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Stefan Junker: Märzrevolution 1920

Wenn von der gescheiterten Revolution in Deutschland die Rede ist, die vergessen wurde, so ist im Besonderen vom März 1920 zu reden, als mehrere Tausend Arbeiter sich bewaffneten und reaktionären Truppen der Reichswehr trotzten. Die meisten Darstellungen, die sich der deutschen Revolution widmen, lassen diese im Sommer 1919 enden. Dabei bilden die Ereignisse im März des darauffolgenden Jahres den Höhepunkt der revolutionären Bewegung in Deutschland. Bis heute. Im Gefolge eines Putsches und des von Reichsregierung proklamierten und wenig später von ihr verleugneten Generalstreiks kam es in vielen Gegenden zu bewaffneten Kämpfen gegen putschende Militärs, die sich im Ruhrgebiet zu einer revolutionären Erhebung entwickelten. Im Ruhrgebiet gelang den Arbeitern etwas, das ihnen 1919 nicht vergönnt war: sie besiegten reguläre Truppen der Reichswehr im offenen Kampf.[1] Innerhalb weniger Tage eroberten bewaffnete Arbeiter das gesamte Ruhrgebiet. Neugebildete Vollzugsräte beanspruchten alle öffentliche Gewalt und begannen sich zu vernetzen. Am 25. März gab sich die Bewegung in Essen eine organisatorische Spitze. Kennzeichnend für diese Bewegung ist, daß sich an den Kämpfen und in Räteorganisationen Arbeiter, weniger Arbeiterinnen[2] aller politischer Richtungen beteiligten: Mehrheitssozialdemokraten, Unabhängige, Kommunisten, Linkskommunisten, Syndikalisten und Anhänger der Unionen. Zeitzeugen, auch solche der Gegenseite, sprechen von 30.000 - 50.000 bewaffneten Arbeitern. Die Führer der Reichswehr wußten sich diese Bewegung nicht anders zu erklären, als ein von langer Hand vorbereiteter linker Putsch. Dabei stehen wir hier vor einem der vielen Beispiele der Dynamik proletarischer Selbstorganisationen, vor dem, was Marx meinte, als er schrieb: „die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts“.[3]

Wie ist es zu diesem Aufstand gekommen und was waren die Gründe seines Scheiterns?[4] Der Anfang läßt sich hier mit der Revolution im November 1918 setzen, als der deutsche Kaiser vertrieben wurde und sich, wie auch andernorts, in den Städten des Ruhrgebiets Arbeiter- und Soldatenräte bildeten. Doch wenige Wochen später, in einer politisch freieren Atmosphäre, begannen die Arbeitenden auf einer Verbesserung ihrer miserablen Lebensbedingungen zu bestehen. Die Bergarbeiter im Ruhrgebiet machten den Anfang. In den Streiks noch Ende dieses Jahres konnten sie bescheidene Erfolge erzielen. Dies bedeutete für sie zweierlei. Zuerst machten sie die Erfahrung, daß sie nach vier Jahren Kriegsdiktatur ihre Interessen gegen die Unternehmer durchsetzen konnten, wenn sie sich solidarisch verhielten. Dabei aber mußten sie andererseits die leidvolle Erfahrung machen, daß dieser Kampf auch gegen den Willen der Gewerkschaftsführung zu führen war. Diese hatte sich nämlich mit den Unternehmensorganisationen ins Einvernehmen gesetzt, um die Anerkennung als Verhandlungspartner zu erringen[5], wobei sie im Gegenzug die eine und die andere Errungenschaft der Streikenden wieder konterkarierte. Immerhin hatte der preußische Staat die Gewerkschaftsführung für ihr Wohlverhalten im Krieg belohnt, so konsultierte er sie in sozialpolitischen Fragen und der ein oder andere Gewerkschaftsführer brachte es auf eine nicht uninteressante Stelle in der unteren Verwaltung. Als neue Streiks erforderlich wurden, wie im Februar und April 1919, als die beginnende Inflation begann die Lohnerhöhungen unwirksam zu machen, setze die sozialdemokratisch dominierte Regierung kaiserliche Offiziere und Freiwilligenverbände gegen Streikende ein. Hier zeigte sich, daß es diesen Freikorps ein Leichtes war, die zersplitterten Streiks und Erhebungen nacheinander niederzuwerfen. Dies führte natürlich zu einer weiteren Entfremdung der Arbeiterschaft gegenüber der sozialdemokratischen geführten Reichsregierung.

