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Barbara Eder: „The proof of the pudding is in the eating“
„Jetzt spiegelt sich der gesellschaftliche Kampf Eine grundlegende Kategorie, die einst als Indikator zur Bestimmung der gesellschaftlichen Position ganzer Gruppen diente, scheint heute weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Es war die Kategorie der sozialen Klasse, durch die innerhalb einer marxistisch orientierten Wissenschaft von der Gesellschaft die Lebensverhältnisse von Kollektiven bezeichnet werden konnten, die in Absehung von wesensmäßigen Eigenschaften und moralischen Attributionen durch ihre Stellung im Produktionsprozess charakterisiert wurden. Jene mit dem Insistieren auf einem Primat des Ökonomischen im Bereich der Lebensführung verknüpfte Klassenkategorie ist mit der Dominanz von Schichttheorien seit Beginn der 1970er Jahre am sozialwissenschaftlichen Horizont indes nur mehr bedingt auffindbar (vgl. Geißler 1996). Schichtmodellen liegt nicht nur ein wesentlich harmonischeres Bild von sozialer Ungleichheit zu Grunde, sondern auch die weitgehende Vernachlässigung von Ansätzen zur Erklärung jener gesellschaftlichen Antagonismen, die zur Spaltung von Gesellschaft gegen Ende des 19. Iahrhunderts in die Interessen von lohnabhängigen ArbeiterInnen und kapitalbesitzenden ProduktionseigentümerInnen führte. Selbst wenn es andere Teilungen sind, die zum Widerspruch von Kapital und Lohnarbeit hinzugetreten sind, so wird der Skandal einer nach wie vor auf ökonomischer Ungleichverteilung beruhenden Gesellschaftsordnung nur mehr selten moniert (vgl. Kreckel 1998). Stattdessen wird von einer angeblich neuen und transversal zur Klassenlage stratifizierten Prekarität als Lebens- und Berufsrisiko gesprochen, die – anders als Statistiken zur Klassenmobilität dies belegen – schichtindifferent konstatiert wird.[3] Der als temporär angenommene Seinszustand der „Prekären“ wird zudem nicht selten mit der Möglichkeit eines munteren Auf und Ab entlang der Stufenleiter einer „Multioptionsgesellschaft“ (Pongs/Gross 1999) assoziiert, die unter den Bedingungen des Vorhandenseins bestimmter kognitiver Ressourcen der Individuen Aufstiege und Quereinstiege jederzeit zulässt.[4] In Kontrast zur euphorischen Flexibilisierungsrhetorik der ersten Generation von Ich-AGs und kreativen Online-ProletarierInnen bedeutet Prekarität realiter die Widerruflichkeit des Lohns auf Grund von Zeitarbeit oder nach Werk abgerechneten Tätigkeiten, wechselnde, unsichere Dienstverhältnisse ohne rechtliche Absicherung und mit dem damit einhergenden Verlust des Anspruchs auf Sozialleistungen sowie verstärkter Druck infolge von flexiblen Identifizierungen, die sich an der jeweils am Markt nachgefragten Tätigkeit orientieren. Prekarität ist eine strukturelle Reaktion auf die seit den 1980er Jahren andauernde Krise des westlich-kapitalistischen Wohlfahrtsstaates und manifestiert sich makrostrukturell in der Destabilisierung von Positionen am Arbeitsmarkt infolge der rechtlichen und ökonomischen Grundlegungen für atypische Beschäftigungsverhältnisse. Auf Grund ihrer erhöhten ökonomischen Vulnerabilität machen Prekäre zwangsläufig die Erfahrung von gesellschaftlicher Randständigkeit und sozialer Stigmatisierung, die sich in Armut, sozialer Ausschließung, dem Defizit an Anerkennung und dem Erleben starker Hierarchien infolge der dem Erwerb zu Grunde liegenden Ausbeutungsverhältnisse manifestiert. Dimensionen gefühlter Unsicherheit erstrecken sich indes bereits weit in die Mittelschichtsmilieus hinein. Historisch betrachtet bedeutet Prekarität die moderne Wiederkehr des Tagelöhnertums. Ohne Ankoppelung des Konzepts der Prekarität an den Bereich der soziologischen Ungleichheitsforschung lanciert der Prekaritätsdiskurs Christoph Reinprecht zufolge indes jenes durch neoliberale Ideologen forcierte „Leitbild individualisierter Selbstoptimierung“ (Reinprecht 2008, 13). Die mit der Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen einhergehende „Refeudalisierung sozialer Ungleichheit“ (Reinprecht 2008) wird medial und politisch nur bedingt als Folgewirkung einer veränderten ökonomischen Situation infolge der kapitalistischen Entwicklung begriffen; eher wird Prekarität als Ausdruck eines sich im Lebensstil manifestierenden Bewusstseinszustandes begriffen, der mit neuen Freiheiten und anderen Risken einhergeht (vgl. Meschnig/Stuhr 2003). Infolge der Ausblendung des Sachverhalts, dass wir in einer ökonomisch nivellierten und folglich nach oben gefahrenen Klassengesellschaft leben, in der Klasse, Geschlecht und nationale Zugehörigkeit nach wie vor Einkommensverhältnisse und Lebenschancen bestimmen, wird die Wiederkehr der Prekarität nicht etwa zum Impetus für gesellschaftliche Egalisierungsforderungen heran-gezogen; stattdessen wird eine neue Unterschicht entdeckt, in der die seitens der Mittelschicht befürchtete – und durchaus reale – Angst vor dem eigenen Abstieg eine Projektionsfläche ex negativo erhält. Den Gründen dafür, dass in bürgerlichen Medien ebenso wie in der BILD-Zeitung keine oder falsche Schlüsse über die sich im zunehmendem Auseinandertriften von Ober- und Unterschicht manifestierende Verfasstheit von Gesellschaft gezogen wurden, wird im folgenden Text nachgegangen. Sozialwissenschaft wird in diesem Zusammenhang als Bestandteil des gesellschaftlichen Subsystems Wissenschaft aufgefasst, das mit dem Verlust des Anspruchs auf Ideologiekritik die Deutungsmacht über Ursachen und Entstehung sozialer Ungleichheit weitgehend eingebüsst hat. Mit dem Verschwinden des nochmals in strikter Abgrenzung von der Kategorie der Klasse definierten Klassenbewusstseins aus dem sozial-wissenschaftlichen Inventar wird nicht länger der Anspruch auf Überwindung der bestehenden Klassenherrschaft gestellt. Wohl mag eine sich als kritisch bezeichnende Sozialwissenschaft immer wieder die Relevanz der Kategorie Klasse im Sinne eines restringierenden Faktors im Hinblick auf Bildungschancen, die Teilhabe am angeblich universalen Wohlstand und im Hinblick auf die Konstatierung „feiner Unterschiede“[5] im Bereich kultureller Artikulation moniert haben. Von Klassenbewusstsein im Sinne einer ganz und gar konstruktionistischen Kategorie, die nicht einfach Abbild materieller Verhältnisse und infolgedessen eben nicht Resultat wirtschaftlicher Konstellationen ist, konnte im sich szientifisch gerierenden Wissensfeld der Sozialwissenschaft indes allein schon deshalb nie die Rede sein, weil dort das Bewusstsein dafür fehlt, dass Klassenbewusstsein stets in vermittelter Form auftritt und infolgedessen nie aus ökonomischen Faktoren deduzierbar ist. Vielmehr bildet Klassenbewusstsein sich durch hochgradig vermittelte Prozesse aus, die von ökonomischen Faktoren beeinflusst werden, ohne aber durch diese vollständig determiniert zu sein. Die epistemologische Herangehensweise bei der Rekonstruktion der Absenz der geschichtsmächtigen Denkkategorie des Klassenbewusstseins ist eine historisch-genealogische, die mit einer Kritik an der dominanten und aus diesem Grund zur Selbstneutralisierung tendierenden Ideologie des Neoliberalismus einhergeht. „Eine Klasse für sich?