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Jannis Chasoglou: Von Maastricht zu Europe 2020 –
Europäische Wirtschafts- und Währungsintegration als Strategie kapitalistischer Herrschaft

Zwanzig Jahre ist es nun her, dass die Staaten der damaligen Europäischen Gemeinschaft sich in Maastricht auf dasjenige Vertragswerk einigten, das sowohl die Weichen für die Gründung der Europäischen Union als auch für die Einführung des Euro als gemeinsamer Währung stellte. Die Stadt in den Niederlanden ist seitdem als der Ort des vielleicht wichtigsten Meilensteins der Europäischen Integration zum Synonym für ihre zunehmend monetaristisch-liberale, den Interessen breiter Bevölkerungsanteile immer stärker widersprechende Ausrichtung geworden. Die Mehrheit der kritischen Integrationsforscher sieht dies als Folge der Dominanz neoliberaler wirtschaftspolitischer Konzepte und der Interessen kapitalistischer Unternehmen innerhalb der EU. Diese Autoren wünschen sich eine – möglicherweise umfassende – Reform der Institutionen auf europäischer Ebene, um den Weg hin zu einer stärker wohlfahrtsstaatlich, ökologisch und/oder beschäftigungspolitisch orientierten Europäischen Integration zu ebnen[1]. Demnach wird die EU implizit als neutrales Terrain angenommen, auf dem sich momentan vor allem Konzerninteressen durchsetzen, was aber durchaus auch anders sein könnte. In Abgrenzung von solchen Sichtweisen wird in diesem Artikel die Europäische Integration, wie wir sie von ihren Anfängen bis in die Gegenwart erleben, selbst als Herrschaftsstrategie des Kapitals konzipiert werden. Herrschaft soll dabei für die institutionalisierte Durchsetzung politischer Strategien einer bestimmten Klasse oder Klassenfraktion stehen, mit der die langfristigen Ziele des Erhalts und der Festigung ihrer Position, also des Eigentums an den Produktionsmitteln und möglichst hoher Profitraten, erreicht werden sollen.

Der Europäische Integrationsprozess wird zunächst von seinen Anfängen her beleuchtet und dabei im Wesentlichen in zwei Phasen unterteilt werden. Der Schwerpunkt des Artikels wird auf den Entwicklungen und Implikationen der Integration seit Anfang der 90er Jahre liegen. Es wird darum gehen, wie seitdem in den zentralen Verträgen und Strategiepapieren der EU, insbesondere dem Maastricht-Vertrag, der Lissabon-Strategie, „Global Europe“ und der „Europe 2020“-Agenda, die Interessen der großen europäischen Konzerne zum Ausdruck kommen. Es ist weit verbreitet, gerade auch unter kritischen AutorInnen, hinter politischen Entscheidungen der nationalen Regierungen andere, dem angeblichen „nationalen Interesse“ fremde Kräfte wirken zu sehen. Die Wettbewerbsorientierung der europäischen Staaten wird oft genug als das unvermeidliche Resultat der „Globalisierung“ angesehen, in der die Nationalstaaten angeblich nur noch als Spielbälle hin und hergeworfen würden. Für bewusste Interessenpolitik und auf Vorherrschaft abzielende Strategien des Kapitals bleibt in dieser Betrachtungsweise kein Platz mehr. Hier sollen auch diese Vorstellungen einer kritischen Prüfung unterzogen werden.

Die Europäische Integration treibt mit einer Reihe von Initiativen wie der Wirtschafts- und Währungsunion, der Lissabon-Strategie, der EASDAQ-Initiative, dem Financial Services Action Plan (FSAP) und anderen auch die Integration und Deregulierung der Finanzmärkte  voran[2]. Daran sind vor allem in den letzten Jahren auch mächtige Lobbygruppen beteiligt. Ein integrierter paneuropäischer Kapitalmarkt wird von den zentralen EU-Institutionen und den Interessenvertretungen der Großindustrie als Vorrausetzung für die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals allgemein gesehen, weil er die Finanzierungsoptionen für die Geschäftstätigkeit verbessert und so die Profitraten steigert[3]. Gleichzeitig erhöht die Finanzmarktintegration einerseits den Konkurrenzdruck auf kleine und mittlere Unternehmen und wirkt sich andrerseits negativ auf die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen aus, indem die Arbeitslosigkeit hoch bleibt, flexible Arbeitsbedingungen verlangt sowie die sozialen Sicherungssysteme und die Lohnniveaus tendenziell abgebaut werden[4]. Folglich spielt auch der Finanzsektor eine wichtige Rolle als Träger und Profiteur der Europäischen Integration als Herrschafts- und Konkurrenzstrategie des europäischen Kapitals. Aus Platzgründen wird sich die vorliegende Betrachtung jedoch auf das Kapital der Industrie konzentrieren. Das impliziert keineswegs, die engen und wachsenden Verflechtungen zwischen dem Kapital der Kredit- und Kapitalmärkte einerseits und den industriellen Unternehmen zu leugnen. Allerdings äußern sich die materiellen Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen tendenziell entsprechend ihrer Funktion im Verwertungsprozess in verschiedenen politischen Maßnahmen.

Die keynesianisch-antikommunistische Phase der Integration

Es lassen sich im historischen Verlauf der Europäischen Integration grob zwei Phasen unterscheiden: Eine vom Keynesianismus und dem Kalten Krieg geprägte und eine monetaristische und expansive Phase. Erstere begann 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und den Römischen Verträgen von 1957, mit denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) geschaffen wurden. Es war die Zeit der Blockkonfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die Zeit der Truman-Doktrin und des Griechischen Bürgerkriegs sowie einige Zeit später der Berlin- und der Kubakrise. An die Stelle der Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Großmächten, die in die beiden Weltkriege geführt hatten, trat vordergründig das „containment“ des Kommunismus als oberste Priorität – freilich ohne dass deshalb die innerkapitalistischen Rivalitäten jemals verschwunden wären. Um Kriege zwischen den führenden kapitalistischen Staaten Europas künftig unwahrscheinlich werden zu lassen und die Region angesichts starker kommunistischer Bewegungen in Frankreich, Italien, Belgien, Griechenland und anderswo zu einem Bollwerk gegen den Kommunismus zu machen, war eine festgefügte europäische Wirtschaftszusammenarbeit mit einer Politik für den ökonomischen Wiederaufbau der naheliegendste Weg. Außerdem bestand in Paris und London ein Interesse an der Einbindung Westdeutschlands, um eine revanchistische Wende wie nach dem Ersten Weltkrieg zu verhindern.

