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Robert Foltin: Schulden und ökonomische Moral Seit 2011 passieren erstaunliche Dinge. So wurde das äußert umfangreiche und komplexe Buch des anarchistischen Anthropologen David Graeber über „Schulden“ in den USA erstaunlich erfolgreich, ebenso wie die 2012 erschienen deutschsprachige Ausgabe. Dass dieser Text unter Anthropolog_innen anerkannt wird, kann den breiten Erfolg nicht erklären, eher hat das damit zu tun, dass David Graeber als Aktivist von Occupy New York in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Das Thema „Schulden“ ist inzwischen in aller Munde und hat mit der Realität vieler Menschen, besonders in den USA, zu tun: Kredite für das Studium, Kreditkartenschulden allgemein oder Hypotheken auf ein vor wenigen Jahren erworbenes Haus. Auch in der Occupy-Bewegung sind Schulden ein wichtiges Thema. In Graeber 2012b werden Beispiele von Akademiker_innen genannt (S. 60ff), aber auch Beispiele von sozial schlecht gestellten durchschnittlichen Menschen aus den USA (S. 70ff). Es wird sogar diskutiert, ob die Frage der Verschuldung zum einheitlichen Band der Occupy-Bewegung werden könne (vgl. Dean 2012, die aber dagegen argumentiert : „Is debt the connective thread for OWS?). Und der Diskurs über die letzte Krise begann mit verschuldeten Hausbesitzer_innen und ist jetzt bei einer „Schuldenkrise“ europäischer Staaten angelangt. Graeber leistet keine Analyse des Kapitalismus, sondern geht von den moralischen Begründungen von Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung aus, wie sie in Teilen der historischen Anthropologie diskutiert werden. Der Kapitalismus wird als Gewaltsystem gesehen, wobei immer wieder, wenn auch oft nur implizit, der Wunsch nach seiner Überwindung durchscheint (was er in anderen Texten, wie „Inside Occupy“ 2012a und „Kampf dem Kamikaze Kapitalismus“ 2012b direkt ausspricht). Im Folgenden werde ich versuchen, die Grundthesen des Buches darzustellen, wobei ich vorausschicken möchte, dass die Argumente jeweils durch eine Fülle von Daten sowohl aus der Anthropologie wie auch aus der Geschichte belegt sind[1]. Die moralischen Grundlagen der Ökonomie Warum scheint es gerecht, Schulden bezahlen zu müssen, wo doch offensichtlich ist, dass Schulden unterschiedlich behandelt werden? So empörte ein Bericht das Großbritannien von 1720, weil herauskam, dass verschuldete Aristokraten ihre Bediensteten und Prostituierte im Gefängnis empfangen konnten, während arme Schuldner_innen in Schmutz und Elend überleben oder sterben mussten (S. 13, S. 351f). Die USA als größte Schuldnerin der Welt werden anders behandelt als Staaten des globalen Südens. Für tausende von Jahren haben soziale Konflikte die Form einer Auseinandersetzung zwischen Gläubiger_innen und Schuldner_innen angenommen, während schreiende Ungerechtigkeiten wie die Sklaverei oftmals länger hingenommen wurden. Sklav_innen können keine Schuldner_innen werden, weil sie nicht als Gleiche anerkannt sind. Trotzdem werden Schulden als menschliche Beziehungen betrachtet, als Versprechen, die eingehalten werden müssen. Schulden sind Verpflichtungen, die messbar und bewertbar sind. Aber es ist die Drohung mit Gewalt, die menschliche Beziehungen in „eine mathematische Gleichung“ verwandel“ (S. 20), wie in vielen Beispielen in diesem Buch gezeigt wird. Das Thema des Buches ist die Entstehung der Schuldverhältnisse durch Gewalt wie auch die historische Abfolge von Gesellschaften, in denen „Schulden“ als abstrakt Messbares vorherrschen und solchen, in denen dieses ökonomische System durch Münzen, durch Geld ergänzt wird. In den Wirtschaftswissenschaften wird, beginnend mit Adam Smith und David Ricardo, immer wieder angenommen, dass Geld aus den unvollkommenen Möglichkeiten des Tauschhandels entstanden sei. Eine hat Schuhe, die andere Kartoffel, so dass dann eine bestimmte Zahl von Kartoffeln gegen ein