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Gerhard Hanloser: Secessio und Occupy I. Massenhafte soziale Bewegungen Verschuldeter hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Erst jüngst hat der Ethnologe und Anarchist David Graeber, einer der intellektuellen Sprachrohre der Occupy-Bewegung, Marx Satz von der Geschichte als Geschichte der Klassenkämpfe modifiziert zu einer Darstellung der Herrschafts- und Ausbeutungsgeschichte als eine Geschichte der Gläubiger-Schuldner-Kämpfe.[1] Tatsächlich lassen sich selbst in der Beschäftigung mit Narrativen von Konfliktgeschichten der Alten Geschichte frappierende Überschneidungen, aber auch erhellende Unterschiede zu heutigen sozialen Konfliktereignissen konstatieren. Am frappierendsten ist, wie wenig sich die Occupy-AktivistInnen vornehmlich in den USA, aber auch in anderen Ländern und Regionen soziologisch fassen lassen. Das ist immer ein gutes Zeichen. Bereits die legendäre „Plebs“ des alten Rom war rein soziologisch eine unmöglich zu qualifizierende Größe, einige Althistoriker wollten in der Plebs lediglich eine von politischer Mitsprache ausgeschlossene Gruppe sehen: „Das Volk außerhalb des Adels war freilich soziologisch keine einheitliche Größe. Es wurde nur zu einer solchen durch den gemeinsamen Ausschluss vom politischen Regiment und durch die einheitliche Bezeichnung ‚Plebs’, welche es wahrscheinlich von der oberen regierenden Klasse erhalten hatte“[2] Und auch Michel Foucault trug dieser Ungreifbarkeit der Plebs Rechnung, sieht allerdings im Plebejischen eine ewige Widerstandslinie aufblitzen. Der französische Philosoph sieht sich der Suche nach Subversionsstrategien verpflichtet, der Suche nach einem Begriff von Kämpfen jenseits und teilweise gegen das marxistisch-leninistische Dogma. Eine Beschreibung von Kämpfen, die auch Fluchtbewegungen, Widerstände und Revolten jenseits der großen hegelianischen Klassen-Choreographien beinhalten, ist sein Anliegen: „Die »Plebs« besitzt zweifelsohne keine soziologische Wirklichkeit. Es gibt jedoch immer etwas im Gesellschaftskörper, in den Klassen, in den Gruppen und in den Individuen selbst, das in gewissem Sinne den Machtverhältnissen entgeht; etwas, das nicht der mehr oder weniger formbare oder widerspenstige Rohstoff, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine gegenläufige, befreite Energie ist. »Die« Plebs existiert zweifellos nicht, aber es gibt »etwas« Plebejisches. Es gibt etwas Plebejisches in den Körpern und den Seelen, es ist in den Individuen, im Proletariat, im Bürgertum, aber mit verschiedenen Erweiterungen, Formen, Energien und Ursprünglichkeiten.“ [3] Als kurzfristiger Beobachter der Occupy-Bewegung in den USA (Vgl.: Grundrisse 41) scheint mir Foucaults Bemerkung über die Plebs der Klassenzusammensetzung und sozialen Energie, die in der modernen Platzbesetzerbewegung zum Tragen kommt, vollkommen zu entsprechen. Denn auch wenn die meisten Occupist@s einer „proletarischen Existenzsituation“ (Karl Reitter) ausgeliefert sind und sich gegen sie wenden, sich in ihr und gegen sie behaupten, würde es von einigem Dogmatismus zeugen, die Occupy-Bewegung in starren marxistischen Klassenkategorien ausdrücken zu wollen. Es ist eine Volksbewegung, die in der Selbstbeschreibung die 99% verkörpern und darstellen will. Das Verschuldungsproblem ist seit der Immobilienkrise in den USA eklatant geworden, immer wieder können Begegnungen mit hochverschuldeten Verelendeten aus der Mittelschicht in den Occupy-Zeltlagern stattfinden. Die Parallele zu dem Schuldnerkampf der Plebs im Alten Rom liegt auf der Hand. Aber auch mögliche Gefahren und Beschränkungen einer plebejischen Bewegung können im Blick auf die Geschichte der Plebs und ihres Kampfes in Rom, der schließlich zu dem großen Auszug („Secessio“) führte, ausgelotet werden.