Die zwei Jahrzehnte des Nachkriegsbooms sahen in den entwickelten kapitalistischen Ländern einen vorher und nachher nie erlebten Schwung an Konzessionen an die ArbeiterInnenklasse. Notwendige Bedingung dafür waren die durch das „Wirtschaftswunder“ geschaffenen materiellen Spielräume, doch trotzdem waren es vor allem der Druck der Systemkonkurrenz und eine relativ kampfbereite ArbeiterInnenbewegung, die diese in soziale Errungenschaften verwandelten. In dieser Periode war daher auch die Europäische Integration von einer Politik des Massenkonsums und der Beschäftigungsförderung geprägt. Wie die gesamte Periode, so stand auch die Europäische Union als kapitalistische Herrschaftsstrategie unter dem Namen John Maynard Keynes, indem sie auf Förderung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und die Schaffung stabiler Akkumulationsbedingungen setzte.

Die Wende der 70er

Dies änderte sich, als unter dem Eindruck von Stagflation, dem Kollaps des Bretton Woods-Systems und Weltwirtschaftskrise der Keynesianismus in den 70ern weltweit in die Defensive geriet. Pinochets Militärputsch in Chile 1973, der Machtantritt Deng Xiaopings 1978, die als „Volcker-Schock“ bekannte schlagartige Anhebung der Leitzinsen der US-Notenbank durch deren neuen Chef Paul Volcker im Jahr 1979, Margaret Thatchers Wahl zur britischen Premierministerin im selben Jahr und Ronald Reagans Amtsantritt 1981 waren die ersten politischen Siege der neoliberalen wirtschaftspolitischen Doktrin. Mit der Rückkehr des Kapitalismus nach Osteuropa, Russland und China etablierte sie sich schließlich als hegemoniale Weltsicht und Richtschnur des politischen Handelns.

Es stellt sich natürlich automatisch die Frage, wie binnen nur eines Jahrzehnts die neoliberale Doktrin trotz ihrer offenkundigen methodisch-theoretischen Defizite und Schwächen als wissenschaftliche Theorie[5] die Positionen des Keynesianismus derartig umfassend überrennen konnte. Sicherlich kam es den „Chicago Boys“ und anderen Vertretern des Monetarismus gelegen, dass die keynesianisch geschulte Politik daran gescheitert war, die schweren ökonomischen Turbulenzen der 70er Jahre zu verhindern. Aber da es in den folgenden Jahrzehnten bis zum heutigen Tag auch mit neoliberalen Konzepten nicht gelungen ist, anhaltendes und hohes Wirtschaftswachstum wiederherzustellen, ist der Hauptgrund für den Erfolg der sogenannten „neoliberalen Konterrevolution“ wohl an anderer Stelle zu suchen. David Harvey bietet eine Antwort: Die Wende zum Neoliberalismus war eine generelle Offensive zur Bereicherung der herrschenden Klasse auf Kosten aller anderen und zur Zerschlagung der Verhandlungsmacht der Arbeiterschaft. Als Klassenkampf von oben ist der Neoliberalismus demnach eine Strategie zur Festigung der Klassenherrschaft und von Anfang an nie etwas anderes gewesen[6].  Die immense Umverteilung von Renten, Löhnen und Sozialleistungen hin zu Kapitalgewinnen entsprach den neuen Bedürfnissen des hochkonzentrierten Kapitals nach Restauration der Profitmargen. Die damit einhergehende Aushöhlung der inneren Märkte konnte zunächst zum Teil durch die Erschließung der neuen Absatzsphären in Osteuropa, der ehemaligen Sowjetunion und der VR China kompensiert werden. Gleichzeitig drängte die herrschende Politik auch zunehmend auf eine Öffnung ehemals dekommodifizierter Sektoren für private Investitionen (Privatisierung der Rentenfonds, der Hochschulen usw.). Auf den von rechtlichen Schranken weitgehend befreiten Finanzmärkten verschob sich das Schwergewicht zunehmend von den Kredit- auf die Kapitalmärkte und der Finanzsektor schwoll auf ein Vielfaches der produktiven Wirtschaftsbereiche an[7]. Die creatio ex nihilo, in der Natur unmöglich, schien in der Ökonomie möglich und unbegrenzt fortsetzbar. Die relative Abkopplung des Wertpapierhandels und seiner Preisentwicklung von der materiellen Produktion schuf neue wirksame Nachfrage. Durch Ausweitung der Kreditvergabe und Spekulation wurde Kaufkraft geschaffen, der nirgendwo ein realer Wert im Sinne verausgabter abstrakt menschlicher Arbeit gegenüberstand. Auf diese Weise konnte über die letzten drei Jahrzehnte verhindert werden, dass die fortschreitende „Akkumulation durch Enteignung“ (Harvey)[8] der erweiterten Reproduktion den Boden unter den Füßen entzog.