Paar Schuhe getauscht wird. Tatsächlich lassen sich keine (ursprünglichen) Gesellschaften feststellen, in denen im alltäglichen Leben Tauschhandel stattfindet. Wenn es etwas Ähnliches gegeben hat, passierte das ritualisiert gegenüber Fremden. Auch der Mythos, dass Geld eigentlich unabhängig vom Staat existiert, wird im Rest des Buches immer wieder auftauchen und widerlegt. Graeber ist es wichtig, dass sich (kapitalistischer) Markt und Staat nicht widersprechen, sondern im Gegenteil, das eine ohne den anderen nicht existieren kann. Anthropolog_innen haben sich immer gegen die Idee eines ursprünglichen Tauschhandels gewehrt und nehmen für die Entstehung von Schulden und Geld die These einer „Urschuld“ an. Es gibt eine Verpflichtung an etwas, das außerhalb liegt, dem Kosmos, Gott, die Ahnen oder auch die Gesellschaft. Die Produktion des individuellen Lebens ist von äußeren Verhältnissen abhängig, wodurch unbezahlbare „Schulden“ anhäuft werden. Das Geld wird dann „aus dem Nichts“ durch den Staat (den Herrscher, den König) hergestellt (Fiatgeld[2]) und es ist (z.B. als Gabe für Tempel) die Anerkennung einer unendlichen Schuld. Wie kann aber aus der grenzenlosen Urschuld etwas Messbares wie Schulden entstehen? Es sind immer (staatliche und religiöse) Institutionen, die diese „Schulden“ in ein kalkulierbares Maß bringen. Geld ist dann sowohl Ware (Tauschmittel), eingesetzt durch staatliche Autoritäten, wie auch persönliche (Schuld)-Beziehung. Das erklärt aber nicht wirklich ihre Entstehung. Die „Urschuld“ ist genau so ein wissenschaftlicher Mythos wie der Tauschhandel. Die moralischen Gründe wirtschaftlicher Beziehungen werden von Graeber gerade nicht im „gleichen Tausch“ gesehen. Grundlegendes Element ist eine Art „Kommunismus“, dabei nicht wie bei Marx als Prozess der revolutionären Umwälzung[3], sondern als Organisationsform des Lebens im Sinne des „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21) Kommunismus ist nicht eine „primitive“ ursprüngliche Form, sondern die gegenseitige Hilfe, auf der jede Gesellschaft aufbaut. Im alltäglichen Leben ist mensch jederzeit zur Hilfe bereit – z.B. um Fremden den Weg zu zeigen oder in persönlichen Beziehungen mit Freund_innen oder Bekannten. Auch bei Unfällen oder Katastrophen sind viele bereit, zu helfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Der Kapitalismus baut wie alle gesellschaftlichen Systeme auf diese Art des Kommunismus / der gegenseitigen Hilfe auf und könnte ohne diese gesellschaftliche Basis nicht existieren. „Kommunismus gründet demnach weder Tausch noch Reziprokität – außer […] in dem Sinn, dass gegenseitige Erwartungen und Verantwortlichkeiten ins Spiel kommen.“ (S. 109) „Austausch“ findet zuerst in einem nicht messbaren Ausmaß statt. Eine Essenseinladung bedeutet nicht, dass der Wert der Gegeneinladung genauso wertvoll sein muss. Es muss aber ein vergleichbares Verhältnis vorhanden sein. So gehen solche Beziehungen meist nur Personen, soziale Gruppen ein, die ähnliche Lebensbedingungen haben. Die genaue Zurückzahlung einer Schuld, die Abrechnung ist das Abbrechen einer sozialen Beziehung. An Hand des „Feilschens“ wird gezeigt, dass dabei eine Art persönlicher Beziehung simuliert wird, mit einem schlussendlichen „Abbruch“. Wie in der Weltsystemtheorie[4] nimmt Graeber an, dass Märkte auch ohne Kapitalismus existieren. Hierarchien entstehen als soziale Beziehungen aus Gewalt. Raub und Vergewaltigung von Menschen, die als fremd betrachtet werden (verfeindete Gruppen). Aber das ist noch keine soziale Beziehung. Wird die Gewalt (durch eine Eroberung) zur Gewohnheit, dann wird Raub zu Tribut und Vergewaltigung zum Recht der ersten Nacht (S. 116). Ein hierarchisches Verhältnis kann aber auch durch wiederholte Geschenke entstehen, die ein Abhängigkeitsverhältnis erzeugen. Bei „Kommunismus“, „Austausch“ und „Hierarchie“ wird nicht von unterschiedlichen Gesellschaften