“ – Zur medialen Modellierung sozialer UngleichheitStrukturell betrachtet sind Deutschland und Österreich Gesellschaften mit starker nach Geschlecht stratifizierter ökonomischer Ungleichverteilung. 1 Prozent der statistisch verzeichneten EinwohnerInnen der Bundesrepublik Deutschland verfügt über 23 Prozent des gesamten Vermögens in Deutschland, dem reichsten Zehntel gehören sogar 61,1 Prozent davon und das gesamte Betriebsvermögen aller BundesbürgerInnen befindet sich in den Händen von 4 Prozent, zu denen laut sozioökonomischem Panel aus dem Jahr 2007 ebenso Kleinstbetriebe wie FriseurInhaberInnen und MetzgermeisterInnen gezählt wurden. Im oberen Einkommensdrittel werden 35,8 Prozent aller Einkünfte eingenommen, während im unteren Drittel nur Schulden gemacht werden (vgl. Herrmann 2012, 33ff.). Ebenso signifikant ist die Korrelation von niedrigem Einkommen und Lebenserwartung: Nur 79 Prozent der GeringverdienerInnen erreichen überhaupt das Rentenalter, bei einkommensstarken Personen sind es hingegen 91 Prozent (ibid., 175). Der Empfang von staatlichen Transferleistungen ist infolge des Zurverfügungstehens am Arbeitsmarkt mit Zwangsvermittlungen und dem verstärkten Druck, Finanzen offenzulegen, verbunden, während Personen, deren Nettoeinkommen das von 180.000 Euro jährlich übersteigt, nicht einmal mehr im Mikrozensus erfasst werden und ihre Einkommenslage folglich nicht in diesem Maße transparent machen müssen (ibid., 29).[6] Berücksichtigt man zudem die „feinen Unterschiede“ im Hinblick darauf, wie welche Arbeit von wem verrichtet wird, dann wird man diesbezüglich starke Differenzen vorfinden: Während körperlich harte und gesundheitsschädigende Tätigkeiten im Produktionsbereich an Unterschichtsangehörige mit zumeist migrantischem Hintergrund ausgelagert werden, zelebrieren Angehörige der Mittelschicht ihre Arbeit indes als „Performance“, die zwar „anstrengend“ ist, weil sie den sozialen Konventionen nach so repräsentiert werden muss, aber nicht primär auf die Erledigung einer Aufgabe abzielt: Vielmehr geht es bei einem Einkommen von 2.000 Euro aufwärts um die Darstellung von Arbeit im Kreislauf des Systems von Erschöpfung und konsumptiver Belohnung, die zum Zweck der Selbstlegitimation mit einem biografischen Mythos ausgestattet wird. Während oben delegiert und damit auch mit der Verrichtung einer Tätigkeit durch andere spekuliert werden kann, ist die im unteren Klassendrittel verrichtete Arbeit Teil einer „symbolischen Politik“[7] (Seeßlen/Metz 2011, 262) der Vernichtung im Sinne sozialer Selektion zum Zweck der Konstanthaltung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und der Verhinderung möglicher Aufstände. Folgt man indes den Selbstbeschreibungen der im Hinblick auf ihre Klassenzugehörigkeit Befragten, dann zählen sich mit einigen Ausnahmen nahezu alle – von Erwerbslosen bis hin zu SpitzenverdienerInnen – zur sogenannten Mittelschicht. Obgleich sich satte 25 Prozent der Befragten weit unterhalb der ökonomischen Kriterien befinden, durch die die Zugehörigkeit zur Mittelschicht bestimmt wird, verorten sich nur 3 Prozent unterhalb dieser Skala. Als reich gilt abseits eines klar definierten Einkommens immer, wer die einige 100 Euro mehr als eins selbst verdient – dies gilt auch in Bezug auf die Selbsteinschätzung, die MilliardärInnen von sich haben (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008). Selbstbeschreibung und Fremddefinition triften diesen Befunden zufolge stark auseinander. Dies mag auch auf das Stigma der Unterschichten-Attribution und die damit einhergehenden Konnotationen zurückgehen: Klassenzugehörigkeit wird nicht länger als produktiver Faktor im Prozess der Bildung einer „Klasse für sich“ aufgefasst, sondern vielmehr als schambesetzte Fremddefinition wahrgenommen. Dies resultiert daraus, dass Armut im Neoliberalismus als Resultat eines selbstverschuldeten Elends gilt und es infolgedessen keine klassenadressierenden Formen von Politik im Sinne einer „Option für die Armen“ mehr gibt. Im Hinblick auf die Desavouierung klassenmäßiger Verfasstheiten hat das vormalige Leitmedium Fernsehen als Paralleldiskurs zum sozialwissenschaftlichen Differenz-management ein paradoxes Wissen um eine sogenannte neue Unterschicht etabliert, die als wandelnde Visiotype den Weber’schen Idealtypus[8] beerbt hat. Bei der neuen Unterschicht handelt es sich um eine durch spefizische Bildpolitiken unterstützte Erfindung, die in Zeiten der Ausweitung neoliberaler Regierungstechnologie Vorstellungen wie jene von Eigenverantwortlichkeit und Leistungsfähigkeit mit dem Zweck der ideologischen Legitimation des Rückzugs des Sozialstaates in umgekehrter Weise darstellen soll. Über die dazugehörigen Bilder sowie die damit einhergehende Form der negativen Spiegelung, die stets mit einem „delegierten Genießen“ (Žižek) einhergeht, schreiben Seeßlen und Metz: „Die entfesselte Dummheit des Neoliberalismus erzeugt den Menschen, der zugleich Tier und Maschine werden will. Oder Haustier und Ware, wie man es nimmt. Alles, was tröstet, ohne anzustrengen, denken wir dem Insassen der neuen Unterschicht zu: Schnelles, fettes und fettmachendes Essen, Alkohol und Nikotin, Entertainment der herbsten wie der sentimentalsten Art, ,animalischen‘ Sex, Kinder und Haustiere. Dieser Mensch, sehen wir ihn uns beim Gang zum Gratisladen an, wird den Dingen, die er sich zum Trost hält, selbst immer ähnlicher, ein wandelnder Schokoriegel in obszöner Kleidung, der verzweifelt versucht, noch blöder zu gucken als sein Hund, qualmend und überschwappend wie ein Bierglas. Aber halt! Was geschieht da zwischen Blick und Bild? Der Anteil der realen Menschen, die sich nach diesem Bild verhalten, ist eher gering.