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Stefan Junker: Karl Marx über die verbrecherische Regierung vom 4. September 1870 In Nizza verläuft eine Avenue Thiers parallel zum 1865 erbauten Bahnhof – eine Augenweide. Die Straße ist benannt nach einem französischen Historiker und Staatsmann des 19. Jahrhunderts, für den Marx nur abfällige Begriffe übrig hatte: „Schwätzer“, „Staatsparasit“, „gräßlicher Zwerg“, „historischer Schuhputzer Napoleons“. Aber nicht nur ihn trafen diese Schmähungen. Was bewegte Marx im Jahre 1871 während und nach der sogenannten Kommune, die politischen Vertreter der bürgerlichen Klasse nicht nur zu entlarven, sondern sie öffentlich zu beschimpfen? Lassen sich aus seinen Überlegungen womöglich Rückschlüsse auf unsere Gegenwart ziehen? Diesen beiden Fragen soll auf den folgenden Seiten nachgegangen werden. „Bürger Marx sagte, daß wir das Verhalten der Versailler Regierung verurteilen können, aber es wäre nicht angezeigt zu protestieren: das käme einem Betteln gleich an eine Regierung, von der wir sagen, die aus Räubern (robbers) besteht.“ (Doc., 202) So liest es sich in den Protokollen des Generalrats der ersten Arbeiterinternationale. Marx hatte auf einen Vorschlag geantwortet, welcher angeregt hatte, angesichts der sich überhäufenden Berichte über die von der Versailler Regierung in Paris an der Arbeiter/innenbevölkerung begangenen Grausamkeiten im Namen des Generalrats zu protestieren. Er machte deutlich, daß es sich hier speziell um die Regierung in Frankreich handelte, denn „die englischen Mitglieder des Rats möchte etwas unternehmen: eine öffentliche Versammlung anberaumen, oder eine Deputation bestimmen, die sich in dieser Sache an das Ministerium wendet.“ (Doc., 202) Eine Regierung aus „robbers“ bestehend zu bezeichnen, erscheint als starker Toback. Wenige Wochen zuvor hatte Marx in seinem ersten Entwurf für den Generalrat ähnlich verächtliche Worte über diese Regierung gefunden. Es „ist äußerst charakteristisch für die Männer des Kaiserreichs, ebenso wie für die Männer, die sich nur auf seinem Boden und in seiner Atmosphäre zu Scheinvolkstribunen sich entwickeln konnten – die siegreiche Republik würde sie nicht nur als Verräter brandmarken, sie hätte sie als gemeine Verbrecher dem Kriminalgericht übergeben müssen.“ (MEW 17, 494f) Viel ist geschrieben worden über Marxens „Bürgerkrieg in Frankreich“, namentlich über sein drittes Kapitel, worin er fast prophetisch die Inhalte späterer Räterevolutionen vorwegnimmt. Dagegen ist es erstaunlich, daß die anderen Kapitel seiner Schrift viel weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Es scheint sich ähnlich wie mit dem „Kapital“ zu verhalten, wo viele glauben, mit einem kurzen Blick auf den ersten Band diesen großen Denker und Sozialisten verstanden zu haben. Nur ein Mitglied des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) aus der Zeit der 68er Studentenbewegung findet den Gegenstand erwähnenswert, daß Marx seinen ersten Teil ganz „der abwertenden Schilderung der führenden Persönlichkeiten im Versailler Lager“ widmet. Aber trifft er die ganze Wahrheit mit seiner Vermutung, daß Marx auf den Effekt abzielte, „vor dem Hintergrund persönlicher Erbärmlichkeit der Exponenten der französischen Bourgeoisie den Heroismus ihrer Gegenspieler um so leuchtender hervortreten zu lassen.“ (Meschkat, 23) Auf den folgenden Zeilen möchte ich meinen Gedanken entwickeln, daß es Marx um mehr ging, als die Verteidiger/innen der Kommune in besserem Licht erscheinen zu lassen. „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ teilt sich in vier Kapitel. Während die beiden Entwürfe noch Kapitelüberschriften kannten, finden sich in der Endfassung nur noch römische Ziffern. Am 18. 