ausgegangen, sondern von moralischen Prinzipien, die meist nebeneinander existieren. Es gibt auch Verschiebungen zwischen den Verhältnissen[5]. Schulden können nicht aus der Hierarchie kommen, eine Sklav_in ist nicht schuld-fähig und auch nicht aus dem Kommunismus, dessen Verpflichtung keine Gegenleistung verlangt. Schulden sind ein nicht abgeschlossener Austausch (S. 128). In den meisten menschlichen Ökonomien wird Geld verwendet, um Hochzeiten zu organisieren (S. 138). „Primitives Geld“ ist vorerst nicht zum Austausch da, sondern um eine nicht bezahlbare Schuld darzustellen. Eine (Ehe)Frau ist nicht bezahlbar, durch das Brautgeld wird nur symbolisch der unendliche Wert anerkannt. Auch ein Getöteter ist nicht bezahlbar. Selbst ein anderer Toter durch die Blutrache kann den Getöteten nicht ersetzen. Geld ist auch hier dazu da, eine unbegrenzte Schuld auszudrücken („Blutgeld“). Die messbare Bezahlbarkeit von Menschen entsteht erst mit dem Sklavenhandel, wobei Sklavenjagden hauptsächlich gegenüber „Fremden“ stattfinden. Erst dadurch entstehen Schulden als messbares Verhältnis, die auch an andere übertragen werden können. Das noch heute gültige (juristische) Konzept des Eigentums kommt nicht zufällig aus der römischen Sklavenhaltergesellschaft (S. 210). Geld wird zuerst als Zeichen der Ehre verwendet, die eigentlich unbezahlbar ist. Erst das Herausreißen aus dem persönlichen Kontext durch die Sklaverei entwertet die Menschen und schafft die Basis für anonymen Tausch. Erst nachdem Menschen entwertet und zur Ware wurden, wurde damit begonnen, andere Waren zu tauschen. Gilt innerhalb von Gesellschaften die Ehre als unbezahlbar, so ändert sich das in kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen Gefangene durch die Eroberer entwürdigt und entwertet werden. 5000 Jahre Schulden Während die erste Hälfte des Buches die Grundlagen für die Diskussionen um Geld und Schuld(en) legt, geht es im zweiten Teil um die historischen Entwicklungen. Anhand von schriftlichen Urkunden wird nachgewiesen, dass es in Mesopotamien kein Geld gab, die Schrifttafeln aber von Schulden und Schuldennachlässen zeichnen. Ähnliche Verhältnisse finden sich, wenn auch nicht so gut dokumentiert, in Ägypten und China. Beziehungen durch Schulden existieren also bereits vor dem Geld. Große Veränderungen zeichnen sich in der so genannten Achsenzeit, ab. Karl Jaspers prägte diesen Begriff für die Zeit von 800 vor bis 200 nach Christi, weil damals Schulen und Bewegungen in China, Indien und Europa entstanden sind, die die Grundlage für alle großen Philosophien und Religionen bildeten, ohne dass es einen offensichtlichen Zusammenhang gibt (Konfuzius, Buddha, die griechische Philosophie). Graeber erweitert diese Zeit bis 600 nach Christi, um die Entstehung des Islam einbeziehen zu können. Diese Achsenzeit ist geprägt von kriegerischen Verhältnissen, von gegeneinander kämpfenden Warlords. Erst später werden ihre Einflussbereich (teilweise) zu (imperialen) Reichen vereinigt. Sowohl in China wie in Indien und Europa entstehen in dieser Zeit sowohl Münzen wie auch Sklaverei. Anonymes Geld wurde notwendig, um die Söldner zu bezahlen, Schuldscheine erfordern eine zumindest oberflächliche Bekanntschaft und Nähe zu den Verleiher_innen. Graeber bezeichnet diese Gesellschaften als Kriegs-Münz-Sklaverei-Systeme. Diese Verhältnisse führen zu (meist pazifistischen) sozialen Bewegungen, die schließlich wieder neue Ordnungen hervorbringen (Christentum, Buddhismus, Konfuzianismus). In dieser Zeit entstehen ebenso die materialistischen Philosophien: Einmal wird über Profit diskutiert, auch in dem Sinne, dass dieser abgelehnt wird ("Liebe statt Profit"). Ein andermal wird ein Konzept der Substanz,, die hinter den erkennbaren Einzeldingen liegt, entwickelt, worin sich die Parallelität ihrer Begriffsinhalte mit der Abstraktion des Geldes erklärt. Im Mittelalter haben Münzen (sie