“ (Seeßlen/Metz 2011, 99) Im Anschluß an die Entdeckung neuer Unterschichten wurde der diesem Umstand zu Grunde liegende Skandal systematisch erzeugter Ungleichheit vornehmlich unter Rückgriff auf Bilder, die der Plausibilisierung der wesensmäßigen Existenz der dazugehörigen Schicht dienen, decouvriert. Anstelle einer politisch notwendigen Recodierung der Klassenkategorie bedienten sich weite Teile der bürgerlichen Presse neoliberaler Deutungsmuster zur Erklärung der Lage der Anderen. Die Lage der Unteren wurde als Resultat eines „selbstverschuldeten Ausschlusses“[9] interpretiert, während die eigenen ökonomischen Privilegien, die zumeist durch Vererbung und geschickte Heiratspolitik über Generationen in ein und derselben Familie bleiben, durch Gesten und Rhetoriken der „Selbstdistinktion“[10] verteidigt werden. Diesbezügliche Argumente reichen seit Max Webers Studien zum modernen UnternehmerInnentum von religiös imprägnierten Formen der Statusverteidigung – etwa die „Gottgewolltheit“[11] des eigenen Besitzes –, dem damit zusammenhängenden „Berufsethos“[12], dem bedingungslosen „Willen zur Leistung“[13] bis hin zu einem Instistieren auf eine aus der genetischen Veranlagung deduzierbare „intellektuelle Überlegenheit“, die insbesondere die Angehörigen einer sich neuerdings als „national“ definierenden Elite ins Feld führen, die die ökonomische Fundiertheit des gesellschaftlichen Seins als Epiphänomen von Kultur und kultureller Zugehörigkeit interpretieren.[14] In Einklang mit der herrschenden Ideologie scheint laut Auskunft ihrer ProfiteurInnen die „unsichtbare Hand des Marktes“ mehr Distributions-gerechtigkeit zu kennen als staatlich verordnete Instrumente zum Austarieren sozialer Ungleichheit. Medial erzeugte Bilder wie jene von chipsmümmelnden Kindern, vollalkoholisierten HundebesitzerInnen und anderen als anarchisch desubjektiviert dargestellten LeistungsempfängerInnen, die nur mehr als Wartenummern am Arbeitsamt existieren, werden vornehmlich dort distribuiert, wo der „nicht-dumme Proletarier“ ebenso wie „der kluge Kolonialisierte“ nach wie vor „die grösste Gefahr für die Zentren von Macht und Reichtum, gleichgültig ob sie sich in Form der Emanzipation oder der Revolte zeigte“, darstellt (Seeßlen/Metz 2011, 96). Es gibt folglich eine überhistorische Fortdauer jenes Gefahrenmoments, das hundert Jahre früher noch mit Hilfe einer genuinen und zumeist der staatlichen Zensur[15] überführten Bildpolitik zum Ausdruck gebracht werden konnte. In Abgrenzung von der sozialpartnerschaftlichen Ästhetik in Fritz Langs „Metropolis“ (D 1927), in dem die für die Stellung im Produktionsprozess signifikante und durch das Mittel der Personifikation dargestellte Kluft zwischen Hand- und Kopfarbeit mit Hilfe einer Beschwörung der integrativen Kräfte des Herzes nur vermeintlich überwunden werden kann, gab es nahezu zeitgleich Bilder vom autonomen Lebensentwurf der sozialistisch eingestellten Tochter einer verpfändeten ProletarierInnenfamilie, die in der Erwerbslosen-Siedlung „Kuhle Wampe“ am Stadtrand von Berlin ihrer vormaligen Hoffnung auf Arbeit einen symbolischen Ausdruck verliehen hat. Auf einem Grabstein im Eingangsbereich zur Kommune befindet sich in Reaktion auf die Einsicht, dass es in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit keine Arbeit gibt, die Inschrift „Hier haben wir unsere letzte Hoffnung auf Arbeit begraben.“[16] Die Bezeichnung „Unterschicht“ ist heute nicht viel mehr als ein Signum jener Gespenstigkeit, die semantisch noch Remineszenzen an den topografischen Aufenthaltsort einer verfemten sozialen Gruppe erweckt. Der auch mit terminologischen Mitteln in ihrer wehrhaften Funktion unsichtbar gemachte „Unterschicht“, deren Lebensbedingungen Emil Kläger und Max Winter um 1900 nicht allein mit sozialkritischem Impetus, sondern vor allem auch mit dem Ziel der Disziplinierung und Überführung in den sozialdemokratischen Parteikorpus in den Tiefen der Wiener Kanalisation nachspürten, wird unter dem heutigen Druck journalistischer Mitteilbarmachung weder das Potenzial zugebilligt, Geschichte zu haben noch zum exemplarischen Subjekt derselben werden zu können (vgl. Kläger 1908 und Winter 1905). Die Sichtbarmachung der Unteren erfolgt nicht anders als damals jedoch nicht im Modus der Selbstrepräsentation, sondern im Rahmen einer forschungstechnischen und journalistischen Praxis, die im apperzeptiv-empirizistischen Apriori stagniert und die auf diese Weise gewonnenen Sozial-Szenen anschließend entlang einer impliziten Werteskala ordnet. An den der Entstehung einer Schicht der Unteren wird ebenso wenig Kritik geübt wie die Ursachen mit Rekurs auf die Existenz einer Klassengesellschaft erhoben werden. Der Preis einer Abkehr vom historischen Materialismus im Sinne eines historisch kontingenten Erklärungsmodells ist jedoch nur vermeintlich jener der Ideologiefreiheit: „Während der dialektische Materialismus eine Form der Ideologie ,Wissenschaft‘ nannte, nennt der Neoliberalismus/Neopositivismus eine reduzierte Form der Wissenschaft ,Ideologie‘“ (Kiss 2011, 14). Das notwendig eingebildete Bewusstsein – Georg Lukács, Herr Dübel und die Frage nach der gesellschaftlichen Vermittlung von Klassenbewusstsein Georg Lukács, der die Klassenkategorie stets in strikter Differenz von jeglicher Form der empirschen „Meinungsforschung“ (Lukács 1967a, 18) bestimmte, hätte jenes im Film „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt“ (D 1932) durch die sozialistische Tochter der ArbeiterInnenfamilie Bönicke sukzessive entwickelte und heute weitgehend vergessene Klassenbewusstsein auch auf das Fehlen adäquater Instrumente der „Vermittlung als methodischen Hebel zur Überwindung der bloßen Unmittelbarkeit der Empirie“ (Lukács 1967b, 286) zurückgeführt. Folglich gibt es einen Zusammenhang zwischen Klassenbewusstsein und jenen gesellschaftspolitischen Instanzen, die bei Lukács nicht nur Instrumente der Vermittlung, sondern gleichsam solche zur Formierung von Klassenbewusstsein sind. Der zu vermittelnde Erkenntnisinhalt – das Klassenbewusstsein – wirkt somit in doppelter Weise auf das das erkennende Subjekt zurück, das infolge der Bewusstwerdung vom Objekt zum Subjekt der Erkenntnis wird. In strikter Abkehr von jeglicher transzendental-idealistischen Bestimmung schreibt Lukács über das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung: „Das Hinausgehen über die Unmittelbarkeit der Empirie und ihre ebenso bloß unmittelbaren rationalistischen Spielregeln darf sich also zu keinem Versuch, über die Immanenz des (gesellschaftlichen) Seins hinauszugehen, steigern, wenn dieses falsche Transzendieren nicht die Unmittelbarkeit der Empirie mit all ihren unlösbaren Fragen in einer philosophisch sublimierten Weise noch einmal fixieren und verewigen soll. Das Hinausgehen über die Empirie kann im Gegenteil nur soviel bedeuten, dass die Gegenstände der Empirie selbst als Momente der Totalität, d. h. als Momente der sich geschichtlich umwälzenden Gesamtgesellschaft erfasst und verstanden werden. (...) Diese kann aber erst infolge des Aufgebens der falschen Einstellung des bürgerlichen Denkens an den Gegenständen zum Vorschein kommen und ins Bewusstsein gehoben werden. Denn die Vermittlung wäre unmöglich, wenn nicht bereits das empirische Dasein der Gegenstände selbst ein vermitteltes wäre, das nur darum und insofern den Schein der Unmittelbarkeit erhält, als einerseits das Bewusstsein der Vermittlung fehlt, andererseits die Gegenstände (eben deshalb) aus dem Komplex ihrer wirklichen Bestimmungen gerissen und in eine künstliche Isolation gebracht worden sind.