4. 1871 schlug Marx dem Generalrat der I. Internationale vor, dieser möge eine Adresse bezüglich der Pariser Geschehnisse publizieren. Der Generalrat befand den Vorschlag für gut und beauftragte Marx selbst mit der Ausarbeitung. Zwei Tage nach dem Fall der Kommune billigte der Generalrat einstimmig den Marxschen Text. Zuerst am 13.6. 1871 in London in einer Auflage von etwa 1000 Stück erschienen, wurde wenig später eine zweite Auflage erforderlich. Hier zogen zwei Mitglieder des Generalrats, Lucraft und Odger, ihre Unterschriften zurück. Sie hatten bereits zuvor öffentlich ihre Mißbilligung bekundet. Mit Odger, zu dieser Zeit Kopf des London Trades Council, war es bereits Anfang des Jahres zu Differenzen gekommen. Auf der Generalratssitzung vom 17. Januar 1871 hatte Marx das Wort ergriffen und erläutert, daß Odger auf einer Versammlung in der St. James Hall wider besseres Wissen über die Französische Regierung gesprochen habe. Während der Generalrat öffentlich bekundet hat, daß einige Mitglieder der französischen Regierung mit den gegen die Arbeiter 1848 begangenen Schändlichkeiten in Verbindung stehen, sprach Odger insbesondere Jules Favre davon frei, dieser sei nur als Repräsentant der Regierung zu betrachten. Dadurch sei Favre zum Schaden der Republik in den Vordergrund gebracht worden. Diesen Sachverhalt zu verstehen, bedarf es eines kleinen Rückblicks auf die historischen Umstände. Im Juli 1870 hatte Napoleon III Preußen den Krieg erklärt. Durch die Divergenzen des Bürgertums und vor allem deren abgrundtiefer Angst vor den Interessen der revolutionären Arbeiterschaft 1851 an die Macht gekommen, suchte er in diesem außenpolitischen Abenteuer eine Ablenkung, die seine wankende Position wieder sichern sollte. Heute wissen wir, daß er in eine von Bismarck, der die militärische Stärke besser einzuschätzen wußte, gestellte Falle getappt war. Dabei sollte nicht übersehen werden, daß Bismarck diesen „kleinen Napoleon“, wie ihn Victor Hugo spöttisch nannte, immer bewunderte. Als sich die militärischen Hiobsbotschaften in Paris häuften und schließlich die Nachricht von der Gefangennahme des Kaisers ankam, brach sich die langaufgestaute Wut der Massen auf dieses autoritäre und korrupte System Napoleons III Bahn. Es wurde offenbar, daß das Land keine Regierung mehr besaß. Den leeren Thron besetzte die Opposition, darunter der Rechtsanwalt Jules Favre, der sich bereits unter dem Schlächter von 1848, General Cavaignac, einen Namen gemacht hatte. Er verlangt eine neue Regierung mit General Trochu an der Spitze. Sie wird sich „Regierung der nationalen Verteidigung“ nennen. Man muß verstehen, daß diese Herrschaften, diese „liberale Opposition“, von der gleichen Angst vor den Forderungen der Arbeiterschaft getrieben war, wie seinerzeit 1848-49, welche die Situation geschaffen hatte, die es dem „Emporkömmling“ Napoleon III erlaubte, nach der Macht zu greifen, und sein autoritäres Regime zu errichten. Dabei war es ihm mehr als bereits seinem Onkel bewußt, daß er nicht gegen die bürgerlichen Interessen regieren konnte, wohl aber gegen die verschiedenen Fraktionen, in denen sich diese auszudrückten versuchten. Nur diese Karte war jetzt, 1870, verbraucht. Während das Volk in Erinnerung an 1789 an einen Kampf bis zum Äußersten glaubte, war die vornehmste Sorge dieser Herren aus der sogenannten Opposition, mit