wurden für sakrale Zwecke eingeschmolzen) wie auch die Sklaverei die Tendenz, zu verschwinden. Die Spiritualisierung der Ökonomie zeigt unterschiedliche Entwicklungen: in Indien und im „Fernen Westen“ (dem mittelalterlichen Europa) setzen sich gegen das Geldsystem Hierarchien durch (Priester, Krieger, Bäuer_innen, in Indien auch Händler_innen). In China entsteht ein Regime der „unendlichen Schuld“, das den Goldwert in Richtung einer Gabe für die Ewigkeit (Tempel und Klöster) verlagert. Die Klöster können Kredite vergeben, die durch den Reichtum der „heiligen“ Strukturen gesichert sind. Im Islam (dem Nahen Westen) entsteht ein Kreditsystem, das feste Zinsen (Interessen) akzeptiert und das Risiko nicht, wie im späteren Kapitalismus allein den Schuldner_innen aufgebürdet. Schuldner_innen sind „Händler-Abenteurer“, für die Gläubiger_innen ist es nicht sicher, ob diese heil und erfolgreich wieder zurück kommen. Aufgrund des „interessefreien“ Kreditwesens können im Islam und in China funktionierende (freie) Märkte entwickeln. Das Zeitalter der großen kapitalistischen Reiche beginnt mit der Eroberung der Welt durch ein neuerliches Krieg-Münz-Sklaverei-System. Die Brutalität der verschuldeten Söldner, wie Cortez bei der Eroberung Mexikos, ist verbunden mit Kreditgebern und wie im Achsenzeitalter gewinnen wieder Münzen, Schätze, Gold an Bedeutung. Der entstehende Kapitalismus ist nicht nur eine Geschichte der Zerstörung traditioneller Gemeinschaften (durch Einhegungen), sondern die Umwandlung einer Gesellschaft des Kredits in eine des Zinses (Interesses) (S. 350). Bezeichnend ist, dass mit dem Kolonialismus verbunden (East India Company, Südseeblase) Börsen und Spekulationen vor der Entwicklung der Industrie mit ihren freien Lohnarbeiter_innen entstand. Neuerlich verwandelt sich der Kredit in ein unpersönliches Verhältnis, dessen einziger Garant der Staat ist (der Staat schuldet dem Inhaber des Scheins den entsprechenden Geldwert). Die angeblich freie Lohnarbeit unterscheidet sich nur graduell von Sklaverei, in allen Phasen der Geschichte, einschließlich des heutigen Kapitalismus, teilt die Mehrheit der Menschen das Los von Sklaven, Schuldknechten und Ähnlichem. Aber der Kapitalismus verändert sich. Um 1900 sprachen alle, nicht nur die Revolutionäre von seinem Ende und das beschränkte wegen dieser Unsicherheit die Kreditaufnahme. Heute, wo das System (scheinbar) grenzenlos ist, wird unendlich viel Geld „aus Nichts“ produziert, was dieses kapitalistische System zum explodieren bringen werde. (S. 378) 1971 wurde mit der Entkoppelung des Dollars vom Gold ein letzter Schritt hin zur Dominanz des „Interesses“ gemacht. Hinter der Verleiher_in steht auch jetzt noch der verschuldete "Krieger" als staatliche Autorität, besonders aber in der militärischen Präsenz und Überlegenheit der USA. Im Mittelalter bedeutete die Abkehr vom Geld den Zerfall der Reiche, eine Beschränkung des Militärs und die Durchsetzung spiritueller "unendlicher Schuld". Was jetzt kommt, ist offen und liegt in unseren Händen als Akteur_innen, die gegen dieses kapitalistische Schulden-System aktiv werden. Nur in Kürze werden am Schluss konkrete Forderungen eingebracht, sowohl auf der individuellen Ebene wie auch in internationalen Zusammenhängen wird ein allgemeiner Schuldenerlass gefordert. Keine Analyse des Kapitalismus? Möglicherweise wird das Buch „Schulden“, ein anthropologisches Schlüsselwerk werden. Da der Rahmen des Buches die heutige Gesellschaft miteinschließt, ist durchaus zu erwarten, dass auch Soziologie, Sozialgeschichte oder Sozialanthropologie beeinflusst werden. Am ehesten ignoriert wird es vermutlich von der Wirtschaftsgeschichte, weil es im Prinzip die den Kapitalismus begründenden Wirtschaftstheorien über den Haufen wirft und zwar in einem Ausmaß und mit einer überzeugenden Argumentation, die keinen Stein auf dem anderen lässt. Es gilt ja beinahe als