“ (Lukács 1967b, 287) In Rekurs auf jene Tradition der marxistischen Erkenntnistheorie, deren VertreterInnen in strikter Abkehr von einer rein idealistischen Konzeption der Erkenntnis die Idee verwerfen, dass die materielle Realität an sich erkennbar wäre, nicht aber damit in Frage stellen, dass diese durch eine vermittelnde Praxis zu begreifen ist, verabsolutiert Lukács den Praxisbegriff des historischen Materialismus zu Gunsten eines selbstreflexiven und durch die Praxis der politischen Aneignung mehrfach gebrochenen Idealismus: „Denn die Annahme, dass die Umwandlung des unmittelbar Gegebenen in wirklich erkannte (nicht nur unmittelbar bekannte) und darum wirklich objektive Wirklichkeit, also die Wirkung der Vermittlungskategorie am Weltbild nur etwas ,Subjektives‘, nur eine ,Bewertung‘ der dabei ,gleichbleibenden‘ Wirklichkeit sei, heisst soviel, wie der objektiven Wirklichkeit wieder einen Ding-an-Sich-Charakter zuzusprechen. Freilich behauptet jene Art von Erkenntnis, die diese ,Wertung‘ als bloß ,Subjektives‘, als das Wesen der Tatsachen nicht Berührendes auffasst, gerade zu der tatsächlichen Wirklichkeit vorzudringen. Ihre Selbsttäuschung liegt darin, dass sie sich zu der Bedingtheit ihres eigenen Standpunktes (und besonders zu dessen Bedingtheit durch das ihm zu Grundeliegende gesellschaftliche Sein) unkritisch verhält.“ (Lukács 1967b, 267) Im Rahmen von Lukács Erkenntniskonzeption ist Erkenntnis von Wirklichkeit im Sinne der Erkennbarkeit materieller Verhältnisse in Rekurs auf die Interpretation der 11. Marx’schen Feuerbach-These nur insofern möglich, als diese durch den gestaltenden Zugriff vermittels der politischen Praxis be-griffen wird. Im Moment der schöpferischen Aneignung tritt Realität indes bereits als veränderte hervor. Die auf diese Weise vonstatten gehende Transsubstantion des An-Sich schafft das Objekt der Erkenntnis im Moment seiner Veränderung. Ähnlich wie Lenin, der auf der Erkennbarkeit von Objekten außerhalb des praktischen Zugriffs insistiert, hält Lukács jedoch an einer ideellen Determination der materiellen Verhältnisse fest[17]; in einer kapitalistischen, sich auf die Distribution und Erzeugung von Warenfetischen stützenden Gesellschaft ist materielle Realität jedoch selbst als vermittelte nicht erkennbar, weil diese nicht nur die Verdinglichung der Erkenntnissubjekte voraussetzt, sondern materielle Realität auch mit dem sich in der Ware inkarnierenden falschen Schein umgibt. Die Ware wird gleichsam zum „Ding an sich“, das seine menschliche Gemachtheit und damit die gesellschaftlich-historische Dimension verschleiert. Infolge des damit einhergehenden Unsichtbarmachens des Prozesses der Vermittlung selbst suggerieren jene der warenproduzierenden Gesellschaftsform immanenten Vermittlungsinstanzen nicht nur, Wirklichkeit als unvermittelte darzustellen; Medien vermitteln folglich nicht nur falsche Authentizität oder zusammenhanglose Beliebigkeit, sondern bringen damit auch das eigentliche Movens des historischen Prozesses durch Passivierung und Stigmatisierung zum Schweigen. Anstelle der Übernahme des aus sozialistischer Perspektive epistemologisch privilegierten und infolgedessen objektiven Standpunkts eines neuen, wesentlich inhomogener als zuvor bestimmten Proletariats, dem anno dazumal „die objektive Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft“ (Lukács 1967b, 267) infolge des Zusammenfallens von Geschichte und Genesis möglich war, erfolgt Vermittlung heute stets von oben herab. Andernfalls wäre ein (w)ehrhafter Proletarier namens Herr Dübel, der als „Arbeitslos-und-Spaß-dabei“-Darsteller[18] im deutschen Talk-TV Karriere machte, in Reaktion auf die von ihm verlautbarte Großzügigkeit, durch das eigene Ausscheiden aus dem Produktionsprozess die Arbeitsplätze anderer zu sichern, nicht pathologisiert und anschließend im Arbeitslager von RTL resozialisiert worden, wo man ihn mit sozialsadistischem Distinktionsgewinn beim unentgeltlichen Reifenwechsel ebenso beobachten konnte wie bei der unbezahlten Beseitigung von tierischen Exkrementen. Abseits von derartigen Verblendungszusammenhängen gibt es Lukács zufolge „eine klassenmäßig bestimmte Unbewusstheit über die eigene gesellschaftlich-geschichtliche ökonomische Lage“ (Lukács 1920, 128), deren Bewusstwerdung weder mit der Sendung von Sequels zur televisuellen Zwangsarbeit einhergeht noch mit den falschen Folgerungen, die zur Erklärung der bestehenden Klassenherrschaft herangezogen werden. Ist es etwa doch jene kritische Sozial- und Geschichtswissenschaft, der Lukács eine hegemoniale Funktion im Prozess dieser Erkenntnis zubilligte und die zur Aufklärung derzeit beiträgt und? Unter Rückgriff auf die Vorstellung einer notwendigen Überwindung der bestehenden Klassengesellschaft könnte der Befund ökonomischer Ungleichheit nicht nur zum Ausgangspunkt für politische Bewegungen werden, sondern auch zum genuinen Gegenstandsbereich der gegenwärtigen Sozialwissenschaft. Im Zuge der Aufspaltung der Sozialwissenschaft in einen qualitativen und einen quantitativen Bereich der Forschung – wobei letzterer zunehmend von StatistikerInnen mit volkswirtschaftlichem oder mathematischen Ausbildungshintergrund abgedeckt wird[19] – erfolgt seitens der Soziologie indes ein breites Angebot zur Beschreibung von Identitäten im Modus maximaler Ausdifferenziertheit.[20] Während der fordistischen Periode des Wohlfahrtsstaates wurde etwa eine Form der Gegenwartsbeschreibung favorisiert, die die sich im Lebensstil manifestierenden „feinen Unterschiede“ in Abgrenzung vom Insistieren auf eine nach Klassen geteilte Gesellschaft stark aufwertete. Im Zuge der historischen Ausnahmesituation der kapitalistischen Entwicklung im Europa der 1960er und 1970er Jahre sprach man in euphemistischer Antizipation des Soll-Zustandes nicht länger von sozialer Exklusion im Sinne der Konstatierung eines „harten“ Ausschlusses von Personengruppen von zentralen Institutionen der ökonomischen Reproduktion innerhalb der Gesellschaft, sondern vielmehr von Prozessen temporärer Ausschließung.