Preußen die Kapitulation, was damals Waffenstillstand hieß, abzumachen. Darum nannte Marx diese Regierung eine Regierung des nationalen Verrats. Daß Marx und Engels in dieser Einschätzung völlig richtig lagen, ist mit den akribischen Untersuchungen, die Henry Guillemin nach dem 2. Weltkrieg unternommen hatte, bestätigt worden. Aber die Problemlage war für die Zeitgenossen viel komplexer und ähnelt in mancher Hinsicht unserer heutigen Zeit. Nicht nur waren da die alltäglichen Lügen, Verdrehungen und Verleumdungen der Presse. Für Frankreich stellte sich die dringende Frage nach internationaler Anerkennung der Republik. Bismarck spielte selbstredend mit der Karte, Napoleon III wieder als Herrscher einzusetzen, obwohl dieser sich als Gefangener weigerte, im Namen Frankreichs zu sprechen. Jede fortschrittliche Entwicklung, oder sprechen wir von einer Entwicklung im Interesse der arbeitenden Klasse, war mit der Etablierung einer Republik verbunden, die nicht verwechselt werden sollte mit der Ausbildung irgendwelcher sozialistischer Verhältnisse. Darum hatte Marx mehrere Versuche unternommen, die britische Regierung zu bewegen, die Französische Republik anzuerkennen.(Collins, 185ff) Aber – und das ist nun für unseren Gegenstand wichtig – macht Marx in der oben erwähnten Erläuterung zu Odger eine Unterscheidung zwischen der „Republik“ an sich und ihrer Regierung in Gestalt des stellvertretenden Regierungschefs und Außenministers Jules Favre. Marx erläutert dessen politische Rolle. Nach der 1848er Revolution wurde er Innenminister. Zuerst brachte er die Armee zurück nach Paris, welche es dem Bürgertum ermöglichte, das Arbeitsvolk niederzuschießen. Auf seine Veranlassung hin erging das Dekret, das Gefangene ohne Gerichtsverfahren zu deportieren seien, 15.000 Menschen waren davon betroffen. Für die infamsten Pressegesetze war er verantwortlich und anderes mehr. (Doc., 106-107) Und an H. Jung hatte Marx noch am 18.1. geschrieben: „Jules Favre war eins der berüchtigtsten Werkzeuge der Schreckens-Herrschaft, die der französischen Arbeiterklasse nach der Juni-Insurrektion von General Cavaignac auferlegt wurde. Er unterstützte alle die schändlichen Gesetze, die damals zur Unterdrückung des Rechts auf Versammlung, Koalition und Pressefreiheit erlassen wurden.“ (MEW 34, 171) Für Marx war die Republik zu scheiden von solcher Gestalt, dies war u.a. sein Motiv gegen Odger zu sprechen, der nach außen hin natürlich als Vertreter der Internationale wahrgenommen wurde. Wir finden hier die Marxsche Analyse im Zentrum seines Verständnisses von Arbeiterpolitik. Da waren einmal die divergierenden Interessen des Bürgertums, dann die persönlichen Interessen derjenigen, die sich der Regierungsgewalt bemächtigten, dann natürlich die Überreste dynastischer Ambitionen. Auf einer Sitzung, die nach Niederwerfung der Kommune stattgefunden hatte, gibt Marx nochmals eine Erläuterung. Das Komplott zur Niederwerfung der Kommune war zwischen Thiers, Favre und Bismarck beschlossen worden, Bismarck selbst hatte das genaugenommen ausgeplaudert. Eine alte Geschichte. Die oberen Klassen vereinigen sich, um die unteren Klassen nieder zu halten. Im 11. Jh. gab es einen Krieg zwischen Französischen und Normannischen Rittern, aber die Bauern probten einen Aufstand. Sofort vergaßen die Ritter ihre Differenzen und schlugen vereint die Bewegung der Bauern nieder. Man und frau fühlt sich unweigerlich an das Täuferreich zu Münster (1534-35) erinnert, als mitten in den Religionskriegen die katholischen und evangelischen Heerführer ihre