[4] II. Der römische Geschichtsschreiber Livius erzählt uns von allen römischen Geschichtsschreibern am plastischsten die Geschichte vom Kampf der Plebejer und ihrem Auszug auf den Mens Sacer.[5] Am Anfang des sich zwischen Patriziern und Plebejern zuspitzenden Konflikts steht für den reformistischen Moralisten Livius der Übermut der Väter nach dem Tod des Tarquinius. Dem aus Rom vertriebenen Herrscher Tarquinius Superbus wurde nach der Schlacht am See Regillus im Jahr 495 v. Chr. Zuflucht bei Aristodemos von Kyme gewährt und er war offensichtlich beim römischen Volk unbeliebt. Doch während die Patrizier „bis zu diesem Tage die allergrößten Gefälligkeiten erwiesen hatten, erlaubten sich die Adligen von jetzt an Willkürhandlungen gegen das Volk.“ (Livius, 2, 21, 6) In Rom herrschte eine gewisse Kriegsmüdigkeit, die auch mit der Situation bei den Latinern korrespondierte. Als nun neuerlicher Krieg mit den Volskern drohte, herrschte in der Bürgerschaft Zwietracht, die auch sozial motiviert war, denn im Zentrum der Konflikte im Alten Rom stand die Frage der Schuldhaft. „Es war eine Feindschaft entbrannt zwischen Vätern und Volk, vor allem wegen der Bürger, die in Schuldhaft geraten waren.“ (Livius, 2, 23, 1) Diese soziale Abhängigkeitssituation wurde kontrastiert mit den Ansprüchen der Patrizier, dass die Plebejer für Rom zu kämpfen haben: „Diese empörten sich darüber, dass sie auf den Schlachtfeldern für die Freiheit und Herrschaft Roms ihr Leben aufs Spiel gesetzt hätten, zu Hause aber von den eigenen Mitbürgern in Haft und Bande gehalten würden.“ (Livius, 2, 23,2) In Livius Ab urbe condita drängt die verschuldete Plebs immer wieder auf Beteiligung an den Beutezügen Roms. Für den Ausbruch des offenen Konflikts zwischen Patriziern und Plebejern sorgte jedoch ein Erlebnis, das als Gleichnis auf die generelle soziale Situation wahrgenommen wurde und die Empörung , die einen konkreten Gegenstand benötigt, schließlich entfachte. Auf das Forum kam ein alter Mann, der einen zerrütteten Eindruck machte. Seine Kleider waren zerschlissen und sein Aussehen ausgezehrt. Die Menge erkannte ihn aber trotz seines Aussehens: „...es hieß, er sei Hauptmann gewesen, und man erzählte voller Mitleid im Volk, was er für Heldentaten im Krieg vollbracht habe.“ (Livius, 2, 23, 4) Am Anfang der sich bis zum Aufstand steigernden Empörung steht also das Mitleid. Das Schicksal dieses Mannes vereint in sich die großen sozialen Probleme des Alten Rom: Als Soldat im Sabinerkrieg hat er nicht nur seine Ernte eingebüßt. Er hat ebenso seinen Hof verloren und sein ganzer Besitz wurde geplündert. In dieser Zeit wurde auch noch eine Kriegssteuer erhoben, für die er sich verschuldete. Die Zinsen auf die Schulden haben ihm schließlich seinen ganzen Besitz genommen. Außerdem sei er in ein Arbeitshaus gesteckt worden, wo man ihn folterte. Nach diesem öffentlichen Erfahrungsbericht erhob sich ein „allgemeiner Aufruhr“ (Livius, 2,23, 8), der allerdings zuerst soziale Sicherheit und Schutz einklagte: „Alle Schuldpflichtigen mit und ohne Fesseln stürzten von allen Seiten ins Freie und erflehten den Schutz ihrer Mitbürger.“ Doch in dieser Situation der sozialen Gärung ist bereits eine hohe Konfliktbereitschaft auszumachen, denn Livius bemerkt, dass ein Zusammentreffen mit der Menge für die Senatoren Lebensgefahr bedeutete. (Livius, 2, 23, 9) Der gemeinhin als Hardliner eingeschätzte Konsul Appius Claudius taucht nach Livius gemeinsam mit Publius Servilius auf, „um den Aufruhr zu dämpfen“ (Livius, 2, 23, 10). Sie rufen auch die Patrizier zu einer Versammlung zusammen, die jedoch nicht zustande kommt, weil die meisten Väter sich aus Furcht von Kurie und Forum fernhalten. Sowohl die abwesenden Väter, als auch die Konsuln werden nun vermehrt Zielscheibe der Aggressionen der Menge, nach einiger Verzögerung ist das Gremium nun nominell beschlussfähig, doch die beiden erwähnten