[21] Erst zu Beginn der 1990er setzte eine erneute Gewichtung des ökonomischen Fundaments identitätsbedingter Exponiertheiten ein: Durch neue soziale Bewegungen wie etwa die Zweite Frauenbewegung und die Queer-Bewegung inspiriert, fand die Kategorie der Klasse starke Berücksichtigung im Rahmen des aus feministischen und (post-)kolonialen Ansätzen hervorgegangenen „Intersektionalitäts-paradigmas“. Die Mannigfaltigkeit von Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen sollte unter Rückgriff auf den wechselnden Bedingungs- und Verweiszusammenhang von Geschlecht, Rasse und Klasse erneut beschrieben werden können.[22] Fragen der Vermittlung von Klassenbewusstsein werden in diesem Zusammenhang indes ebensosehr marginalisiert wie Möglichkeiten, Klasse in einem ganz und gar konstruktionistischen Sinne zu denken. Als reduktionistische Kategorie im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wird soziale Klasse ebenso im Rahmen der postoperaistischen Theorie modelliert. Toni Negri und Michael Hardt führen den Verlust von Klassenbewusstsein auf die Veränderungen zurück, die der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts auf seinem Weg hin zum „kognitiven Kapitalismus“ durchlaufen hat. Seit Beginn der 1970er Jahre stellten die AutorInnen eine zunehmende Ausdehnung der Produktion auf vormals nicht produktivierbare Bereiche des Lebens fest, die zur Veränderung des Fundaments eines möglichen Klassenkampfes – „Biopolitik ist Klassenkampf im erweiterten Sinn“ (Negri 2007, 28) – führten. Bisher unverwertet gebliebenen Tätigkeiten im Sinne eines „uneingelösten Vermögens, einer blockierten Potenzialität“ (ibid., 30.) werden im Empire durch das transnational operierende Kapital angeeignet und urbar gemacht. Infolge der Ausrichtung von gegenwärtigen Regimes der Akkumulation auf die Produktivierung des Lebens (bios) selbst kann es kein Außen des Verwertungsprozesses mehr geben. Formen von „affektiver Arbeit“, die bei Marx und Engels nicht Bestandteil der Sphäre der Wertschöpfung waren, sind im Empire ebenso Teil des kapitalistischen Produktionsprozesses wie jene von Erwerbslosen, Reproduktions-arbeiterInnen und „Armen“, denen Negri und Hardt ein nicht näher definiertes „Tätigsein“ im Sinne eines „uneingelösten Vermögens, einer blockierten Potenzialität“ (ibid.) zuschreiben. Insbesondere jene Angehörigen der durch die viktimisierende Anrufung als „Lumpenproletariat“ definierte Klasse, deren Tätigkeit nicht auf die unmittelbare Produktion von Mehrwert ausgerichtet ist, sind bei Negri und Hardt „nicht nur Ausgeschlossene“, sondern „exemplarischen Subjekten der Ausbeutung“ (ibid.). Im Hinblick auf die Traditionen und Geschichte(n) einer vormals homogen gedachten Kategorie reicht der mit dem Insistieren auf der Möglichkeit einer reinen Empirie einhergehende Deutungsverzicht ebenso wenig zur Neukonstitution des Klassenstandpunktes unter veränderten politischen Vorzeichen aus wie jene subjektlose Politik der Inklusion, die Negri und Hardt – wenngleich vor dem Hintergrund einer angestrebten Überwindung des Empire – mit dem Ziel der Mobilisierung aller, die ihre Arbeit als ausgebeutete darzustellen vermögen, propagieren. Obgleich infolge der gesellschaftlichen Transformation am Übergang vom Fordismus zum Postfordismus Prozesse der Klassenformierung durch die Veränderung des Stellenwerts der Lohnarbeit erschwert wurden, bleibt dennoch danach zu fragen, inwieweit jene Klasse, die Georg Lukács in ganz und gar konstruktivistischem Sinne einer Bewusstwerdung „das Proletariat“ nannte und diese infolge der durch den Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit konstant vorangetriebenen Entwicklung eines Klassenbewusstseins mit der Funktion betraute, „identisches Subjekt-Objekt der Geschichte“ (Lukács 1967a, 24) zu werden[23], heute tatsächlich verschwunden ist. Wie sinnvoll ist ein Festhalten an Begriffen wie „dem Vorindividuellen“[24] in Anbetracht des damit einhergehenden Verlustes einer vormals geschichtsmächtigen Kategorie? Welches Problem der Vermittlung liegt diesem Verlust zu Grunde? Und wie müssten jene Instanzen der Vermittlung von proletarischem Klassenbewusstsein heute beschaffen sein, als deren zentrales Instrument Georg Lukács die Geschichtswissenschaft erkannte? Zum Verhältnis von bürgerlicher Wissenschaft und wehrhaften KlassenDie Sozialwissenschaft der Gegenwart mag zwar ein Instrument zur empirischen Feststellung von Klassenzugehörigkeit im Sinne einer Fremddefinition sein; keineswegs aber ist sie ein Organ der Vermittlung von Klassenbewusstsein. Sucht man nach den tieferen Ursachen dieses Umstands, dann beginnt der epistemische Bruch mit einer politisch revolutionär gesinnten Begriffsbildung bereits mit den Anfängen der modernen Lehre von Gesellschaft. Wo zur Mitte des 19. Jahrhundert noch in Reaktion auf die wachsende Armut von sich konstituierenden gefährlichen Klassen die Rede war, ersetzte die im Entstehen begriffene Soziologie ihr begriffliches Instrumentarium in bewusster Abgrenzung von der Disziplin der politischen Ökonomie um Begriffe wie Macht, Charisma, Beruf und Berufsethos.[25] Dieselbe Sozialwissenschaft, die zu diesem Zeitpunkt noch an den Fundamenten einer im Entstehen begriffenen Wissenschaft arbeitete, sollte im ausgehenden 20. Jahrhundert die marxistische Mitgift einer klassenmäßigen Geteiltheit der Gesellschaft mit den sich daraus ergebenden Antagonismen nicht einmal mehr erinnern. Der durch bürgerliche GeschichtsschreiberInnen forcierte Auszug der Kategorie des Klassenbewusstseins im Sinne eines generationen-übergreifenden und stets an Instanzen der Vermittlung gebundenen Bewusstseins bewirkt ein Erstarken von Geschichte im Raum einer Gegenwart, die von Fukoyama bis zu Samuel Huntington nach 1989 als Geschichte des siegreichen Parts – des Kapitalismus – recodiert wird. Infolge des Ausblendens der dialektischen Widersprüche zwischen den Klassen, die die historische Wirklichkeit vorantreiben, wird ein Denken von revolutionären Veränderungen infolge der Verabsolutierung des Verblendungszusammenhangs schlechterdings unmöglich. Marx (1859, 9) verband mit der proletarischen Revolution indes nicht das Ende der Geschichte, sondern ihren Beginn. Mit der Aufhebung des Fetischcharakters der Ware wird die Erkenntnis einer Wirklichkeit wieder möglich werden, die nur in dem Maße wirklich