Streitigkeiten fahren lassen, um das erste kommunistische Experiment auf deutschem Boden in Blut zu ersticken. Diese Analyse der politischen Rolle von Jules Favre – wir haben uns bisher auf ihn beschränkt – wäre hinreichend um den Gegensatz zwischen dieser Regierung und der Arbeiterklasse deutlich werden zu lassen. Für den Effekt, die Erhebung des Pariser Volkes in einem besonderen Licht erscheinen zu lassen, wäre dies genug. Was treibt Marx darüberhinaus die schändliche Biographie dieses und der anderen Herren zu studieren, um sie in seiner Adresse zum Gegenstand zu machen? Sehen wir uns zunächst genauer an, was es mit dem „nationalen Verrat“ auf sich hatte. Die Republik vom 4. September war nicht das Ergebnis eines opfervollen Kampfes, sondern sie besetzte einen vakanten Thron. Tags zuvor hatte Jules Favre die bonapartistischen Minister gefragt, ob sie vom Kaiser Befehle empfingen, was diese verneinten. Daraus schloß der Advokat, daß Frankreich faktisch keine Regierung mehr besitze. Die Stunde der liberalen Opposition schien gekommen, zumal sie auf das stillschweigende Wohlwollen der Konservativen zählen konnte, welche ebenso nichts mehr fürchteten als ein Wiederaufflammen revolutionärer Erhebungen. Auf die Nachricht von der Gefangennahme des Kaisers strömen die Massen in die Straßen, versammelten sich und es kam zu verschiedenen Kundgebungen. Eine Menge stürmte den Palais Bourbon, den Saal der gesetzgebenden Versammlung als gerade der Fabrikant Eugène Schneider, Guillemin nennt ihn den „besonderen Sekretär“ Bismarcks, eine Rede hielt. Die Menge ruft nach einer demokratischen Republik. Doch sie läßt sich von Jules Favre täuschen. Er erklärt kurzerhand, die Pariser Abgeordneten übernehmen die Regierung. Da sich die Aufregung der Massen nicht mehr ändern läßt, setzt er sich selbst an die Spitze. Lieber einen schmachvollen Frieden abschließen, als mit dem revolutionären Volk im Bunde den Krieg à outrance, zum Äußersten zu führen und der sozialen Stellung verlustig zu gehen, der er seine Straffreiheit und sein Vermögen zu verdanken hatte. An der Spitze der Bewegung zu stehen, erleichterte natürlich die geheime Konspiration für den Abschluß der ersehnten Kapitulation. [1] Aber das war nur die halbe Miete. „Parallel zur öffentlich erklärten Absicht, den Krieg weiterzuführen, suchte die Provisorische Regierung geheim einen Frieden mit den Deutschen, … Am gleichen Tag [als die Regierung diese Absicht bekundete] kontaktierte Jules Favre …. Bismarck, um seine Friedensbedingungen zu sondieren.“ (Smith, 56) Marx betont dies, wenn der schreibt. „Am selben Abend, wo die Republik proklamiert wurde, was es Trochus [Oberbefehlshaber der Truppen von Paris und Chef der neuen Regierung] Kollegen bekannt, daß Trochus ‚Plan‘ in der Kapitulation von Paris bestand.“ (Marx 17, 320) Aber wir sollten Trochu nicht zuviel Ehre des Verrats erweisen, Guillemin kennt unzählige Beweise, daß, falls Trochu eine andere Einstellung gehabt hätte, die anderen Generäle ihn nicht gelassen hätten. Der Schlüssel zu Marxens Gedankengang findet sich in seinem zweiten Entwurf, obwohl alle drei Dokumente mit der gleichen Abfolge beginnen. Den Anfang bildet der 4. September, die Proklamation der Republik, es folgt die Darstellung des „nationalen Verrats“ der Septemberregierung, gefolgt von einer Beschreibung der Charakterlosigkeit ihrer führenden Repräsentanten. Es sind die Arbeiter, so Marx, welche die Proklamation der Republik erzwingen. Tatsächlich sind sie es gewesen, die mit ihrem Eindringen in den Corps Legislativ die Proklamation der Republik erzwungen haben. In ihrer Gegenwart erklärt Jules Favre den Kaiser für abgesetzt und sich und andere in Paris 1869 gewählten Vertreter der Gesetzgebung zur provisorischen Regierung.