Wenn also die keynesianisch geprägte Phase der Europäischen Integration vor allem von dem Bemühen geprägt war, politische Spannungen zu beseitigen und die ökonomische Zusammenarbeit zu stärken, um besser den Einfluss der UdSSR bekämpfen zu können, zielt die aktuelle Integrationsphase vor allem auf die Aufwertung des europäischen Kapitals in der weltweiten Konkurrenz ab. Zu diesem Zweck führen die europäischen transnational operierenden Konzerne eine lang anhaltende Offensive gegen die charakteristischen Merkmale der keynesianischen Wirtschaftspolitik und die in dieser Phase errungenen sozialen Rechte. Auch wenn diese Politik bei weitem keine Spezifik der EU-Länder darstellt, dienen doch die verschiedenen Institutionen der Europäischen Integration – hervorzuheben wären z.B. die EU-Kommission, die EZB, die EWWU – vielfach als Hebel zu ihrer Durchsetzung. Der „acquis communautaire“ der konzernfreundlichen Integration wird in diesen Institutionen kodifiziert und für alle Mitgliedsländer und Anwärter verbindlich gemacht. Durch besondere „lock-in“-Effekte[9] schränkt die EU zudem auf verschiedensten Wegen, direkt und indirekt, die Handlungsspielräume der nationalen Regierungen ein. Zu nennen wäre hier vor allem der Maastricht-Vertrag, der die Haushaltspolitik der Euro-Länder und derer, die es werden wollen, auf die Einhaltung der Konvergenzkriterien von maximal 3% Haushaltsdefizit und maximal 60% Staatsschuldenquote verpflichtet. Das ist aber nicht alles: Durch die Liberalisierung des Kapitalverkehrs und der Niederlassungsfreiheit kommt es in der EU zu einem Steuersenkungswettbewerb bei den Unternehmens- und indirekt auch den Einkommenssteuern[10]. Indem einerseits ein großes Haushaltsdefizit verboten ist, andrerseits aber auch die Einnahmenseite untergraben wird, nimmt die EU das Volumen der Staatsausgaben von zwei Seiten aus in die Zange. Flankiert wird dieser Mechanismus durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der in der Praxis in aller Regel zugunsten wirtschaftsliberaler und konzernfreundlicher Prinzipien entscheidet[11]. Extreme Beispiele für die Einwilligung von nationalen Regierungen in die Einschränkung ihrer finanziellen Spielräume sind natürlich die Länder, die von der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF heimgesucht werden.

All diese Einschränkungen der politischen Spielräume werden jedoch keinesfalls den nationalen Regierungen gegen ihren Willen diktiert – schließlich war es die souveräne Entscheidung jeder Regierung, sich den Regeln des Integrationsprojektes zu unterwerfen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass es den Regierungen der Mitgliedsstaaten sehr zupass kommt, die Umsetzung unpopulärer Maßnahmen neben den „Sachzwängen der Globalisierung“ nun auch den Vorgaben aus Brüssel anlasten zu können. So war in Schweden 1993-94 wohl einer der ausschlaggebenden Gründe für den EU-Beitritt, dass die konservative Regierung sich davon erhoffte, den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat mithilfe der europäischen Ebene unter „Anpassungsdruck“ zu setzen[12] - „Anpassung“ selbstverständlich an die Erfordernisse der Standortkonkurrenz. Selbst in Ländern wie Griechenland ist es falsch und irreführend, von einer fremden „Besatzung“ zu sprechen[13]: Würden die entsprechenden Programme nicht von mächtigen AkteurInnen in diesen Ländern mitgetragen, allen voran den großen Kapitalgruppen, wären sie auch nicht durchsetzbar.

ERT - Lobby für die Interessen des Großkapitals

Das Großkapital der EU überlässt seine Interessenvertretung nicht allein den Regierungen und supranationalen Institutionen auf europäischer Ebene, auch wenn diese in der Vergangenheit durchaus alles taten, um ein solches Vertrauen zu rechtfertigen. Der Anfang der 80er Jahre gegründete European Round Table of Industrialists (ERT), die bedeutendste Lobbygruppe der europäischen Großindustrie, war an der Erstellung aller entscheidenden europäischen Verträge direkt beteiligt[14]. An den „Empfehlungen“ des ERT kommt keine Institution der EU vorbei, selbst gesetzt den Fall, dass der Wille dazu bestünde. Die Mitglieder des Round Table beschäftigten 2011 etwa 6,6 Mio. Menschen und legten einen Umsatz von 1,6 Bio. € auf die Waage[15]. Besonders stolz scheint man im ERT auf die eigene Rolle beim Zustandekommen der Einheitlichen Europäischen Akte 1985 und der Einführung des Binnenmarkts in den Folgejahren zu sein. So verweist der ERT auf seiner Homepage darauf, dass der ehemalige Kommissionspräsident und große Förderer des Binnenmarkt-Projekts Jacques Delors die zentrale Rolle des ERT öffentlich anerkannt habe[16]. Der ERT hatte in den 80er Jahren seine ökonomische Macht direkt als Hebel eingesetzt, um die Widerstände nationalstaatlicher Regierungen gegen die Einführung des Europäischen Binnenmarkts auszuschalten. Er nutzt ein komplexes Beziehungsgeflecht zu den Schlüsselfiguren der EU-Institutionen wie dem Europäischen Rat, der Kommission, dem Ministerrat, dem Europäischen Parlament und dem europäischen Arbeitgeberverband Businesseurope, um die „Wettbewerbsfähigkeit“ zur ersten Priorität der strategischen Ausrichtung der Europäischen Integration zu erheben[17]. Der ERT äußert wirtschaftspolitische Empfehlungen auf den EU-Gipfeln und war maßgeblich an der Erstellung des Maastricht-Vertrags, der Wirtschafts- und Währungsunion, der Lissabon-Agenda und der Finanzmarktintegration insgesamt beteiligt[18]. Letztere etwa wurde bereits in ihren Grundzügen im Voraus von einem „Beratergremium zur Wettbewerbsfähigkeit“, dem neben Unternehmensvertretern auch Politiker und Gewerkschaftsführer angehörten, ausgearbeitet. Die Lissabon-Strategie stellte das zentrale Dokument zur strategischen Orientierung der EU in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends dar. Vorbild war die US-Ökonomie aus der Zeit des „New-Economy“-Booms in den 90er Jahren, der in hohem Maße auf den billigen und rechtlosen Arbeitskräften der USA fußte[19]. Charakteristischerweise geriet dieses oft genug als krisenfrei gepriesene Wachstumsmodell bereits 2000, also dem Jahr der Lissabon-Strategie, in die Krise.