wird, wie Menschen vermittels des Prozesses ihrer Bewusstwerdung und durch ihn in den Zustand einer bewussten Gestaltung ihrer Lebens-und Produktionsverhältnisse eintreten. Wenngleich die Remineszenz an jene sozialistische Hoffnung eindeutig politischer Natur ist, die mit dem aus einer bestimmten Form des gesellschaftlichen Seins erwachsenden Bewusstsein stets auch ein Bewusstsein adressierte, das die Überwindung der bestehenden „Klassenherrschaft“ herbeiführen sollte, so wird Klasse infolge einer weitgehenden Pragmatisierung sozialwissenschaftlicher Denkkategorien zum Ergebnis des deskriptiv feststellbaren Sachverhalts eines monatlichen (Nicht-)Verdienstes. Endre Kiss zufolge ist dies auch auf jene die Gegenwart der Sozial- und Geisteswissenschaften bestimmende Symmetrie von Neoliberalismus und Postmoderne zurückzuführen, die eine fundamentale Umgruppierung der für den Prozess der Wissensgenerierung relevanten Episteme bedingt. Die Regulation von Begriffsbildungen erfolgt entlang eines neopositivistischen Settings, das Multiperspektivik gerade deshalb zur forschungslogischen Prämisse erklärt, weil dadurch „die grenzenlose und absolute Kritik mit der vollkommen garantierten Wirkungslosigkeit“ (Kiss 2011, 13 kursiv im Original) friktionsfrei in Einklang miteinander gebracht werden können. Die neoliberale Überführung neopositivistischer Prämissen in den Bereich der Erkenntnissphäre führt zur argumentativen Zernierung jener Ideologeme, die unter der Voraussetzung einer vermeintlichen Neutralisierung im Bereich der Wertsphäre die Dominanz des „neopositivistischen Neoliberalismus“ (ibid., 2) bewirken.[26] Infolge der bewussten Ausklammerung jener partialen Perspektive, die das Realitätsbewusstsein des Erkenntnissubjekts überhaupt erst hervorbringt, kann in der Postmoderne eine „virtuelle Ideologie“ distribuiert werden, die „nach einer Einübung in die Differenzlogik, die auch Missionierung genannt wird, wie von allein entsteht.“ (ibid., 15) Die diesem Prozess vorausgehende idealistische Annahme der Existenz von Objekten im Bewusstsein führt nicht etwa dazu, dass in Abgrenzung von der materialistisch konzeptionierten Weltauffassung Bewusstsein von oder über etwa entstehen kann; vielmehr führt dies zur Rehabilitierung der Annahme einer Erkennbarkeit jenes „Ding-an-sich-Charakters“ von Wirklichkeit, welcher historisch betrachtet immer dann beschworen wurde, wenn das Insistieren auf „das Unbewusste wie auch das strukturell Isomorphe im ursprünglichen Paradigma“ (Kiss 2011, 15) die selbstreflexive, kommunikativ hergestellte und standortgebundene Herkunft von Wissen nahe legte. Friedrich Engels zufolge kann Klassenbewusstsein jedoch auch in Absehung von adäquaten Instanzen der Vermittlung als jähe, unvorhersehbare und praxeologische Manifestation zu Tage treten. Um 1892 hatte Engels dafür eine allgemeinverständliche Metapher im Modus pragmatisch orientierten, proletarischen Denkens gefunden. Daraufhin befragt, ob mit der Erkenntnis der eigenen Klassenzugehörigkeit zwangsläufig die Herstellung eines Klassenbewusstseins einherginge, antwortete dieser, dass das Essen selbst der Beweis für die Existenz eines Puddings sei – „The proof of the pudding is in the eating. Man prüft den Pudding, indem man ihn isst.“ (Engels 1892, 296). Folgt man diesem dezenten Hinweis, dann zeigt Klassenbewusstsein sich heute auch dort, wo dieses dem modus operandi der dazugehörigen Metapher sich nur in versteckter Form präsentieren kann. Diese Annahme sollten wir zum Ausgangspunkt für eine Lesart von Kämpfen nehmen, die noch im Latenzbereich jenes Klassenbewusstseins ausgefochten wurden und werden, das im Zuge von Bankenkrisen im „Lumpenproletariat der Finanzaristokratie“[27] erneut einen unmittelbar greifbaren Antagonisten im Sinne einer besitzenden Klasse erhält. Mit dem zunehmenden Druck zum Offenlegen des Privateigentums der herrschenden Klasse verändert sich zunehmend auch das Wissen um eine vormalige „Unbewusstheit über die eigene gesellschaftlich-geschichtliche ökonomische Lage“ (Lukács 1920, 128) seitens der Subalternen; die multituda formidulosa findet statt und wird auch dann stattfinden, wenn ihre Repräsentation nicht Bestandteil von televisuellen Formen der Vermittlung ist. „The revolution will not be televised“ – yet. Wir wissen warum. BibliografieBeck, Ulrich (2000): Wohin führt der Weg, der mit dem Ende der Vollbeschäftigungs-gesellschaft beginnt? In: Die Zukunft von Arbeit und Demokratie 2000. Hrsg. v. 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Online unter http://www.youtube.com/watch?v=1bsH7caoJ1I&feature=related „Arno Dübel – Deutschlands frechster Arbeitsloser“ / Bild TV 2010. Online unter http://www.youtube.com/watch?v=sIE4hNDbHt4 [1] Lukács 1920, 138 [2] Ausspruch einer jungen Erwerbslosen gegen Ende von Slátan Dudows Film „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt“ (D 1932). [3] Einem diesbezüglichen Trugschluss ist ebenso Pierre Bourdieu aufgesessen, der ungeachtet des höheren Vulnerabilitätsrisikos im Bereich der unteren sozialen Schichten aus Gründen der höheren Mobilisierbarkeit politischer AktivistInnen davon sprach, dass Prekarität „überall sei“ und auch alle betreffen würde (vgl. Bourdieu 1998). [4] Zu diesem euphemistischen Bild exemplarisch Friebe/Lobo 2006, die mit „Wir nennen es Arbeit“ die kreationistische Vorstellung von einer sich aus autonomen WissensproduzentInnen rekrutierenden „digitalen Bohème“ forcierten. Die AktivistInnen der Euro-Mayday-Bewegung erkannten bereits sehr früh, dass es nur bedingt sinnvoll ist, von Luxusprekarisierten wie der „kreativen Klasse“, den „intellos précaires“ oder der „digitalen Bohème“ zu sprechen, vgl. diebszüglich das Manifest „Prekär, Prekarisierung, Prekariat. Bedeutungen, Fallen und Herausforderungen eines komplexen Begriffs und was das mit Migration zu tun hat“ des Frassantio-Netzwerks (2005). [5] Ein bemühter Versuch, den hochvermittelten Prozeß der Bewusstseinsbildung nicht reduktionistisch zu denken, findet sich bei Bourdieu (1998b), der in „Die feinen Unterschiede“ dennoch in alte Determinismen verfällt. [6] Die in diesem Absatz genannten Zahlen stammen aus Herrmann 2011, die sich auf aktuelle Erhebungen und Wochenberichte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bezieht. [7] Georg Seeßlen und Markus Metz (2011, ibid.) schreiben im Hinblick auf die klassenmäßige Verteilung von Arbeit: „Arbeit ist totale Unterwerfung, Arbeit ,da unten‘ ist nicht Teil des Diskurses der Produktivität, sondern Teil des Diskurses der Macht (und schon damit ist Arbeit hier Teil des Todes).