[2]Die Daseinsberechtigung der Republik leitet Marx aus dem fünfmonatigen Kampf ab, der nun folgte. Woraus zu folgern ist, daß es ohne diesen Kampf zu einer Restauration der Monarchie gekommen wäre, entweder von Bismarcks Gnaden unter „seinem Bruder“ Napoleon III oder einer konstitutionellen unter den Orleanisten in Anlehnung an die Zeit Louis Phillips (1831-1848). Dem aufopferungsvollen Kampf des Pariser Proletariats ist es zu danken, daß Frankreich von nun an die republikanische Staatsform behielt. Den Augenblick der Verwirrung, in dem sich die Arbeiterklasse befand, weil ihre Führer im Gefängnis saßen und die preußischen Truppen heranrückten, nutzen diese Advokaten aus für ihre Intrigen und Ränkespiele. Das Volk von Paris duldete sie allein, weil sie vorgaben, Paris zu verteidigen. Guillemin bezeugt in seinem akribischen Werk diese Lügen, Fälschungen und Täuschungen der „Regierung der nationalen Verteidigung“. Als Favre mit Bismarck über die Bedingungen der Kapitulation sprach, ließ die Regierung in Paris Plakate aufhängen: „Nicht ein Zoll unseres Gebiets, nicht ein Stein unserer Festungen!“ (Guillemin, 138) Auch Historiker explizit bürgerlicher Auffassung sind gezwungen, diese doppelzüngige Politik mehr oder weniger deutlich einzugestehen. (Smith, 56) Nun aber verlangt die Sache der Verteidigung der Hauptstadt, die Bevölkerung zu bewaffnen, da ja die reguläre Armee in preußische Gefangenschaft geraten war. Und dies allein trug eine ungeheure Gefahr in sich: „Der Sieg von Paris über seine preußischen Belagerer, wäre ein Sieg der Republik über die Klassenherrschaft in Frankreich gewesen.“ (MEW 573) Interessant, daß Marx hier den Begriff der Republik anwendet für eine Gesellschaft ohne Klassenherrschaft, was auch die Revolutionen nach dem 1. Weltkrieg tun, indem sie von Sowjet- oder Räterepubliken sprechen. Angesichts dieser Logik zögerte die „Regierung der nationalen Verteidigung“ keinen Augenblick, sich in eine Regierung des „nationalen Verrats zu verwandeln“. An dieser Stelle bringt Marx einen ersten Beweis für seine Argumentation, nämlich die bekanntgewordene Rede General Trochus, der vom ersten Tag der Republik die Überzeugung vertrat, Paris nicht verteidigen zu wollen. Das offizielle Organ der Kommune vermerkte hierzu, daß diese Herrschaften für die Vernichtung dieser Beweise bereit seien, Paris in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Daß sich Marx hierbei auf Veröffentlichungen der Kommune bezog, kommt auch nicht von irgendwoher, bezeugt es doch, daß sich das Volk von Paris erst dieser verräterischen Politik bewußt werden mußte, was eine gewisse politische Selbstorganisation zu Voraussetzung hat. Wissen muß sich in ein Wissen der Arbeitenden verwandeln, um im sozialistischen Sinn praktisch zu werden. Aber, so Marx weiter, gab es eine Reihe von privaten Gründen für diesen „Verrat“, womit Marx seine beleidigenden und abwertenden Schilderungen der Charaktere der Septemberregierung beginnt, Thiers, Jules Favre, Ernes Picard, Puyer-Quertier, Jules Simon, Dufaure und Jules Ferry. Es sind „gemeine Verbrecher“ und „jede Republik hätte diese Männer als gewöhnliche Verbrechter dem Gericht überstellt“. Die Regierung insgesamt nennt er „Staatsparasiten“ der Regierung der Kapitalisten (MEW 17, 319). Hören wir ihn über Jules Favre sprechen. Dieser lebe in wilder Ehe und habe sich über Fälschungen im Namen seiner unehelichen Kinder eine große Erbschaft erschlichen, was nur möglich war, weil ihn bonarpartische Gerichte gedeckt haben. Kaum an der Regierung setzte er wegen Fälschung verurteilte Verbrecher frei, die ihm halfen, seinen Reichtum zu vermehren. „Lebenslängliche Zwangsarbeit wäre unter jeder anständigen Regierung sein unvermeidliches Los.