Wien: Passagen Verlag, 2009, vgl. S. 120.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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