Die Wirtschafts- und Währungsunion war zum einen ein Hebel, um mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt und dem Maastricht-Vertrag „fiskale Disziplin“ bei den Euro-Anwärtern durchzusetzen. Zum zweiten ermöglicht sie innerhalb der Eurozone einen von Wechselkursschwankungen ungehinderten Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Drittens erlaubt der Euro den europäischen Industriestaaten, mit dem US-Dollar in Konkurrenz um die Vorzüge des Weltwährungsstatus zu treten. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Wirtschaftslobby in der EU sich stark für eine europäische Währungsunion einsetzte.

Lissabon-Strategie und „Global Europe“: Wettbewerbsfähigkeit als oberstes Ziel

Die Lissabon-Strategie hatte das erklärte Ziel, bis zum Jahr 2010 die EU „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Um die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen zu steigern, sollte das Wachstum durchschnittlich 3% betragen. Das sollte erreicht werden durch einen Ausbau des freien Verkehrs von Arbeitskräften und Dienstleistungen, außerdem sollten 20 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, die Beschäftigungsquote gesteigert und „soziale Ausgrenzung“ bekämpft werden[20]. Zudem wurden im Rahmen der Durchführung bisher geschützte Sektoren für private Investoren geöffnet, Unternehmenssteuern gesenkt, die Arbeitszeit verlängert und die Arbeitsmärkte mit Minijobs und ausgehöhltem Kündigungsschutz „flexibilisiert“[21]. Der europäische Gewerkschaftsbund ETUC begrüßte diese Generaloffensive gegen den Lebensstandard der Lohnabhängigen mit dem Argument, dass Wachstum und Beschäftigung darin auch eine Rolle spielten[22].

Die Lissabon-Strategie fand ihre Konkretisierung in der BRD als Agenda 2010 inklusive der Hartz-Gesetze und der Aushöhlung des kostenlosen Gesundheitswesens. Auf europäischer Ebene  mündete sie in die „Bolkestein“-Richtlinie, die in fast allen Dienstleistungsbereichen, auch der öffentlichen Daseinsvorsorge, weitgehende Investitionsfreiheit für private Konzerne durchsetzt und in die „Europäische Nachbarschaftspolitik“ (ENP) sowie die „Global Europe“-Strategie in der Handelspolitik.

Die angrenzenden Länder in Osteuropa, die in den zwei Erweiterungsrunden 2004 und 2007 in die EU aufgenommen wurden, haben dem Kapital der bisherigen EU-15-Länder große Potenziale erschlossen. Das Konzept, Osteuropa zum geschützten Jagdgebiet der westeuropäischen Konzerne zu machen, ist weitgehend aufgegangen: Bereits Ende 2006 lag der Anteil der alten EU-Länder an den Direktinvestitionen in den neuen Mitgliedsländern bei fast 80%, wobei die BRD, die Niederlande und Österreich eine besonders herausgehobene Rolle spielten. In vielen Ländern Osteuropas wird der Bankensektor so gut wie ausschließlich durch ausländisches Kapital kontrolliert, so z.B. in Estland, der Slowakei und der Tschechischen Republik[23].

Nach der Osterweiterung, die die EU auf gegenwärtig 27 Mitgliedsstaaten anwachsen ließ, stellte sich die Frage, wie der territoriale Expansionsprozess der Union danach noch fortzusetzen wäre. Eine neue Erweiterungsrunde, die etwa die Ukraine oder Türkei einbeziehen würde, scheint momentan nicht ernsthaft erwägt zu werden, vermutlich aus der Befürchtung, dass die Aufnahme dieser großen Länder die Machtverteilung in der EU zuungunsten der Kernstaaten verändern könnte[24]. Die ENP gibt auf dieses Dilemma eine Antwort: Mit ihr können die Länder östlich, aber mittlerweile vor allem die südlich der EU-Grenzen an den „acquis communautaire“ der Union herangeführt werden, ohne dass ihnen eine Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt werden müsste. Auf diese Weise umgibt sich die EU mit einem „Ring befreundeter Staaten“, der vor allem zwei Funktionen erfüllt: Die Einbindung Nordafrikas in die Abschottungspolitik gegen MigrantInnen und die Restrukturierung der jeweiligen Volkswirtschaften gemäß den Interessen des EU-Kapitals, um eine großräumige Freihandelszone zu schaffen, in der europäische Konzerne als tonangebende Wirtschaftsakteure operieren können. Letzteres gestaltete sich im Falle der südlichen Anrainerstaaten deutlich schwieriger als im Falle der marktliberal ausgerichteten osteuropäischen Länder. Deswegen greift die EU zu einer Taktik mit ‚Zuckerbrot und Peitsche‘: Wer schneller die von Brüssel vorgegebenen Reformen durchführt, wird mit finanziellen Mitteln belohnt und umgekehrt können ‚Versäumnisse‘ Sanktionen nach sich ziehen. Die Folgen der ENP für die Produktionsstruktur der südlichen Länder waren ähnlich verheerend wie die des EWG- bzw. EU-Beitritts der süd- und osteuropäischen Peripherie der heutigen EU: Das Handelsbilanzdefizit der südlichen ENP-Staaten explodierte geradezu von 530 Mio. € zu Beginn der Liberalisierungsmaßnahmen 2006 auf 20,4 Mrd. € im Jahr 2010[25].