Konsuln wie die Väter sind sich über das weitere Vorgehen nicht einig. Tatsächlich zeichnet nun auch Livius das Bild von Appius als Hardliner, der dem eher reformerisch gestimmten Servilius entgegensteht: „Appius, ein Mann von leidenschaftlichem Charakter, riet dazu, die Sache mit konsularischer Amtsgewalt zu Ende zu bringen. Man solle den einen oder anderen aus der Menge herausgreifen, dann würden sich die übrigen schon beruhigen. Servilius, der mehr zu milderen Maßnahmen neigte, hielt es für sicherer und auch leichter, den Groll der Menge zu besänftigen statt zu unterdrücken.“ (Livius, 2, 23, 15) Die soziale Konfliktlage in Rom wird daraufhin angesichts äußerer Gefahr und Kriege vorerst nach außen umgelenkt, um schließlich doch nach innen zu explodieren. Die Volsker rücken auf die Stadt zu und zuerst löst diese Nachricht zwei vollkommen unterschiedliche Reaktionen bei Vätern und Volk aus, welche die zugespitzte Entfremdung dieser sozialen Gruppen deutlich vor Augen führt: Während die Väter zur Kriegsmobilisierung rufen, jubelt die Menge in einer apokalyptischen Stimmung, ersehnt den Untergang des ungerechten Gemeinwesens, den die Götter aus Strafe für den Hochmut der Väter veranlasst hätten und bestärken sich gegenseitig, „sich nicht zu den Fahnen zu melden“ (Livius, 2, 24, 2). Dass im Zentrum dieses Defätismus die Frage der Verteilung der Kriegsbeute steht und nicht etwa ein prinzipieller Pazifismus, macht die Argumentation der Menge deutlich: Sollen doch diejenigen, die die Kriegsbeute einheimsen, zu den Waffen greifen. Nun wird der Konsul Servilius vor die Volksversammlung geschickt und beschwört zum einen eine Art große ‚heilige Allianz’ im Angesicht des Krieges. „Wenn der Feind fast vor den Toren steht, könne unmöglich etwas anderes wichtiger sein als der Krieg.“ (Livium, 2, 24, 5) Doch erst ein klar verbürgtes Versprechen, das zukünftig auch die einfachen Krieger an der Kriegsbeute partizipieren werden, löst einen Stimmungsumschwung beim Volk aus. In dem Edikt wird die prinzipielle Freiheit von Knechtschaft der Krieger festgelegt, auch soll fortan das Hab und Gut der Kriegsführenden sakrosankt sein. Nach diesem Versprechen erhebt sich eine Kriegsbegeisterung, die bei Livius nicht nur in Form des begeisterten Fahneneides, sondern auch im übermotivierten Kampf gegen die äußeren Feinde zum Ausdruck kommt. Die einfachen Soldaten, besonders die schuldpflichtigen werden als förmlich den Krieg entgegensehnend dargestellt. (Livius, 2, 25, 3) Dem von Plünderungen begleiteten Krieg gegen die Volsker, folgt der Krieg gegen die Sabiner und Aurunker. Die umgelenkte soziale Energie sorgte dafür, dass diese Schlachten rasch zu absoluten Siegen Roms führten. Nun erwarteten die einfachen Römer auch, dass Senat und Konsuln ihre Versprechen einhalten. Doch niemand anderes als Appius „bestätigte mit äußerster Härte das Recht der Gläubiger in Schuldklage“. (Livius, 2, 27, 1) Servilius wird so zum Ansprechpartner der Menge, ihn konsultiert nun ein Teil der Plebs und beruft sich auf seine Versprechungen. Doch diesem sind die Hände gebunden: „Nicht nur seine Mitkonsuln, sondern die gesamte Adelspartei war Hals über Kopf zur Gegenseite übergegangen.“ (Livius, 2, 27, 3) Damit entfiel auch Servilius als anerkannter Vermittler und Gesprächspartner, das Volk sah sich betrogen, Servilius erwies sich in kürzester Zeit als ebenso verhasst wie Appius. (Livius, 2, 27, 4) Nun erfolgt eine Politik der Nadelstiche und kleinen Provokationen des Volkes, die die Konsuln dadurch kränken, dass sie einen Hauptmann von erstem Rang (Primipilus) die Tempelweihe in der Volksversammlung übertrugen: Denn damit übertrug man ein höchst ehrenvolles Amt einem Mann niederer Stellung. Es scheint, dass mit dem Wegfall eines anerkannten Vermittlers sich der Konflikt zuspitzt. Livius erklärt, dass das Volk nun einen ganz anderen Kurs eingeschlagen habe: „Auf die Hilfe der Konsuln und des Senats hofften sie nämlich nicht mehr.