“ [8] Implizites Ziel der idealtypischen Methode ist die Bildung eines geschlossenen Systems von Begriffen im Sinne einer endgültigen Gliederung von sozialer Wirklichkeit. Entlang einer vertikalen Skala werden „Idealtypen“ geschaffen, die infolge der Verdichtung und Zuspitzung von praxeologisch beobachtbaren Handlungs- und Verhaltensformen der Individuen kreiert werden. Das Ergebnis der typisierenden Verdichtung des Beobachteten, bei der Erkenntnisgenerierung vom Konkreten zum Abstrakten hin erfolgt, sind Max Weber zufolge Typologien, bei der ohne Rekurs auf Vorgefundenes Handlungsformen in begrifflicher Reinheit zu Tage befördern sollen. Die von Max Weber im Zusammenhang mit seiner Methode postulierte Prämisse einer „objektiven Wertfreiheit“ wissenschaftlicher Erkenntnis, die infolge einer gemutmassten „absoluten Heterogenität“ (Weber 1947, 1f.) von Werten und Tatsachen eingelöst werden soll, erscheint vor dem Hintergrund seiner Vorgehensweise indes höchst bedenklich. Der Idealtypus, verstanden als gedankliche Konstruktion zur Simplifizierung unüberblickbar gewordener Fakten, verdankt sich, wie Weber zugeben muss, einer „einseitigen Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte“ (Weber ebd.) und ist damit wohl kaum als „wertfreier“ Parameter der Wissensproduktion zu betrachten: Mit dem Weber’schen Postulat der Neutralität sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgenerierung gehen diametral entgegengesetzte Zuschreibungsprocederes einher, die Wertungen enthalten, welche bereits in den gewählten Bezeichnungen zum Ausdruck kommen. [9] Zur soziologischen Hypothese des „selbstverschuldeten Ausschlusses“ exemplarisch Bude/Lantermann 2006. [10] Pierre Bourdieu zeigt in seinen sozialen Analysen auf welche Weise ein rhetorischer Stil, eine bestimmte Mode oder eine ästhetische Eigenart als „strategisches Mittel zur Darstellung von Distinktion“ systematisch eingesetzt wird (Bourdieu 1987, 120) Der Effekt der Anwendung bestimmter Strategien der Distinktion wirkt sich zu Gunsten eines sozialen Benefits der Akteure aus (ebd. 50, 519, 528). Sogenannte Distinktionsgewinne, also spezifische Merkmale sozialer Unterscheidung, sind mit Anerkennungen ebenso verbunden wie diese als Riten der Zugehörigkeit und als diskursive Wiederholungsmechanismen zur Versicherung der eigenen Identität verstanden werden können (ibid. 346,440). [11] Max Weber zufolge legitimierte das moderne bürgerliche UnternehmerInnentum seine Stellung im „Bewußsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden“ (Weber [1904/05] 1996, 150). Der calvinistischen Prädestinationslehre und ihrem Dogma der Gnadenwahl liegen die Ursprünge dieser „Überbietung der innerweltlichen Sittlichkeit“ (ibid., 80) zu Grunde, auf deren ideengeschichtliche Entstehung aus Platzgründen hier leider nicht näher eingegangen werden kann. [12] Ebd. [13] Dieses Argument wird vor allem von neoliberalen Polit-Technokraten zur besseren Selbststeuerung forciert, exemplarisch Nolte 2004. [14] Ein Formenkatalog an rhetorischen Gemeinplätzen, durch die Reichtum zum Epiphänomen genetischer Dispositionen erklärt wird, findet sich exemplarisch in Sarrazin 2010. Intelligenzleistung, kulturelle Zugehörigkeit und ökonomische Prosperität werden darin in Bezug zueianander gesetzt und biologisch zum Zweck imperialer Vormachtsansprüche begründet. [15] Insbesondere die Selbstmord-Szene eines jungen Arbeiters in „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt“, der seine Uhr – das einzige, was er besitzt – ablegt, bevor er sich aus dem Fenster stüzt, wurde seitens der filmischen Zensurbehörde im Deutschland der 1930er Jahre auf Grund möglicher Nachahmungseffekte als bedenklich eingestuft und infolgedessen in der Endversion des Films zensiert. Realiter verhält es sich indes umgekehrt: Brecht, der am Drehbuch beteiligt war, nahm für die Szene, die mit dem kühlen Zwischentitel „Ein Arbeiter weniger“ überschrieben ist, das gehäufte empirische Vorkommen von Selbstmorden ehemaliger ArbeiterInnen, die nunmehr erwerbslos geworden waren, zum Vorbild. [16] „Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt“, D 1932, R: Slátan Dudow, 2. Drittel des Films. [17] Alfred Schmidt (1974, 452), der die unterschiedlichen Varianten innerhalb der marxistischen Erkenntnistheorie, zum Problem des „An-sich“ Stellung zu nehmen, nachzeichnet, wirft Lukács einen „fichteanisch überspannten“ Praxisbegriff vor, der infolge der Voraussetzung des totalen Verdinglichungszusammenhangs in der warenproduzierenden Gesellschaft nur mehr den Ausweg einer messianischen und damit manifest religiösen Erlösung zulässt. Ohne an dieser Stelle über eine daraus resultierende Verwandtschaft Lukács’ mit Benjamin zu spekulieren, sei an dieser Stelle nur darauf verwiesen, dass bei Lukács’ infolge des Prozesses fortschreitender Aneignung in der politischen Praxis und durch sie materielle Verhältnisse wiederum der Sphäre des Ideellen einverleibt werden. Infolgedessen wird der Trugschluss möglich, in Abkehr von der gramscianischen Position das Tätigsein im Sinne einer politischen Praxis zu Gunsten einer Illusion reinen Denkens suspendieren zu können. Schmidt zufolge gehört es zu den Defiziten der Lukács’schen Erkenntnistheorie, „den historischen Materialismus geradezu in einen – soziologisch‘ verkleideten – Erzeugnungs‘-Idealismus“ (Schmidt 1974, ibid.) zu verwandeln. [18] Mit Songs wie „Arbeitslos und Spaß dabei“ und Sprüchen wie: „Man soll sich doch so wenig Arbeit machen, wie’s nur geht“, avancierte Arno Dübel im Jahr 2010 zum prominentesten Erwerbslosen Deutschlands. In einschlägigen Talksshows sowie im Rahmen der Skandalisierung durch BILD wurde der Hamburger Fussballfan infolge wachsender Popularität durch dieselben Medien denunziert, die ihm anfänglich die Aufmerksamkeit eines Stars verliehen. Die dazugehörigen Darstellungen erschöpften sich in platten Einleitungen – „Dübel ist Kettenraucher, sitzt den ganzen Tag auf seinem Sofa und sieht fern“ – und kulminierten in tele-visionären Formen der Vermittlung im Rahmen des Sequels „Arno in der Welt der Werktätigen“. Mit Blick auf den zeitlichen Abstand in der Spannweite von Aufstieg und Fall vgl. „Der Fall Arno Dübel – Seit 30 Jahren arbeitslos“ im Talkformat „Menschen bei Maischberger“/ ARD (http://www.youtube.com/watch?v=pypwopo3BD0 ) und die Beschäftigungsmaßnahmen zu späterem Zeitpunkt durch die Medienmeute von RTL unter http://video.google.com/videoplay?docid=-1683994911592903656# [19] Der Hiatus zwischen Theorie, Empirie und Sozialpolitik manifestiert sich