 „Global Europe“ ist eine 2006 verabschiedete Strategie, die die Handelspolitik der EU in den Dienst der externen Wettbewerbsfähigkeit und damit der Interessen der transnational agierenden europäischen Konzerne stellt. Zentrale Ziele sind die Sicherung der Rohstoffversorgung, eine stärkere Präsenz europäischen Kapitals in den „emerging markets“, insbesondere den BRICS-Ländern, der Schutz geistiger Eigentumsrechte, die Liberalisierung der Märkte für öffentliche Aufträge in den Partnerländern sowie die Beseitigung nicht-tarifärer Handelshemmnisse[26]. Strategisches Ziel ist auch hier die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit europäischer Konzerne gegenüber ihren Pendants aus den USA, Japan, China, Indien, Brasilien, Südkorea und anderen Ländern, einschließlich der Durchdringung dieser Märkte durch Direktinvestitionen aus der EU. Der freie Zugang europäischer Waren- und Kapitalexporte geht natürlich in vielen Ländern auf Kosten einheimischer Produzenten, die gegen die Konkurrenz aus Europa keine Chance haben. Diese Märkte, zusammen mit den aus EU-Sicht zu privatisierenden öffentlichen Beschaffungsmärkten, stellen ein erhebliches Potenzial dar, das die Durchsetzungsfähigkeit des europäischen Großkapitals auf internationaler Bühne bedeutend stärken kann[27].

Da die EU seit etwa 2001 auf Schwierigkeiten stößt, im Rahmen der WTO-Runden ihre Liberalisierungsagenda international durchzusetzen, setzt sie seit einigen Jahren verstärkt auf die bilaterale Ebene. So kann das geballte Programm von Privatisierung, Weltmarktintegration und Liberalisierung gegenüber jedem Land einzeln vertreten und die außenwirtschaftlichen Ziele der EU somit leichter umgesetzt werden[28]. Besonders interessant für die EU ist der kometenhafte ökonomische Aufstieg Chinas, das als „Erfolgsgeschichte der Globalisierung“ gefeiert wird. Die Kommission drängt in China zwar auf Beseitigung von Schranken für den Marktzugang, besseren Schutz intellektueller Eigentumsrechte und Abbau der staatlichen Unterstützung für chinesische Firmen[29]. Aber grundsätzlich sieht die EU das Land, das in einigen Verlautbarungen immer noch als „kommunistisch“ gebrandmarkt wird, wie selbstverständlich als Kooperationspartner bei der Gestaltung der kapitalistischen Weltordnung an.

„Europe 2020“ und alles beim Alten

Sowohl Lissabon als auch „Global Europe“ sind seit 2010 in der „Europe 2020“-Strategie zusammengefasst und für die laufende Dekade verlängert worden. Nach Auffassung der AutorInnen des Europe 2020-Papiers befindet sich die EU in einem „moment of transformation“ und muss jetzt auf drei zentrale Punkte orientieren: „smart growth“, d.h. Wachstum auf Basis von Wissen und Innovation; „sustainable growth“, was den Fokus auf Ressourceneffizienz und Umweltfreundlichkeit bei gleichzeitiger Wettbewerbsfähigkeit legt; und „inclusive growth“, also Beschäftigungsförderung und „soziale Kohärenz“. Konkret sollen bis 2020 75% der Bevölkerung zwischen 20-64 beschäftigt sein, 20 Mio. Menschen vom Armutsrisiko befreit werden, 3% des BIP in Forschung und Entwicklung investiert werden und die Treibhausgasemissionen um 30% reduziert werden. Letzteres Ziel wird freilich sogleich mit einer Einschränkung versehen: Es soll lediglich dann erfüllt werden, „wenn die Bedingungen stimmen“. Erreicht werden sollen die ambitionierten Ziele der Strategie durch eine Verbreitung moderner Internetverbindungen, Ressourceneffizienz, erneuerbare Energien, einen modernisierten Transportsektor, den Aufbau einer wettbewerbsfähigen Industrie, die fortgesetzte „Modernisierung“ der Arbeitsmärkte und Mobilität der Arbeitskräfte. Ferner sollen die Staatshaushalte mittelfristig konsolidiert werden, aber nicht auf Kosten der wirtschaftlichen Erholung. Die Krisenbekämpfungsmaßnahmen, die zur Rettung der Banken und mit fiskalen Stimuli viele europäische Staaten in die Nähe des Staatsbankrotts getrieben haben, sollen vorerst fortgesetzt werden[30]. Der offensichtliche fundamentale Zielkonflikt zwischen der Förderung internationaler Wettbewerbsfähigkeit durch die bekannten Rezepte zur „Reform“ der Sozialsysteme und Arbeitsmärkte einerseits und der Verringerung von Armut, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung andrerseits wird in dem Strategiepapier nicht einmal ansatzweise angesprochen. Es ist daher davon auszugehen, dass wie bereits in der Lissabon-Strategie die Bekenntnisse zu „sozialer Kohärenz“ und Armutsbekämpfung deutlich weniger ernst zu nehmen sind als die zur Wettbewerbsfähigkeit.

In der Außenhandelspolitik will die EU weiterhin auf Bilateralismus setzen, so z.B. mit den freihandelsorientierten „European Partnership Agreements“ (EPAs) mit den AKP-Staaten. In der Folge verlieren die betroffenen Länder die Einnahmen durch Importzölle, die angesichts der schmalen Steuerbasis einen erheblichen Teil des Staatshaushalts bestreiten[31]. Eine noch weitere Verarmung der lokalen Bevölkerung scheint damit vorprogrammiert. Aus diesem Grund kann die an der Konzernagenda ausgerichtete EU-Handelspolitik angesichts der offiziellen „Entwicklungs“-Rhetorik auch nur mit politischen Kosten durch direkten ökonomischen Zwang durchgesetzt werden[32]. Andrerseits nehmen die verantwortlichen Stellen in der EU auch immer häufiger kein Blatt mehr vor den Mund. So berichtete die Wiener Zeitung 2010 über Überlegungen der EU-Kommission: „Entwicklungshilfe für arme Herkunftsländer – speziell in Afrika – könnte von Rohstofflieferungen als Gegenleistung abhängig gemacht werden“[33]. Um Investitionen und Handelsrouten abzusichern, etwa vor dem Horn von Afrika, wird auch voraussichtlich das Militär eine zunehmend wichtige Rolle spielen[34]. Das „state building“ in Krisenregionen hat als ein Hauptziel, dass zumindest die Funktion des Staates als Garant des Privateigentums wiederhergestellt wird.