“ Nachdem also die Gegenseite keine adäquaten Ansprechpartner mehr offeriert, wendet sich die Plebs den eigenen Kräften zu. Entscheidender Ort der Zusammenballungen und Proteste der Plebs sind die Gerichtsgebäude, wenn ein Schuldpflichtiger vorgeführt wird, strömt die Menge zusammen und es erhebt sich ein solch lautes Geschrei, dass man den Spruch des Konsuls nicht hören konnte. Die Plebs selbst torpediert also die Sprache, die lediglich polizeiliche Herrensprache ist. Dem tritt allgemeiner Ungehorsam zur Seite und Livius berichtet von Gewalt gegen Gläubiger, „von denen einzelne vor den Augen des Konsuls von der Menge misshandelt wurden“. (Livius, 2, 27, 9) Die soziale Angst hat plötzlich die Seite gewechselt. Appius, der sich bereits in der Vergangenheit als wenig einsichtig und austarierend erwiesen hatte, konfrontiert sich nun mit der Menge, die sich tagtäglich um seinen Richterstuhl drängte. Er lässt Rädelsführer herausgreifen und tut die Anliegen der Plebs als „Geschrei des Volkes“ (clamor populi) ab. Offener Tumult ist die Reaktion und Luivius berichtet nun auch von „Parteiungen und geheimen Zusammenkünften“. Das Volk hält nächtliche Zusammenkünfte auf dem Aventin ab. (Livius, 2, 28, 1) Die Väter setzten angesichts dieser Situation, in der das Gemeinwesen in viele verschiedene Kurien und Volksversammlungen aufgesplittet und aufgespalten war, auf die harte Lösung, ihr Mann war der Hardliner Appius. Konsuln wie Väter beschließen so eine Truppenaushebung: „Das Nichtstun mache das Volk so übermütig.“ (Livius, 2, 28, 5) Doch als die Konsuln das Tribunal besteigen und die Namen der Wehrfähigen einzeln aufrufen, antwortet niemand. Die Menge wählt die Strategie der Befehls- und Kommunikationsverweigerung. Sie lässt sich nicht zählen, erfassen und benennen, weil sie sich nicht hinter das Licht führen lassen will. Es wird Freiheit gegen Wehrdienst gefordert. Für das Vaterland und die Mitbürger wolle man kämpfen, aber nicht für seine Herren. (Livius, 2, 28, 7) Diese Bekundung zeigt, dass die sozialen Banden noch nicht gänzlich zerrissen sind und ideologische Größen wie das Vaterland nach wie vor bei der Plebs Gültigkeit haben. An diesen Ideologien wird dann auch der demagogische Reformist Menenius Agrippa mit seiner bekannten Fabel andocken können. Auf Grund der wenig flexiblen Väter droht aber ein blutiger Zusammenstoß mit dem Volk, vor dem auch die Konsuln warnen. Nachdem die Väter weiterhin die Gerichtsdiener auf die Schuldner ansetzen und den verjagten Gerichtsdienern zur Seite springen wollen, kommt es zum Angriff auf die Väter selbst, die allerdings noch im Rahmen des zivilen Ungehorsams verblieben: „Es hatte dabei freilich, ohne Steinwürfe und ohne Gebrauch von Waffen, mehr Geschrei und zornige Erbitterung als Tätlichkeiten gegeben.“ (Livius, 2, 29, 4) Unter den Konsuln gibt es nun drei Optionen, wie mit der zugespitzten Situation verfahren werden soll. Schließlich ging es um nichts geringeres um die Wehrfähigkeit Roms: „Publius Verginius machte eine Einschränkung: Hilfsmaßnahmen sollten nur denjenigen zugute kommen, die auf das Versprechen des Konsuls Publius Servilius hin am Krieg gegen die Volsker, Aurunker und Sabiner teilgenommen hätten. Titus Larcius meinte, es sei nicht an der Zeit, nur Verdienste zu belohnen. Die gesamte Bürgerschaft gehe unter in einem Meer von Schulden, und man könne diesem Übel nur Einhalt gebieten, wenn man allen Hilfe zukommen lasse. Im Gegenteil: Wenn man den einen so und den anderen anders behandle, dann werde die Zwietracht mehr geschürt als eingedämmt. Appius Claudius, schon von Natur aus schroff, war durch die Anfeindung des Volkes wie durch die Lobsprüche der Väter in solch grimmigem Hochmut, dass er sagte, an diesen Unruhen sei nicht das Elend des Volkes schuld, sondern sein Übermaß an Freiheit. Das Volk sei eher zügellos als erbittert.