“ (MEW 17, 495) Eugène Picard, „ein Lump“ und Bruder des wegen Betrugs von der Börse ausgeschlossen Ernest Picard, beschäftigt er als Vermittler zwischen ihm und der Börse zwecks der „Begründung eigenen Vermögens“. Auch er sei der Galeere verfallen. Jules Ferry erschwindelte aus der Hungersnot für sich ein Vermögen. Kein Wunder, daß diese Männer hoffend auf eine durch preußische Bajonette gestützte Monarchie das sicherste Werkzeug der Konterrevolution waren. „Es ist die zynische Orgie entkommener Verbrecher.“ (17, 496) Und schließlich Thiers, der „boshafte Zwerg“, „Meister kleiner Staatsschufterei“, Virtuose des Meineids und Verrats“, „ausgelernt in allen den niedrigen Kriegslisten“ und ständig „gemeiner Treulosigkeiten“ fähig. Über Pouyer-Queriter hatte Thiers eine Anleihe von zwei Milliarden beantragt, sofort zahlbar. Das Geschäft war so abgemacht, daß eine Provision von mehreren hundert Millionen in die Privattaschen von Thiers, Jules Favre, Ernest Picard Pouyer-Quertier und Jules Simon flossen. Nach der Niederschlagung der Kommune wurde das Finanzgesetz übernommen. Diese „gemeinen Verbrecher“ sind gerade richtig für diese „Zwergmißgeburt“ mit Namen Thiers, um seine Minister zu sein. Dieser selbst sei der „vollendetste geistige Ausdruck“ der „Klassenverderbtheit“. Thiers schmeichelte sich bei Louis Phillipe als Spion ein, beteiligte sich an der Niedermetzelung der aufständischen Republikaner 1830. Seine Stärke hat er bereits im „Lügen als Geschichtsschreiber dargetan“. Nach der Revolution 1848 wurde er der leitende Kopf der Ordnungspartei, „mit ihrer parlamentarischen Republik, jenem anonymen Zwischenreich, in dem all die verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse miteinander konspirierten zur Unterdrückung des Volkes, und gegeneinander, jede zur Wiederherstellung ihrer eigenen Monarchie.“ (MEW 17, 324) Die öffentlichen Verlautbarungen dieser „Gauner“ waren daher „bewußte Lügen“. Sie übergaben die Verteidigung bonarpartistischen Generälen, desorganisierten die Nationalgarde und organisierten unter Ferry den Hunger. Warum beleidigt Marx den Regierungschef? Ist es, weil Marx beleidigt wurde oder die Internationale mit der sich Marx identifiziert? Das wäre zu banal. Oder geht es Marx darum, die Kommune durch diese Gegenüberstellung in besserem Licht erscheinen zu lassen?[3] Werfen wir einen Blick auf die weiteren Umstände. Der Charakter der Schrift läßt keinen Zweifel daran, daß sie als Verteidigung und Rechtfertigung der Kommune dienen sollte. Die Arbeiterschaft aller Länder sollte sich mit der Pariser Kommune identifizieren, weswegen Kritik zurücktreten mußte, da sie zu leicht als Distanzierung mißverstanden werden konnte. Im Sommer 1870 hatte Napoleon III, nach einer gezielten Provokation durch Bismarck, Preußen den Krieg erklärt. Den deutschen Truppen gelingt es rasch, der schlecht organisierten und geführten französischen Armee aufs Haupt zu schlagen und Paris zu umschließen. Napoleon selbst gerät in Gefangenschaft und Frankreich erklärt sich im September zur Republik, welche den Krieg fortführt. Hintergrund für die Proklamation der Republik bilden Massendemonstrationen, der einige