Geopolitik und Einflusssphären: Europäische Integration als Griff nach der Weltmacht

Das Institute for Security Studies der EU publizierte 2011 ein Papier mit einem „Grand Strategy“ genannten Konzept, das einige Grundlinien zur Schaffung eines imperialen Großraums unter Kontrolle der EU vorschlägt[35]. In diesem Großraum, der „Grand Area“ sollen alle wesentlichen Ressourcen und Handelsrouten enthalten sein, geopolitische Krisenregionen sollen ausgeschlossen werden und der Raum soll effektiv durch das Militär der Union gegen Widersacher zu verteidigen sein. Explizites Ziel ist die ausschließliche Hegemonie der EU über das Gebiet, das nach Vorstellung des „Grand Strategy“-Entwicklers James Rogers außer der EU den gesamten Mittleren Osten, den Großteil Afrikas, den Indischen Ozean inklusive Indonesiens und etwa die Hälfte der ehemaligen Sowjetunion umfassen soll. Andere Mächte sollen notfalls auch militärisch an der Verwirklichung ihrer Ansprüche gehindert werden, weshalb ein Netz aus EU-Militärbasen in der „Grand Area“ anvisiert wird. Ein ähnliches Konzept schwebt dem European Council on Foreign Relations mit der „Eurosphere“ vor, in der ungefähr 80 Staaten und 20% der Weltbevölkerung (im Wesentlichen aus der „Grand Area“) zur Einflusssphäre der EU erklärt werden[36].

Angesichts des relativen Machtverlusts der EU zugunsten von anderen aufstrebenden Mächten und der Tatsache, dass die EU – wie der Fall Libyen suggeriert – auch weiterhin offenbar nicht in der Lage ist, einen größeren Krieg im Alleingang zu gewinnen, scheinen derartige Weltherrschaftsphantasien zwar außerhalb jeglicher Realität. Sie zeigen aber vor allem, dass man an führenden Stellen der Union nicht bereit ist, sich mit diesem Abstieg abzufinden und daher ähnlich wie die USA immer stärker auf eine offen machtpolitische, militärbasierte Strategie setzt, um die eigene Position im internationalen Kräfteverhältnis zu festigen[37]. Der Lissabon-Vertrag schreibt deshalb für die EU-Mitgliedsstaaten die Verpflichtung vor, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“, also permanent aufzurüsten[38].

Ganz oben auf der Agenda steht dabei das Thema Energiesicherheit. Die Kommission geht davon aus, dass aufgrund steigender Nachfrage und schwindender Eigenreserven die Abhängigkeit der EU von Ölimporten bis 2030 auf 93% der Gesamtversorgung und bei Gasimporten auf 84% steigen wird[39]. Zwar war bisher die Zufuhr von fossilen Energieträgern nie ernsthaft in Frage gestellt, aber das dürfte sich in Zukunft angesichts zunehmender Ressourcenknappheit ändern. Die EU stößt bei der Verwirklichung ihrer Energiestrategie zum Teil jetzt schon auf erhebliche Schwierigkeiten. Das vermutlich wichtigste energiepolitische Großprojekt der EU ist die Nabucco-Pipeline, die das kaspische Erdgas unter Umgehung des Rivalen Russland über die Türkei und den Balkan nach Mitteleuropa leiten soll. Trotz massiver Unterstützung der USA und EU für das Vorhaben steht seine Umsetzung sehr auf der Kippe: Im Oktober 2011 wurde das Nabucco-Projekt von hochrangigen Energieexperten aus Deutschland als nicht realisierbar bezeichnet, nachdem der Baubeginn schon zuvor mehrfach verschoben wurde und momentan für 2013 vorgesehen ist[40]. Auch wenn es wohl verfrüht ist, das Projekt endgültig abzuschreiben, sieht es derzeit danach aus, als hätte das russische Konkurrenzprojekt der „South Stream“-Pipeline gute Karten, den Machtkampf zu gewinnen[41].

Die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen energiepolitischen Interessen und Aktivitäten der EU-Länder verhindern das Zustandekommen einer einheitlichen und kohärenten Strategie auf dem Gebiet der Energiepolitik[42]. Es scheint somit wahrscheinlich, dass energiepolitische Richtungsentscheidungen wie etwa die über das Verhältnis zu Russland in Zukunft immer öfter zum Auslöser von Spannungen innerhalb der Union werden. 

Das ökonomische Gewicht der EU in der Weltwirtschaft

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Gegensätze zwischen den EU-Ländern und anderen Weltregionen tendenziell verschärfen. Die Zeiten, in denen die EU bzw. EWG als „Juniorpartner“ der USA eine untergeordnete Rolle im Rahmen der antikommunistischen Blockbildung spielten, scheinen endgültig der Vergangenheit anzugehören. Die EU tritt weltweit immer selbstbewusster für eigene Interessen ein, wenngleich die internen Widersprüche zwischen den Mitgliedsstaaten oftmals ein einheitliches Auftreten erschweren. Mit ihrem Anspruch, innerhalb der ersten Dekade des neuen Jahrtausends zur weltweit führenden Wirtschaftsmacht zu werden, forderte die EU sowohl die „alten“ kapitalistischen Zentren USA und Japan als auch die aufstrebenden Schwellenländer wie Indien und China heraus. Dabei handelte es sich nicht um eine bloße Absichtserklärung. Hinter diesen Strategien steht ein relativer Bedeutungszuwachs Europas im Verhältnis zu den USA: Auch 2010, nach einem großen Einbruch, liegt das BIP der EU mit 16,3 Bio US$ immer noch über dem der USA (14,5 Bio US$)[43]. 2008 hatten von den 100 größten Konzernen 64 ihren Sitz in Europa, davon 58 in der EU. Im Vergleich dazu hatten nur noch 18 ihren Sitz in den USA[44]. Das höhere Gewicht der europäischen Konzerne in der internationalen Arbeitsteilung wurde zu einem erheblichen Maße durch grenzüberschreitende Konzentrations- und Zentralisationsprozesse ermöglicht. Für Gretchen Binus sind diese Prozesse, bei denen über Fusionen und Übernahmen der zentralisierende Aspekt vor dem konzentrierenden überwiegt, ein „sozialökonomischer Grundprozess der EU-Integration“[45].