Dogma, dass das Geld aus den Unvollkommenheiten des Tauschhandels entstand und sich später die „differenzierten“ wirtschaftlichen Phänomene wie Kredit oder Schulden entwickelten (S. 27). Überzeugend wird ein anderer Weg gezeichnet: zuerst entstanden Kredit und Schulden, Geld in Form von Münzen erst mit dem Krieg und der Gewalt des Achsenzeitalters. Es ist ja nichts Neues, dass der Kapitalismus ein Gewaltsystem ist, aber dass dessen Grundlage in der Jahrhunderte alten Geschichte der Schulden liegt, ist auf der einen Seite eine tief gehende Dekonstruktion (Graeber würde in seiner Kritik am Poststrukturalismus nie diesen Begriff verwenden) der herrschenden Ideologie des Wirtschaftssystems, auf der anderen Seite aber keine wirkliche Analyse des Kapitalismus. Es ist natürlich sinnlos „einem nicht-marxistischen Autor vorzuwerfen, dass er die marxistischen Kategorien vernachlässigt“ (Wildcat 2012). Der Unterschied zu marxistischen Analysen wird bereits bei der Behandlung der „Ursprünge“ des Kapitalismus während der Eroberung der neuen Welt deutlich, als die verschuldeten Soldaten und Krieger andere Kulturen zerstörten und unterwarfen (S. 330ff). Die „ursprüngliche Akkumulation“ mittels Raub und Gewalt, sowie die Zerstörung der Überlebensmöglichkeiten der bäuerlichen Bevölkerung durch „Einhegungen“, indem sie von ihrem angestammten Grund und Boden vertrieben wurde, wird ergänzt durch eine explizit ökonomische Geschichte. „Die Geschichte vom Ursprung des Kapitalismus handelt also nicht von der fortschreitenden Zerstörung der traditionellen Gemeinschaften durch die unpersönliche Macht des Staates. Vielmehr handelt sie davon, wie eine auf dem Kredit beruhende Wirtschaftsordnung in eine auf Zinsen beruhende Wirtschaftsordnung verwandelt wurde.“ (S. 350)[6]. Aus dem Versprechen, Geliehenes zurückzugeben, wurden unpersönliche finanzielle Prinzipien, also Schulden, die auch an andere weitergegeben werden können. Es scheint, als ob sich Graeber, wie es Marxist_innen nennen würden, auf die Zirkulationssphäre beschränkt, Produktion kommt nur am Rande vor. Genau beschrieben werden allerdings die Auswirkungen von Geld und Schulden auf gesellschaftliche, kriegerischen Aktivitäten. Bei seiner Beschreibung der ökonomischen Moral geht es um die Funktionsweisen von Gesellschaften, einschließlich der kapitalistischen, allerdings nur insofern, als die kapitalistische „Zirkulation“ (Kredit, Schulden und Geld) massiv ins gesellschaftliche Leben eingreift, aber nicht maßgeblich verantwortlich ist für dessen Organisation. In dem Abschnitt „Was ist also der Kapitalismus?“ (S. 345ff) polemisiert Graeber gegen die Ansicht, es gäbe eine „reale Ökonomie“, auf der alle „modernen“ Phänomene aufbauen wie zum Beispiel die verschiedenen in der letzten Zeit aufgetauchten Finanzapparate. Das ganze Buch handelt über die Priorität von Kredit und Schulden. „Immaterielle“ Elemente („Vorstellungen, Imaginationen“, Graeber 2012a, S. 96) machen die materielle Grundlage der Gesellschaften aus. Im Beitrag „Die Misere des Postoperaismus“ (Graeber 2012a, S. 135ff), betont er, dass immaterielle Arbeit immer schon vorhanden war und nicht erst in den letzten Jahrzehnten ihre überragende Bedeutung erlangt habe. Er ergänzt das durch die Produktion von „Leben“. „Dann würde man feststellen, dass die so genannte „häusliche“, beziehungsweise „reproduktive“ Arbeit (eine eher unglückliche Wortwahl), das heißt sämtliche Tätigkeiten, die das Hervorbringen von Menschen und sozialen Beziehungen umfassen in jeder Gesellschaft stets als wichtigste Form menschlichen Schaffens gegolten hat. Im Gegensatz dazu ist die Herstellung von Weizen, Strümpfen und Petrochemikalien immer nur ein Mittel zum Zweck gewesen. […] Ein typisches Merkmal des Kapitalismus ist ja gerade in der Tatsache, dass man sich dessen in diesem System nicht bewusst ist. Der Kapitalismus als Ideologie bestärkt uns darin, die Produktion von Waren als Hauptaufgabe des menschlichen Daseins anzusehen; das gemeinsame Formen von Menschen erscheint damit gewissermaßen zweitrangig.