“ (Livius, 2, 29, 7-9) Mit dieser Position konnte sich Appius letztendlich durchsetzen und er wäre beinahe zum Diktator gewählt worden. Lediglich die Bedrohung von außen, durch die Volsker, die Aequer und die Sabiner, führten dazu, einen beim Volk beliebteren Diktator einzusetzen: Die Konsuln und die Ältesten „wählten Manius Valerius, den Sohn des Volesus, zum Diktator. Zwar sahen die Bürger, dass die Ernennung eines Diktators gegen sie gerichtet war, aber da sie das Berufungsrecht dem Bruder des Diktators verdankten, befürchteten sie von dieser Familie keine Kränkung oder Willkür.“ (Livius, 2, 30, 5) Tatsächlich schafft es das römische Gemeinwesen nach drei Seiten hin Krieg zu führen und die Schlachten zu gewinnen. Von einer revolutionären Situation, im modernen Sinne, die von einem verallgemeinerten Defätismus begleitet und in der die „heilige Allianz“ der kriegsführenden Nation aufgekündigt werden würde, kann also keine Rede sein. Dennoch ist die Situation im Inneren auch nach erfolgreichem Krieg mit erheblichen Beutegewinnen weiterhin gespannt. Der Diktator Valerius vermag nämlich nicht, sich gegenüber den Geldverleihern durchzusetzen. Er fordert eine Entscheidung über die Behandlung der Schuldpflichtigen und zieht sich schließlich von seiner Position als Diktator zurück, als er einsehen muss, dass es zu neuerlichem Aufruhr auf Grund der ungelösten Schuldenfrage kommen wird. Valerius kann sich als vom Volk geachteter Diktator zurückziehen, weil nicht ihm die Schuld an dem wieder einmal gebrochenen Versprechen gegeben wird (Livius, 2, 31 11) Die Väter wollen nun die Bedrohung von außen zur Sicherung des inneren Friedens auf Dauer stellen, behaupten, dass nun eine Kriegsgefahr von den Aequern ausgehe und sie erklären „die Soldaten weiterhin für zum Kriegsdienst verpflichtet, da sie ja den Fahneneid vor den Konsuln abgelegt hätten“. (Livius, 2, 32,1) Nun ist der Bogen überspannt, im Volk erwägt man die Ermordung der Konsuln, um sich vom Fahneneid zu befreien. Aber die Bürger werden darüber belehrt, dass man sich von einer religiösen Verpflichtung nicht durch ein Verbrechen lösen könne, so erwägt die Plebs eine andere Methode: Sie wollen auf den Heiligen Berg ausziehen. (Livius, 2, 32, 2) Am Anfang des Auszugs auf den Mons Sacer steht also die religiöse Fesselung an den Fahneneid, das soziale und ideologische Band zwischen Plebs und römischem Gemeinwesen ist demnach alles andere als zerschnitten. So konnte es dem Senator Menenius Agrippa auch leicht gelingen, die Plebs davon zu überzeugen, Teil des römischen Gemeinwesens zu bleiben. Dieser Coup des reformistischen Senators zählt sicherlich zu den bekanntesten Narrativen der römischen Geschichte. Der Sozialphilosoph Ernst Bloch hat sich mit ihr auseinandergesetzt, um die reaktionäre Übertölpelung als Drohung in der Geschichte kenntlich zu machen. Für Bloch handelt es sich bei der Fabel des Agrippa um eine der ältesten Soziallügen der Geschichte. „494 v. Chr hatten die Plebejer, denen Aufhebung der Schuldhaft versprochen, aber nicht gewährt worden war, Rom verlassen. Wollten auf einer Anhöhe am rechten Ufer des Anio, welche später den Namen Heiliger Berg trug, eine neue Stadt gründen und dort nach eigenen Gesetzen leben, Secessio plebis in montem sacrum. Die Patrizier, ihrer Schuldknechte und Fußsoldaten beraubt, schickten einige Schlaue ihrer, darunter den beim Volk beliebten Schwadroneur Agrippa, um die Plebejer wieder nach Rom zu locken. Mit der Suada hatte dieser zu vollbringen, wozu Waffengewalt im Augenblick dem Senat nicht opportun schien. Also tischte Agrippa seine bekannte Fabel auf, erzählte, wie sich einst die verschiedenen Glieder des menschlichen Leibes gegen den Magen verschworen hätten, weil dieser allein alles verzehrte. Die Glieder hätten aufgehört, ihm ihre Dienste zu leisten, seien aber alsbald durch ihre eigene Entkräftung belehrt worden, wie notwenig der Magen im gemeinsamen haushalt des menschlichen Körpers sei. ‚Roms Senatoren’, so schließt Agrippa in Shakespears ‚Coriolan’ seine Rede, ‚Roms Senatoren sind der gute Bauch, / Ihr die empörten Glieder.’ In der Tat kam es, nach dieser Fabel und einigen Unterhandlungen, zu einem Vertrag, die Plebejer verließen ihr bereits befestigtes Lager, kehrten nach Rom zurück — nicht einmal ganz in ihre alte Lage. (Hier wird der Fortschritt erkennbar, den die Vertragstreue seit den mythischen Zeiten bis zu Hitlers Verfassungseid zurückgelegt hat.) Das patrizische Schuldrecht blieb zwar, und eben Coriolan leitete seinen Hochverrat damit ein, daß er eine Hungersnot zur Auflösung des neuen Verhältnisses zu den Plebejern benutzen wollte, jedoch erlangten die Plebejer in der Folge das Recht auf Volkstribunen aus ihrer Mitte, zum Schutz gegen Mißbrauch der patrizischen Gewalt. Auch hat man nachdem nicht gehört, daß diese Volkstribunen selbst nur bezahlte Klopffechter der patrizischen Interessen gewesen seien. Insofern also besteht zwischen dem grauen Altertum und den Lichtalben von heute mancher Unterschied. Schließlich leugnete Agrippas Fabel auch keineswegs den feudalen Magen ab, als »in Leibes Mitte, arbeitslos und müßig«, wie Shakespeare sprechen läßt. Wogegen unsere heutigen Patrizier und ihre Volkstribunen das raffende Kapital überhaupt als Organ im deutschen Volkskörper leugnen und demgemäß ausschließlich mit jüdischen Plättfüßen verbinden. Doch von solchen Metamorphosen abgesehen ist die Fabel des Menenius Agrippa das bleibende Modell der sozialdemagogischen Lüge, sozusagen ihre Urpflanze."[6] Bloch sieht einen Traditionsstrang, der von dem organizistischen Denken in Agrippas Fabel reicht bis zu dem nationalökonomischen Organismus, der mit Namen wie Adam Müller, Konstantin Frantz oder Othmar Spann verbunden ist. Bei ihnen wird Wirtschaft und Gesellschaft als etwas „organisches“ begriffen und damit naturalisiert. Diese Ideologie zielt laut Bloch auf „Wirtschaftsfriede, Klassenfriede“[7]. „Die Proletenhände und der Kapitalistenmagen hausen (...) im gleichen Leib und gleichen ‚Volksstaat’“.[8] Im Unterschied jedoch zur Fabel der Antike sieht Bloch in der aktuellen nationalsozialistischen Soziallüge vom Gemeinnutz, der vor Eigennutz geht, eine Radikalisierung vorliegen. Kapital und Arbeit werden wie bei Agrippa im organisch gedachten Staat des „Dritten Reichs“ versöhnt, darüber hinaus wird jedoch eine vollkommen außerhalb des Staates, der Nation und des produktiven Wirtschaftens angesiedelte „Gegen-Rasse“ konstruiert: die Juden, die mit dem „raffenden Kapital“, dem Finanzkapital assoziiert werden. III. Auffallend ist in der Darstellung des historischen Plebs-Kampfes, die Rolle der Verschuldung und der Kriegsveteranen. Auch Occupy in den USA wurde von vielen Veteranen getragen, sie sind fester Bestandteil der Protestkultur. Verglichen mit dem Ausbleiben eines allgemeinen Defätismus, bzw. einer Abwendung von Militär und Kriegsführung durch die Plebs kann für die moderne Bewegung in den USA gesagt werden, dass sie den Kriegsplänen ihrer Regierung prinzipiell feindselig und ablehnend gegenüberstand, die kriegerische Disposition der römischen Plebs ist bei den Occupist@s nicht anzutreffen, auch wenn von einem Defätismus wie zuletzt während des Vietnamkrieges keine Rede sein kann. Ein lokales Problem stellte die Kriegsgefahr und Kriegsmobilisierung für die große und Hoffnung machende israelische Platzbesetzer-Bewegung im Sommer 2011 dar. Die beständige terroristische und staatsterrorische Drohung, aber auch ein ungebrochenes staatsbürgerliches Bewusstsein vieler Demonstranten, im Notfall Gewehr bei Fuß zu stehen, kombiniert mit der weitgehenden Weigerung, die Frage der Okkupationspraxis des „eigenen Staates“ im Protest zu thematisieren, stellen einen großen Schwachpunkt dieser Bewegung dar, die allerdings auch weitgehend als Mittelschichtbewegung charakterisiert wurde.