Erhebungen folgen, welche allesamt blutig niedergeschlagen werden. In dieser Situation erinnert sich die Bourgeoisie an 1848, die Angst vor den „Roten“ prägt ihr Verhalten gegenüber der Republik. Seine Eitelkeit drängt ihn, Präsident einer ungeliebten Republik zu werden, wo er als Garant der Niederhaltung des Plebses auftritt. Ihm ist jedes Mittel Recht, sich in der Geschichte zu verewigen, selbst die Zusammenarbeit mit den oben beschriebenen Gestalten. Diese Herren agieren für Marx natürlich nicht im luftleeren Raum, sie vertreten die Interessen des Bürgertums, aber nicht dergestalt, daß das Bürgertum sich diese Figuren unterhält, sondern mittels derer eigennützigen Strebungen. Der weitere Schlüssel für Marxens Gedankengänge findet sich erneut im zweiten Entwurf. Hier nennt Marx, Thiers sei der „vollendetste geistige Ausdruck“ der „Klassenverderbtheit der Bourgeoisie“. (MEW 17, 576) Es ist die besondere politische Situation, in der sich die schäbigsten Gestalten in den Vordergrund drängen, nur sie bringen die erforderliche Charakterlosigkeit mit, die Interessen der Bourgeoisie erfolgreich zu vertreten. Nicht, daß diese Herrschaften Marionetten der bürgerlichen Welt wären, im Gegenteil, sie sind von einer Reihe eigennütziger Interessen getrieben. Gerade diese prädestinieren sie für solch politisches Geschäft. Geschichte wird von wirklichen Menschen gemacht - nicht von „Charaktermasken“ - wenngleich sie ihre Rolle selbst nur selten begreifen. Was uns Marx hierbei noch vor Augen führen wollte, ist folgendes: In der Schäbigkeit der Interessen und dem niederträchtigen und verbrecherischen Charakter der herrschenden Klasse drückt sich die Schäbigkeit, Niedertracht, ja das Verbrecherische der bürgerlichen Verhältnisse aus. Die Regierung ist die politische Form bürgerlicher Herrschaft, aber es ist die relative Selbständigkeit, welche die Staaten mit ihren Regierungen genießen, worin sie sich als diese Interessenvertretung bewähren muß. Wie auf dem Markt der Händler die Waren taxiert, so die bürgerliche Klasse ihre Regierungen. Diese mögen sich im politischen Geschäft bewähren oder auch nicht, im Durchschnitt besorgen sie es. Aber von welchem moralischen Charakter sie im Zustand der Krise sind, davon gab uns Marx ein Bild. Sollen wir davon ausgehen, daß sich mit der Verschärfung des Klassenkampfes zunehmend verbrecherische Charaktere in den politischen Apparaten der Regierungen finden oder umgekehrt aus ihrem vermehrten Erscheinen auf das Herannahen der großen Krise schließen? Verwendete Literatur Archiv Marxa I Engelsa, Band III (VIII), Partisdat 1934. Zeitungsexzerpte vom 18. März bis 1. Mai 1871. Collins, Henry ; Abramsky, Chimen: Karl Marx and the British Labourg Movement. Years of the First International. London, Macmillan 1965. Documents of The First International Volume IV 1870 – 1871, London, Lawrence & Wishart o.J. Guillemin, Henry: L‘héroïque défense de Paris. Paris, Gallimard 1951. Marx, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW 17. Meschkat, Klaus: Die Pariser Kommune von 1871 im Spiegel der sowjetischen Geschichtsschreibung. Berlin, Otto Harrassowitz 1965. Smith, W.H.C.: Second Empire and commune: France 1848-1871. London, Longman 1985. Kleine Chronik 13. Juli 1870 Veröffentlichung der Emser Depesche 19. Juli Kriegserklärung Napoleons III an Preußen 1. September Niederlage der Hauptmacht der französischen Truppen bei Sedan, Gefangenenahme Kaiser Napoleons III. 2. September Kapitulation der französischen Armee
4. September Demonstrationen in ganz Frankreich; in Paris erobern die Massen das