“ (Graeber 2012a, S. 152)[7] Der Postoperaismus spricht in diesem Zusammenhang von der Produktion, wenn auch von anderen Waren als den materiellen (Kommunikation, Information, Gefühle, Beziehungen), aber auch die Erzeugung von Subjektivitäten, menschliche Beziehungen, ohne das auf die „Reproduktion der Arbeitskraft“ zu beschränken. Während Graeber, angelehnt an die Situationist_innen, die „Entfremdung“ ins Zentrum stellt, liegt der Schwerpunkt der Analyse durch den Postoperaismus in der Veränderung der Form der Ausbeutung und Unterwerfung unter den Kapitalismus. Das Leben wird „reell subsumiert“, was bedeutet, das zumindest versucht wird, es einer Form der Mehrwertproduktion zu unterwerfen, was nicht unbedingt traditionelle Lohnarbeit bedeuten muss, sondern alle Formen der Ausbeutung von prekär lebenden Selbständigen bis hin zu Kontrakt- und Sklavenverhältnissen umfasst (was aber nicht gelingt, vgl. Foltin 2010). „Der geheime Skandal des Kapitalismus ist, dass er nie hauptsächlich auf der freien Lohnarbeit beruhte.“ (S. 368) In den meisten Fällen bekommen Arbeiter_innen nie Geld in die Hand, sondern werden versklavt, sind Schuldknechte oder werden in Naturalien bezahlt (Trucksystem). Dabei definiert Graeber nie, was „freie Lohnarbeit“ ist, sondern erwähnt nur westliche industrielle Fabriken. Es ist natürlich richtig, dass freie Lohnarbeit unter wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen immer nur eine männliche Minderheit betroffen hat, aber „freie Lohnarbeit“ hat nie die Freiheit von ökonomischen Zwängen bedeutet. Das Proletariat hat immer aus einem breiten sozialem Feld bestanden, von denen die wenigsten Geld in Form eines Lohnes ausbezahlt bekamen. Graeber anerkennt zumindest, dass das auch Marx im Kapital erkannt habe (S. 372). Krise des Kapitalismus Die Revolten führten zum Ende der Achsenzeit zu neuen Gesellschaften, die die „Schulden“ in die Ewigkeit verlagerten, einer historischen Phase ohne (Münz)-Geld. Die Entwicklung des Kapitalismus zeigt Parallelitäten und Unterschiede dazu. Die Situation ist ähnlich, weil sich abstraktes Geld durchsetzt, aber sie ist anders, weil sich dieses durch anonyme Finanzkonstruktionen so weit von der persönlichen Realität weg entwickelt hat wie noch nie. Die USA sind inzwischen die größte existierende Schuldnerin. Das wird akzeptiert, weil sie überall ihre militärische Macht einsetzen können. Ein großer Teil der Gläubiger_innen sind Staaten, in denen sich größere Truppenkontingente aufhalten. Graeber vergleicht das mit Tributsystemen. Das gilt allerdings nicht für das heutige China. Ein Tributsystem ist nämlich immer auch ein System des Gebens (S. 389f). Die USA unterstützten nach dem Zweiten Weltkrieg Europa und die asiatischen Tiger, um den Einfluss der Sowjetunion einzudämmen. Inzwischen hat China massiv US-Staatsanleihen gekauft und baut seinen weltweiten Einfluss aus, sodass das bereits einem Tributsystem ähnelt. Das Ende des amerikanischen Empire zeichnet sich ab. Durch den Druck der globalen Protestbewegung um 2000, von Graeber als „globaler Volksaufstand“ bezeichnet (Graeber 2012b, S. 88), wurde der IWF als Machtinstrument der USA und des globalen Nordens aus Lateinamerika und Ostasien hinausgeworfen. Jetzt „findet die vermeintliche Gesundbetungsformel, die man einst auf die Dritte Welt angewandt hatte, nun auch zu Hause Anwendung, von Irland und Griechenland bis Wisconsin und Baltimore.