[9] Die Ambivalenzen des Plebejischen, die Livius beschreibt, und ihre etwaige Aktualität sollten also in der Darstellung und Kritik nicht ausgespart werden. Besonders die ideologischen, emotionalen und institutionellen Bindungen der Plebs an das römische Gemeinwesen werden in der Schilderung des Livius deutlich, ebenso die dunkle Seite der Plebs, ihre mögliche Machtanfälligkeit. Menenius Agrippa steht mit seinem ideologischen Appell an die Einheit des Gemeinwesens, seinem Versuch einer Remoralisierung der Gesellschaft, die er als Volksgemeinschaft begreift, am Anfang einer ‚neopopulistischen’ wenn nicht sogar faschistisch zu bezeichnenden Bewegung. Der Plebs, der Menge - oder seit neuestem: der Multitude[10] - kommt also, so zeigt die Geschichtsschreibung des Livius über die Secessio, zwar das Vermögen zu vielfältigen Widerstandsformen zu, sie sind aber auch täuschungs- und autoritätsanfällig. Die Parole „We’re 99 %“, die durch Occupy Wall Street aufkam und auch auf die Occupy-Bewegungen in den USA beschränkt blieb, mixte sich mit einer scharfen Bankenkritik. Für einige Kritiker sollte diese Selbstbeschreibung der Bewegung sowie die Wall Street und die Banken als das vornehmliche Ziel bereits Ausweis einer „strukturell antisemitischen“ Stoßrichtung sein.[11] Ist Occupy also ganz ohne Menenius Agrippa im Sinn von Bloch eine organizistische Soziallügen verbreitende Bewegung? Pflegt Occupy eine verkürzten Antikapitalismus, der dann Momente der Zirkulationssphäre anprangert und diese antisemitisch motiviert mit „den Juden“ kurzschließt? Nichts deutet darauf hin und ausnahmsweise sei hierzu Andrei S. Markovits im Gespräch aus der Jungle World zitiert: „ Es stimmt natürlich, dass diese Kritik (von Occupy an der Herrschaft der Banken, G.H.) furchtbar verkürzt ist, aber in Amerika werden Banker nicht mit Juden assoziiert. Die Banken waren nie jüdisch und waren im Gegenteil sogar lange Zeit sehr antisemitisch. Anders als in Europa, wo Geld immer etwas Übles war. Der Klerus und die Adeligen haben das Geld nicht berührt, das haben die Juden für beide machen müssen. In Amerika hingegen war Geld nie etwas moralisch Verwerfliches, was uns die antiamerikanischen Europäer auch stets vorwerfen. Juden werden hier mit Hollywood, mit Journalismus, Medizin, Jura, mit Wissenschaft, mit Nobelpreisen, aber nicht mit Banken assoziiert. Insofern ist diese Bewegung auch nicht antisemitisch.“[12] Allerdings muss leider offen bleiben, ob die ägyptische Platzbesetzerbewegung – die alle anderen aktuellen Plebejerbewegungen inspirierende Kraft – nicht durch die Moslembrüder mit ihrer reaktionären Einigungsideologie rekuperiert wurde. Die römische Plebs hätte Menenius Agrippa als gegen den Aufbruch gerichteten Konterrevolutionär erkennen müssen, wen muss die heutige globale Aufbruchs- und Platzbesetzungsbewegung als solches erkennen? Gerade die vielschichtigen Formen des Aufbegehrens, die Livius in seinen Ausführungen der sozialen Unmutssituation vor der Secessio schildert, verweisen im Sinne Foucaults auf die Vielgestaltigkeit selbst archaischer Widerstandsbewegungen, die auch Momente von „Seditio“ und „Coniuratio“ in Erwägung zieht, um schließlich in einer Fluchtbewegung („Secessio“) zu terminieren, die – modern gesprochen – zwischen Generalstreik und Kriegsdienstverweigerung angesiedelt und temporär eine neue Ordnung herauszubilden in der Lage ist. Die Vielgestaltigkeit und prinzipielle Offenheit gegenüber den bei Occupy geduldeten sozialen Praxen war manchem Beobachter schon des Guten (und Schlechten) zu viel. War Occupy in der Lage, eine neue Ordnung herauszubilden? Folgt man David Graeber, so konnte Occupy Menschen zusammen bringen, die bislang sozial wenig miteinander gemein hatten: „War die Menge in den ersten Tagen fast blütenweiß gewesen, begann sie bald bunter zu werden, zu den Teenagern in Dreadlocks gesellten sich afroamerikanische Rentner und Latino-Veteranen, die in Afghanistan oder im Irak gewesen waren“.