Die Osterweiterung der EU und die damit verbundene Privatisierungswelle ermöglichten von 2003 bis 2007 eine Vervierfachung der grenzüberschreitenden Fusionen, was die oligopolistische Eigentumsstruktur in der EU weiter zugunsten der größten, meistens in den Kernländern beheimateten Konzerne gestärkt hat[46]. Das wachsende Gewicht des transnational operierenden hochkonzentrierten Kapitals zeigt sich auch in einer zunehmenden Außenorientierung der Kapitalakkumulation, sowohl was die Exporte von Waren, als auch die von Kapital angeht. Der Außenhandel der EU wuchs im vergangenen Jahrzehnt viel schneller als die Wirtschaftsleistung insgesamt. Die Exporte der EU wurden 2010 zu ca. 60% von den stark konzentrierten Bereichen Maschinen- und Fahrzeugbau sowie Chemie bestritten[47]. Während die EU beim Warenexport gegen die Konkurrenz aus den BRIC-Staaten eher an Boden verliert, ist sie immer noch Weltspitze beim Kapitalexport: Im selben Jahr kamen 16% der weltweiten Exporte und 32,5% der transnationalen Investitionen aus der EU, die damit weit vor jedem anderen weltwirtschaftlichen Akteur liegt[48]. Der Trend geht dabei in Richtung eines zunehmenden Kapitalflusses in die BRIC-Länder, um auf den dortigen großen Märkten Positionen zu erobern sowie von den Rohstoffreserven und dem wissenschaftlich-technischen Kenntnisstand dieser Länder zu profitieren[49].

Fazit:

Das ökonomische Integrationsprojekt, wie es in seiner gegenwärtigen Form als EU und WWU existiert, entspricht in hohem Maße den Interessen der Konzerne im produzierenden und finanziellen Sektor der Ökonomie. Die Stärkung der internationalen „Wettbewerbsfähigkeit“, die selbstverständlich keine Fähigkeit ist, sondern ein Verhältnis zu anderen Staaten, hat oberste Priorität in allen strategisch relevanten Verträgen und Papieren der Europäischen Integration – meistens auch expressis verbis. Bieling schreibt dazu, dass die offiziellen Diskurse über „Zivilisation“, „Entwicklung“, „Menschenrechte“ usw. zwar auch ernst gemeint sein können, aber den geoökonomischen und geopolitischen Zielsetzungen der Union untergeordnet werden[50].

Letzten Endes dient somit das gesamte Integrationsprojekt der Schaffung von günstigen Voraussetzungen für die Akkumulation von Profiten. Dies geschieht zwangsläufig auf Kosten der Konkurrenten im Ausland, aber vor allem auch der Mehrheit der Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten und der in den diversen Partnerschafts- und Nachbarschaftsabkommen assoziierten Länder, die sich mit stagnierenden oder sinkenden Reallöhnen und ausgehöhlten öffentlichen Sozialsystemen abfinden sollen. Dies ist nicht, wie immer wieder behauptet wird, eine „gescheiterte neoliberale Politik“[51], sondern eine durchaus erfolgreiche Politik, die allerdings klare Klasseninteressen vertritt. Gewinner der Europäischen Integration unter den gegenwärtigen Bedingungen ist allerdings auch nicht unbedingt das Kapital insgesamt – im Gegenteil hat die Wirtschafts- und Währungsintegration gerade in vielen peripheren Ländern zu einer regelrechten Deindustrialisierung und Verdrängung kleiner Familienbetriebe geführt[52]. Es sind vor allem die transnationalen Konzerne, die als seine Profiteure und wichtigsten Unterstützer den Integrationsprozess prägen[53]. Auch territorial sind daher die Vorteile naturgemäß nicht gleichmäßig verteilt, da aufgrund des sehr ungleichen Entwicklungsstands der EU-Länder die großen Konzerne ihre Schwerpunkte in den Kernländern wie Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden haben. Insbesondere das deutsche großindustrielle Kapital ist aufgrund seiner starken Exportorientierung und seiner überlegenen Produktivität als ein Hauptprofiteur der Europäischen Integration zu sehen. In der Krise hat Deutschland seinen Vorsprung sogar noch ausbauen können, obwohl mangels wirksamer Nachfrage auf den ausländischen Märkten die Exportüberschüsse zurückgegangen sind[54]. Die negative Reallohnentwicklung hat einen wichtigen Teil zur Verbesserung der deutschen Konkurrenzposition beigetragen: Zwischen 2000 und 2009 sind wegen niedriger Tarifabschlüsse der Gewerkschaften und der Ausweitung atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse die Reallöhne in der Bundesrepublik um 4,5% gesunken[55].