“ (ebd) Nicht nur der US-Staat ist verschuldet, sondern auch seine Bürger_innen, deren Löhne in den letzten Jahrzehnten praktisch nicht gestiegen sind und diesen durch Hypotheken eine Teilnahme am Kapitalismus versprochen wurde. Graeber sieht die neue Phase der Revolten von der arabischen Revolution bis zu Occupy als den Anfang der Auflösung des amerikanischen Imperiums. (Graeber 2012b, S. 89) Das lässt sich mit der Perspektive der Weltsystemtheorie vereinbaren[8]. Wallerstein (2007) sieht die letzten Jahrhunderte als relativ stabiles System, das jetzt ins Wanken gerät, eigentlich in Auflösung begriffen ist und dadurch die Perspektive auch zu einer emanzipatorischen Veränderung anbietet. Diese Möglichkeiten, diese Handlungsmacht macht revolutionären Aktivismus gerade jetzt sinnvoll und notwendig. Kommunismus Bei Graeber findet der Kommunismus im alltäglichen Leben statt. Kommunistischen Elemente müssen nicht alle per se emanzipatorisch sein, z.B. wenn Familien- oder Geschlechterverhältnisse betrachtet werden. Wie nahe Graeber in diesem Punkt einem „mikroökonomischen Fundamentalismus von unten“ (Wildcat 2012) des „Anarchisten“ Gilles Deleuze steht, wird ihm wegen seiner Ablehnung des Poststrukturalismus wahrscheinlich kaum bewusst sein[9]. So muss die Gestaltung einer freien, einer kommunistischen Gesellschaft doch ein Prozess sein. Die Organisationsformen innerhalb der (revolutionären) Bewegungen müssen immer wieder reflektiert und diskutiert werden. Es ist offensichtlich, wie aktuell die Frage der Schulden ist. Fast überall auf der Welt geht es den Bewegungen der Studierenden, die in den letzten Jahren einen massiven Aufschwung erlebten, um das Thema der Verschuldung durch hohe Studiengebühren und die Kosten des Studiums im Allgemeinen. Österreich und Deutschland sind im Verhältnis zum angloamerikanischen Raum oder etwa Chile und Quebec eine Ausnahme, weil es keine Studiengebühren gibt, oder sie nicht besonders hoch sind. Studierende sind auch in der Occuopy-bewegung aktiv, erzielen aber Resonanz bei großen Teilen der Gesellschaft, die ebenso von Verschuldung betroffen sind (Graeber 2012b, S. 64ff). Immer wieder wird die schreiende Ungerechtigkeit sichtbar, dass Milliarden für Bankenrettungen da sind, aber angeblich das Geld für Gesundheit, Soziales oder Bildung fehlt. David Graeber war in der globalen Protestbewegung nach 2000 aktiv. Er begleitete von Anfang an die Occupy-Bewegung. Dort ist für ihn die direkte Aktion entscheidend. Das bedeutet, so zu tun, als „sei die bestehende Machtstruktur nicht da“ (Graeber 2012b, S. 149). Strukturen einer anderen Gesellschaft werden in Versammlungen und Besetzungen vorweg genommen, eine vom Anarchismus inspirierte direkte Demokratie, wie auch die Suche nach einem Konsens als Alternative zu Spaltungen produzierenden Abstimmungen. Durch die Bewegungen von 2011 ist auch verständlich, wieso ein Anarchist wie Graeber einflussreich werden kann. Nicht nur die Eliten fragen die Anarchisten, wenn sie ratlos sind (Graeber 2012c), sondern von der Placa del Sol in Madrid bis zu Occupy wird zwar meist direkter politischer Einfluss, auch anarchistischer, abgelehnt, aber trotzdem implizit dessen Prinzipien übernommen. Wie die freie Gesellschaft, der Kommunismus, organisiert sein wird, weigert sich Graeber bewusst, auszuformulieren. Aus der anarchistischen Tradition kommend, aber auch nach den Erfahrungen des „Realen Sozialismus“ wird so etwas als gefährlich angesehen. Eine freie Gesellschaft, eine Art Kommunismus, kann nur in den Selbstorganisationsprozessen der Bewegungen entstehen. Nicht der „Kommunismus“ ist der Prozess, sondern der revolutionäre Weg in eine freie Gesellschaft. Literatur: Arrighi, Giovanni (2008): Adam Smith in Beijing: Die Genealogie des 21. Jahrhunderts. Hamburg: VSA-Verlag Dean, Jodi (2012): Is debt the connective thread for OWS? http://jdeanicite.typepad.com/i_cite/2012/07/is-debt-the-connective-thread-for-ows-.html Foltin, Robert (2010): Die Körper der Multitude. Von der sexuellen Revolution zum queer-feministischen Aufstand. Stuttgart: Schmetterling Verlag. Graeber, David (2012): Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart: Klett-Cotta. Graeber, David (2012a): Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum herrschenden System. München: Pantheon Verlag. Graeber, David (2012b): Inside Occupy. Frankfurt / New York: Campus Verlag. Graeber, David (2012c): „Wenn die Eliten ratlos sind, fragen sie die Anarchisten“ Der US-amerikanische Ethnologe und Anarchist David Graeber erläutert, weshalb die freie Weltgesellschaft nicht auf Geld verzichten muss und warum wir heute schon im Kommunismus leben. In: Jungle World Nr. 28, Juli 2012. Wallerstein, Immanuel (2002): Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts. Wien: Promedia. Wildcat (2012): Buchbesprechung: David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Kein Interesse außer dem, zu atmen. http://www.wildcat-www.de/wildcat/93/w93_bb_graeber.html [1] Die Seitenzahlen beziehen sich jeweils auf Graeber 2012. [2] In der ökonomischen Theorie des chartalism wird angenommen, dass Geld nur vom Staat garantiert wird, ohne, dass (Gold)Werte als Deckung dahinter stehen. Dieses Geld ist wie der heutige Dollar oder der heutige Euro „Fiatgeld“. [3] „Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ (Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 35) [4] Es ist hier nicht der Platz, die Weltsystemtheorie darzustellen. Sie wurde als Gegenpol zu eurozentristischen Analysen entworfen und nimmt an, dass die dominierenden Weltsysteme in sich erweiternden Zyklen ablaufen und der Kapitalismus bereits mit dem Handelskapital des 16. Jahrhundert begonnen hat. (vgl. Wallerstein 2007, Arrighi 2007). [5] Ein Beispiel von Graeber über die Verwandlung kommunistischer Beziehungen in hierarchische (S. 122). erinnert mich an Situationen in der autonomen Szene, wo sich informelle Hierarchien herausbildeten (dann allerdings diskutiert und kritisiert wurden), weil sich eine Arbeitsteilung herauskristallisierte zwischen denen, die viel machen und aktiv sind und den anderen.
[6] The story of the
origins of capitalism, then, is not the story of the gradual destruction
of traditional communities by the impersonal power of the market. It is,
rather, the story of how an economy of credit was converted into an
economy of interest (S. 332 in der
englischen Ausgabe steht market
[7] Graeber betont, dass Veränderungen im Kapitalismus durch feministische Literatur aufschlussreicher behandelt wurden als im Postoperaismus. Er kritisiert das operaistische Midnight Notes Collective, dessen Argumentation er im Falle der Schuldenaufnahme von Schwarzen und Latinos als eine Form des Klassenkampfes folgt, dass sie die ökonomische Einordnung des menschlichen Lebens als „Reproduktion von Arbeitskraft“ beschränkt sehen (S. 474f). [8] Bei der Darstellung des Verhältnisses zwischen China und den USA greift Graeber auf Arrighi (2007) zurück (S. 390). Auch sonst gibt es Ähnlichkeiten mit der Weltsystemtherie, so das Ende eines Zyklus einer aktuellen kapitalistischen Phase, aber auch , dass es nicht-kapitalistische Märkte gibt oder auch die Annahme, dass bei Betrachtung des Weltsystem „freie“ Lohnarbeit nur untergeordnete Bedeutung hat. Auch dass das heutige Regime auf einer „Allianz der Militär- und Finanzmacht, die typisch war für die Spätphase kapitalistischer Kriterien“ (Graeber 2012a, S. 11), korrespondiert mit der Weltsystemtheorie. [9] Die positive Interpretation Nietzsches durch Deleuze und Guattari, mensch könnte aber noch Foucault hinzufügen, wird als deren Fehler bezeichnet, radikalisierte Formen der eigenen bourgeoisen Traditionen als Alternative zu sehen (S. 420). Nach einer Bezugnahme auf Foucault schreibt er: „Inzwischen verschmolz während des Höhepunkts der Luftblasenwirtschaft der 90er Jahre ein endloser Strom neuer radikaler theoretischer Ansätze – Performanztheorie, Akteur-Netzwerk-Theorie, Theorien immaterieller Arbeit – zu dem gemeinsamen Postulat, die Realität sei jeweils das, von dem man andere überzeugen könne.“ (Graeber 2012b, S. 95 |
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