Palais Bourbon; Gambetta erklärt den Sturz des Kaiserreichs; die Absetzung
Napoleons findet praktisch keinen Widerstand; die parlamentarische "Linke"
bildet eine provisorische Regierung ("Regierung der nationalen Verteidigung")
mit Favre und Trochu an der Spitze. 19. September Erste Verhandlungen zwischen Bismarck und Favre 31. Oktober Arbeiterbataillone der Nationalgarde besetzen das Hôtel-de-Ville in Paris und errichten einen Wohlfahrtsausschuß mit Blanqui an der Spitze. ("Keinen Waffenstillstand! Nieder mit Trochu und Thiers! Es lebe die Kommune!") Die Regierung verspricht Straffreiheit, ihren Rücktritt u d Wahlen zur Kommune, um Räumung zu erreichen; mit Hilfe bürgerlicher Teile der Nationalgarde schlägt sie dann den Aufstand nieder. 22. Januar 1871 Die Demonstration von Nationalgardisten vor dem Hôtel-de-Ville unter Führung von Duval, Rigault und Malon wird brutal zusammengeschossen (über 50 Tote). Daraufhin Verstärkung der Repression: Schließung der Klubs, Verbot von 17 republikanischen Zeitungen, zahlreiche Verhaftungen. 23. Januar Fauvre verhandelt mit Bismarck 28. Januar Unterzeichnung der "Konvention über einen Waffenstillstand"; die Armee von Paris muß ihr Kriegsmaterial ausliefern, die Nationalgarde darf ihre Waffen behalten. 8. Februar Wahl zur Nationalversammlung in Bordeaux; von den 630 Deputierten sind ca. 430 Monarchisten; Wahlt Thiers zum Chef der Exekutive. 26. Februar Thiers und Favre unterzeichnen den Präliminarfrieden von Versailles; er sieht u.a. 5 Milliarden Francs Kriegsentschädigung und die Abtretung Elsaß-Lothringens vor. 18. März Regierungstruppen überfallen im Auftrage A. Thiers'die Pariser Nationalgarde, um sich der Geschütze zu bemächtigen; der Anschlag mißlingt und löst die Volkserhebung in Paris aus; Flucht der Regierung nach Versailles. Das Zentralkomitee der Nationalgarde ergreift die Macht. 19. März Die Wahlen zur Kommune werden auf den 22. März festgelegt. 29. März Die ersten Dekrete der Kommune: Abschaffung des alten stehenden Heeres und Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung; Stundung der Mieten; Einstellung des Verkaufs der Pfänder in den Leihhäusern; Bildung von zehn Kommissionen (Ministerien) der Kommune. 7. Mai A. Thiers stellt Paris das Ultimatum, die Stadtmauern zu öffnen. 8. Mai Dekret der Kommune über feste Brotpreise. Bombardement von Paris. 28. Mai Fort Vincennes gefallen. Seine Garnison gefangengenommen und erschossen. Die letzten Barrikaden fallen. [1] Für den historischen Vergleich interessant ist das Fakt, daß sich am Beginn immer Vertreter bürgerlicher Interessen selbst als die neue Führer der revolutionären Bewegung proklamieren, so entstand der Sowjet im Februar/ März 1917 in Petrograd, 1918 hatte die Sozialdemokratie diese Aufgabe in Deutschland genommen. Es scheint immer eine gewisse Zeit zu bedürfen, bis die sich konstituierende Arbeiterklasse diese Verrätereien ihrer Führer der ersten Stunde durchschaut und sich ihrer entledigt und durch Vertreter aus ihren eigenen Reihen ersetzt. [2] Bei genauem Hinsehen läßt sich auch Phillip Scheidemann sehen, als er am 9. November 1918 den Massen die deutsche Republik proklamiert, während Bade-Max dabei ist, die Rücktrittserklärung des Kaisers zu fälschen. [3] Meschkat, 23. “Offensichtlich strebt er den Effekt an, vor dem Hintergrund persönlicher Erbärmlichkeit der Exponenten der französischen Bourgeoisie den Heroismus ihrer Gegenspieler um so leuchtender hervortreten zu lassen.“ |
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