innerhalb der Sozialwissenschaften ebenso in der wissenschaftlichen Arbeitsteilung: Im Gegensatz zu „kapitalistischen Theorieunternehmern“ kommt den „proletarischen Hypothesentestern“ im Forschungsprozess die Aufgabe zu, in verifikatorischer Absicht Zahlen und Daten den Lücken einer großen Theorie zu supplementieren (Glaser/Strauss 1998, 20). [20] Dies ist darauf zurück zuführen, dass im sogenannten „postideologischen Zeitalter“ eine Renaissance der marxistisch besetzten Kategorie der sozialen Klasse ebenso wenig angebracht erscheint wie daraus erwachsende Antworten auf Fragen der Distributionsgerechtigkeit, die zumeist in den Zuständigkeitsbereich der Sozialpolitik verwiesen werden. Zum anderen ist dieser Umstand auf die ideologievermittelnde Funktion einer sich nicht länger als kritisch verstehenden Wissenschaft zurückzuführen, die auf Grund der Kriterien für die Vergabe von Fördermitteln Ergebnisse zu Gunsten der Plausibilisierung neoliberaler Argumentationsstrukturen modelliert. Einen symbolischen Ausdruck erhält dies unter anderem in Form von jenen positivistisch orientierten Methodenpostulaten, in denen die apodiktische Forderung nach einer theoriefreien und möglichst unvoreingenommenen tabula rasa-Haltung bei der Annäherung an den Forschungsgegentand forciert wird. Dies kulminiert in der wissenschaftstheoretischen Mystifizierung jenes fingierten Nullpunkts, von dem aus die ForscherIn einen Sachverhalt ex nihilo und folglich „ideologiefrei“, aber dennoch analog eines ebenso „ideologiefreien“ common sense, erfassen solle. Für diese Zugangsweisen stehen beispielsweise die wissenschaftstheoretischen Positionen der hermeneutischen Soziologie. Dort wird davon ausgegangen, dass theoretische Vorkenntnisse die Strukturierungsleistungen des Feldes verdecken anstatt ihrer wissenschaftlichen Entdeckung förderlich zu sein. (vgl. Schröer 1997) Gerade weil es jedoch keine unvoreingenommene Beobachtung des Sozialen geben kann, sind Wissensbestände stets so tief in die Praxis der Wissensgenerierung eingebettet, dass Wahrnehmung und die auf Theorie abzielende Interpretation von Daten im Idealfall nicht voneinander isolierbar ist. [21] Für die Kategorie Race im Kontext von räumlicher Exklusion und Ghettoisierung exemplarisch Wacquant 2007. [22] Ein richtungsweisender Versuch, Intersektionalität erneut in methodischer und theoretischer Hinsicht fruchtbar zu machen, findet sich in Hess, Sabine/Langreiter, Nikola/Timm, Elisabeth 2011 sowie im Kontext der Multitude-Diskussion von Osten 2007. [23] Im Gegensatz zur idealistischen Annahme, dass im Prozess der Erkenntnis die materiellen Dinge im Kopf des Erkennenden als Bilder sich vergegenwärtigten und infolge einer Kongruenz mit dem Angeschauten sich als wahr zu erkennen geben, geht Lukács von einem disruptiven Moment zwischen Wahrheit und Wirklichkeit im dialektischen Erkenntnisprozess aus. Zudem strapaziert dieser das Moment des Werdens. Die durch die historische MaterialistIn zu Tage beförderte Wahrheit besteht folglich nicht „in dem Auftreffen auf die Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist nicht, sie wird.“ (Lukács 1967b, 347) Mit diesem Werden geht die beständige Veränderung des ursprünglichen Erkenntnisgegenstandes einher. Lukács beschreibt den dazugehörigen Prozess des Erkennens als „keinen einmaliger Akt des Zerreißens seines Schleiers“, sondern als „ununterbrochenen Wechsel von Erstarrung, Widerspruch und Influßgeraten, dass dabei die wirkliche Wirklichkeit – die zur Bewusstheit erwachenden Entwicklungstendenzen – das Proletariat repräsentiert.“ (ibid., 341-342). [24] Postoperaistische AutorInnen wie Paulo Virno und Mauricio Lazzarato brachen am Vorabend von 1968 mit der Vorstellung einer orthodoxen Genese des Subjekts von Kämpfen und Konflikten aus dem Bereich der ökonomischen Basis. In der Multidude verflüchtigt sich die ArbeiterInnenklasse, die unter der historischen Bedingung der Objektivierung, d. h. der Univeralisierung des eigenen proletarischen Standpunktes zum Synonym für Klasse schlechthin wurde, im metaphysischen Substrat jenes general intellect, der die Diversität der Vielen und die Spaltungen, die die Individuuen durchziehen, Negri und Hardt zufolge repräsentieren soll. Unter Rückgriff auf das „Vorindividuelle“ versucht Virno, Individuen erneut als vergesellschaftete zu denken, diese und nicht etwa das Kollektiv werden infolgedessen zum Ausgangspunkt seiner Theorie (vgl. Virno 2007, 37ff.). Die AkteurInnen im Empire sind folglich nicht länger RepräsentantInnen einer Klasse mit dem dazugehörigen Bewusstsein, sondern Bestandteil eines begrifflich nicht distinkt bestimmten „Vorindividuellen“, das aus multiplen, in der Menge miteinander verbundenen Subjekten der Ausbeutung besteht. [25] Parallel dazu entstand im Bereich der Philosophie ein diffuser und unter dem Etikett der „Lebensphilosophie“ vermarkteter Korpus an Weltanschauungsliteratur, der in Verwerfung der Mühseligkeiten einer Hegelschen Dialektik das Unbehagen der deutschen Bourgeoisie kanalisieren sollte, die im preußischen Staat Bismarcks ihren Glauben an den unbegrenzten Aufstieg des Kapitalismus nicht ausreichend gespiegelt sah. (Vgl. Lukács 1983, 355f.) [26] Die Trennnung in disziplinäre Zuständigkeitsbereiche ist Endre Kiss zufolge ebenso eine Finte, um über den fundamental ideologischen Gehalt des Ganzen hinwegzutäuschen: „Weil aber die neuen Komplexe in ihrem imperialen Charakter bis zuletzt legitimatorische philosophische, sogar auch ebenso legitimatorische wissenschaftslogische Eigenschaften bewahren, geht ihnen das Philosophische für keinen Augenblick ab. Das Philosophische, das Politische und das Organisatorische erscheint in ihrem Fall in einer neuen und homogenen Einheit.“ (Kiss 2011, 10) [27] Marx, der mit der gehassten und ihrer politischen Wetterwendigkeit wegen gegeißelten Klasse des Lumpenprolerariats eine abwertende Bezeichnung für die Schicht, die sich aus den Abfällen der anderen ernährt und ihre einzigen Regelmäßigkeiten im Aufenthalt in Kneipenbesuchen und Brandtweinstuben hat, erfand, hatte dieser bei Benjamin (1939) als konspirative Bohème rekonfigurierten Schicht mit der Darstellung der Finanzaristokratie in „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“ immerhin ein gesellschaftlich nach oben gefahrenes Pendant gegenüber gestellt. Dort heisst es: „Die Finanzaristokratie, in ihrer Erwerbsweise wie in ihren Genüssen, ist nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Marx 1850, 126, Kursivierung im Original). |
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