[13] Doch Occupy, wie die ganzen Platzbesetzungen der letzten Jahre, stellten weder einen Exodus im ursprünglichen Sinne noch eine tatsächliche soziale Machtkonstitution dar. Die römischen Plebejer hatten offensichtlich die gesellschaftliche Macht wie das Selbstvertrauen, die Zentren der Stadt zu verlassen; in den modernen Bewegungen der Platzbesetzungen müssen die Proletarisierten und mitsprachelosen Verschuldeten sich selbst ins Zentrum der Wahrnehmung rücken. Diese Kampfform wird ihnen von der kapitalistischen Entwicklung vorgegeben, die eine Vielzahl von „Plebejern“ zu Überflüssigen, „redundant population“ (Marx), erklärt. Die „Plebejer“ können in der geschichtlichen Entwicklung aber nur dadurch gesellschaftliche Macht generieren, indem sie – als Proletarier - mit ihrem Vermögen zu produktiver Kooperation die Gesellschaft auch ganz anders gestalten. Die radikalen Ränder der Occupy-Bewegung hauptsächlich an der Westküste der USA wussten dies und wollten die Proteste vom Fetisch Platzbesetzung lösen und auf die produktiven gesellschaftlichen Bereiche – Fabriken, Häfen – ausweiten. [1] D. Graeber, Schulden. Die ersten 1000 Jahre, 2012 [2] A. Heuss, Römische Geschichte, Braunschweig 1976, S.17. [3] M. Foucault, Mächte und Strategien (urspr.: Pouvoirs et stratégies (Gespräch mit J.Rancière), in: Les Révoltes logique, Nr.4, Winter 1977, wiederabgedruckt in: Dits et Ecrites III, Frankfurt am Main 2003, S. 538-550, hier: S.541. [4] Die Grundrisse-Redaktion machte mich kurz vor Veröffentlichung des Beitrags auf das Buch „Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie“ (Zürich 2011) von Isabell Lorey aufmerksam. In diesem werden detailliert und teils mit atemberaubender Klarheit Theorien des Politischen auf das Narrativ des Ständekampfes bezogen. Im Zentrum steht bei ihr das Gefährdet-Bedrohte, die konstituierenden Formen des Politischen und die sich wandelnde herrschende Ordnung. Ihr Anliegen ist jedoch nicht, das potentiell Sprengende und Revolutionäre, das unabhängig von der tatsächlichen historischen Möglichkeit auch in späteren narrativen Aneignungen geschichtlicher Abläufe aufblitzen oder negiert werden kann, auszuloten, sondern sie beschreibt die Ständekämpfe als Ordnungskämpfe, in denen zwar der Exodus (mit Negri) oder die Bresche (mit Leford) geschlagen werden kann, aber die Macht (mit Foucault) immer zu währen scheint. [5] T. Livius, Ab urbe condita, Liber II, (Hg. M. Giebel), Stuttgart 1999 (alle folgenden Zitate in Klammern im Text) [6] E. Bloch, Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, Frankfurt am Main 1970, S.172f. [7] E. Bloch, a.a.O., S.175. [8] E. Bloch, a.a.O., S.174. [9] Vgl.: Zur Kritik dieser Beschränkungen das Gespräch mit dem israelischen Kritischen Theoretiker Moshe Zuckermann: „Über Sackgassen und schwache Hoffnungen“ http://www.freie-radios.net/42775 [10] So das neueste sozialphilosophische Konzept, das plebejische Widerstandsformen ausloten will, vgl.: M.Hardt, A.Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main, 2002 und die beiden daran anschließenden Bände mit den Titeln: Multitude und Common Wealth. [11] Zur Kritik der Ideologie vom „strukturellen Antisemitimus“, siehe: G. Hanloser, Attac, Globalisierungskritik und „struktureller Antisemitismus“, in: Grundrisse 13
[12] „In den USA werden Juden nicht mit Banken assoziiert“ Gespräch mit Andrei S. Markovits, http://jungle-world.com/artikel/2011/42/44154.html [13] D. Graeber, Inside Occupy, Frankfurt/New York 2012, S. 54 |
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