Unzweifelhaft existiert eine Kluft zwischen den Ländern des Zentrums und denen der Peripherie der EU[56]. Es wird aber in einer Reihe von Fällen immer schwieriger, ein Land klar einer der beiden Kategorien zuzuordnen. Frankreich und Italien etwa sind zwei der größten Volkswirtschaften der EU und haben zweifellos einiges Gewicht in der Entscheidungsfindung. Trotzdem sind die Leistungsbilanzen beider Länder seit Einführung des Euro immer weiter ins Minus gerutscht, weshalb vor allem Italien mit ähnlichen strukturellen Problemen wie die anderen südeuropäischen Länder zu kämpfen hat. Auch die Länder der südlichen und östlichen Peripherie der EU sind aber nicht pauschal als Leidtragende des Integrationsprozesses einzuordnen. Vielmehr gibt es auch in diesen Ländern Gewinner und Verlierer der EU-Politik. Der Unterschied ist lediglich, dass einerseits die VerliererInnen, namentlich ArbeiterInnen und Angestellte, Arbeitslose, die meisten Jugendlichen, RentnerInnen und MigrantInnen, noch härter von der in Brüssel beschlossenen Politik getroffen werden als ihre Pendants in den Kernländern und andrerseits auch die Gewinner, die großen Konzerne in Industrie, Handel und Finanzwesen, im europäischen Maßstab eine eher untergeordnete Rolle spielen. Auch die derzeitigen Krisenbekämpfungsmaßnahmen in den südeuropäischen Ländern dienen keineswegs nur ausländischen Interessen sondern auch der Verbesserung der Konkurrenzposition des einheimischen Kapitals. Die Europäische Integration in ihrer jetzigen Form muss daher ungeachtet aller internen Gegensätze als eine gemeinsame Strategie der dominanten Kapitalfraktion in den beteiligten Ländern gesehen werden.

Die internationalen Aktivitäten der EU zeigen zwar einerseits, dass der Integrationsprozess im Kontext der Internationalisierung von Produktion, Handel und Finanzsektor stattfindet. Allerding ist es keineswegs so, dass das europäische Kapital dem keineswegs machtlos gegenüberstehen und unschuldig den Imperativen des weltweit wirkenden Wertgesetzes folgen würde. Es verhält sich genau umgekehrt: Das europäische Kapital positioniert sich selbst aktiv innerhalb der Konkurrenz mit dem Streben nach weltweiter Führerschaft. Dabei werden viele der Voraussetzungen für die weltweit immer weniger gehinderte Mobilität des Kapitals erst aktiv geschaffen, beispielsweise durch die Partnerschaftsabkommen der EU.

Seit einigen Jahrzehnten besteht der Schwerpunkt der Herrschafts- und Wettbewerbsstrategie der europäischen Konzerne in der Schaffung eines wirtschaftlichen Großraumes mit günstigen Bedingungen der Kapitalverwertung. Diese Strategie hat mit den europäischen Institutionen gleichzeitig ein spezifisches neues Terrain geschaffen, das selbst wiederum Ort der Implementierung von kapitalistischen Herrschaftsstrategien und des Konflikts zwischen ihnen ist. Dabei ist das strategische Feld, auf dem diese Strategien gebildet und konkretisiert werden, aufgrund der Wesenheiten des europäischen Integrationsprojekts immer begrenzt: Der Boden kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Verhältnisse darf dabei nicht verlassen werden. Politische Kräfte, die auf die Überwindung dieser Verhältnisse drängen, sind daher in ihrem Handlungsspielraum durch die EU stark eingeschränkt und daher gezwungen, in ihrer strategischen Orientierung die bestehenden Institutionen der Europäischen Integration selbst in Frage zu stellen.

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[1]  Vgl. z.B. Altvater/Mahnkopf 2007: 264.

[2] Bieling 2003: 209-214.

[3] Bieling 2006: 431.

[4] A.a.O. 433f.

[5]  Insbesondere wären zu nennen der methodologische Individualismus, die damit verbundene ahistorische Anthropologie des „homo oeconomicus“, das Fehlen einer analytisch tauglichen Werttheorie und die Tendenz zu rein ökonometrischen Modellen mit unrealistischen Grundannahmen.

[6] Harvey 2005: 19.

[7]  Altvater 2006: 111ff; Foster/Magdoff 2008; Foster 2008.

[8]  Harvey 2003.

[9]  Gill 1998; Altvater/Mahnkopf     2007: 37.

[10] Ganghof/ Genschel 2008: 321ff; Genschel/ Rixen/  Uhl 2008.

[11] Ganghof/ Genschel 2008: 329; Scharpf 2008: 70.

[12] Harvey 2005: 113f

[13] So schreibt z.B. attac (2012): „Nun werden die Griechen einer neoliberalen Schocktherapie ausgesetzt“, gerade so, als wären es deutsche Besatzungstruppen und nicht eine souveräne Exekutive, die diese „Therapie“ umsetzt.

[14] Altvater/ Mahnkopf 2007: 125.

[15] Schäfer 2011.

[16] European Round Table of Industrialists.

[17] Prenner 2003: 11f.

[18] Prenner 2003: 13.

[19] Altvater/Mahnkopf  2007: 125.

[20] López Alvarez/ Meneghini/ Richter 2006.

[21] Groth 2007.

[22] Hyman 2011: 4.

[23] Becker 2008: 9

[24] Wagner 2011b: 3.

[25] Wagner 2011b: 4; Lösing/Wagner 2011: 22f.

[26] Groth 2007.

[27] Fuchs 2007: 1f.

[28] Fuchs 2007: 3

[29] Fuchs 2007: 8f

[30] Europäische Kommission 2010.

[31] Lühmann 2011: 2f.

[32] Lühmann 2011: 3.

[33] Tucek 2010.

[34] Lühmann 2011: 4.

[35] Wagner 2012: 9-11; Wagner 2011a.

[36] Wagner 2012: 10.

[37] Wagner 2012: 11.

[38] Vertrag von Lissabon, Art. 17 (3).

[39] Bieling 2010: 240

[40] Brüggmann 2011.

[41] Bieling 2010: 243f.

[42] Binus 2010: 11.

[43] IMF.

[44] UNCTAD.

[45] Binus 2010:  6.

[46] A.a.O.

[47]  Eurostat: 56.                                                                                                                           

[48]  A.a.O, S. 14; UNCTAD.

[49]  Binus 2010: 7f.

[50]  Bieling 2010: 225.

[51]  So z.B. die deutsche Partei „Die Linke“ in einer Stellungnahme zur „Europe 2020“-Strategie.

[52]  Z.B. in Griechenland, siehe z.B: Stathakis 2010: 6.

[53]  Bohle 2006: 346.                                                                                                 

[54]  Hüssen 2010.

[55]  Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010.

[56]  Becker/ Jäger 2011.

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