Als im Januar 1920 die Reichsregierung das Betriebsrätegesetz verkündete, das übrigens als Vorbild für das heute in Deutschland geltende Betriebverfassungsgesetz gilt, demonstrierten in Berlin mehrere Tausend Menschen dagegen. Die Regierung ließ mit Maschinengewehren in die Menge schießen und verhängte überdies den Belagerungszustand über das ganze Reich. Mit dieser Verordnung übergab die republikanische Regierung die faktische Macht dem Militär. Alle Grundrechte waren bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Die vollziehende Gewalt ging auf den Reichswehrminister über, der sie auf einen Militärbefehlshaber übertragen konnte. Wer die Anordnungen des Reichswehrministers oder des Militärbefehlshabers übertrat, war mit Gefängnis oder Geldstrafe bedroht. Mit den neuen Befugnissen ausgestattet rückte General Watter, den die Ruhrarbeiterschaft bereits aus den Streiktagen des Frühjahrs 1919 kannte, ins Ruhrgebiet ein, um die Agitation für die 6-Stunden-Schicht im Bergbau zu bekämpfen. In Düsseldorf, Wesel und Essen wurden Kriegsgerichte errichtet, am 28.1. verboten Watter und sein Reichskommissar Carl Severing (SPD) die Bildung von Streikausschüssen und Streikposten. Erst diese Militärdiktatur ermöglichte die klare Frontstellung gegen die Arbeiterinteressen. Der Staat, hier in Gestalt des Militärs, stellt sich in den Dienst der Unternehmerprofite.

Die sich im Frühjahr bildenden Freikorps wurden zur Grundlage der neuen Reichswehr, und es lag in der Natur der Sache, daß diese sich auch gegenüber der Reichsregierung unabhängig machte, zumal sie die Grundlage der revolutionären Neugestaltung, die Arbeiter- und Soldatenräte sowie die Streikbewegungen bekämpfte. Der Versailler Vertrag sah eine massive Reduktion der Truppenstärke vor, was den noch in kaiserlicher Tradition behafteten Offizieren nicht genehm sein konnte. Erste Putschpläne tauchten bereits im Juli 1919 auf. Im März 1920 waren die Putschvorbereitungen fast vollendet, als der Putschistenführer Kapp sich ungeschickt in Zugzwang brachte und darum früher loszuschlagen war als geplant. Obwohl Reichswehrminister Noske (SPD) bestens über die Pläne vorgewarnt war, hatte er bis unmittelbar davor nichts unternommen. Erst als der Putsch seinen Anfang nahm gab Noske den Befehl, die Reichswehr solle das Regierungsgebäude schützen und die führenden Köpfe verhaften. Jetzt meuterte General v. Seekt mit dem Ausspruch: „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“. Das war genaugenommen Hochverrat. Die Reichsregierung wandte sich daraufhin an die zuvor von ihr malträtierten Arbeiter und erließ einen Generalstreiksaufruf, von dem sie sich bereits wenige Stunden später wieder distanzierte – und verdrückte sich nach Stuttgart. Auf den Putsch vom 13.3. antworteten Arbeiter, Arbeiterinnen und Angestellte Berlins mit Arbeitsniederlegungen, die sich am Montag, den 15. März zu einem Generalstreik ungeahnten Ausmaßes entwickelte. Bereits zwei Tage später zeigte sich in Berlin, daß der Putsch gescheitert war. Die Wucht des Generalstreiks und die bewaffneten Auseinandersetzungen vielerorts ließen mit dem Putsch sympathisierende Truppenteile im gesamten Reich schwankend werden. Mit dem Rücktritt der Putschistenführer Kapp und Lüttwitz am 17.3. war es nicht getan, es galt vielmehr Garantien zu schaffen, damit sich Ähnliches nicht wiederhole. Daran aber dachte die Reichsregierung als letztes, einzig Reichswehrminister Noske war nicht mehr tragbar und mußte seinen Hut nehmen. Noch auf der Flucht nach Stuttgart dachte sie darüber nach, wie sie die zuvor putschende Reichswehr gegen die Arbeiter einsetzen könnte, sollte der Streik über sein unmittelbares Ziel hinausgehen.

Wie verhielt es sich im Ruhrgebiet? Am 13. 3. hatten die Putschisten General Watter zum Befehlshaber des 6. Wehrkreises (Ruhrgebiet) ernannt. Seine Erklärung, wie er sich zum Putsch verhalten wolle, war sehr wankelmütig. Das Bekenntnis zu Neutralität und „Ruhe und Ordnung“ nach einem anscheinend gelungen Putsch, konnte im Ruhrgebiet nur als positive Parteinahme gedeutet werden. Interessant ist, daß die Unternehmer angesichts des Putsches, von der Vereinbarung mit den Gewerkschaften, die sie ein Jahr zuvor getroffen hatten, nun nichts mehr wissen wollten. Die Arbeiterschaft, von den Nachrichten über Truppenbewegungen offenkundiger Putschisten erregt, versammelte und organisierte sich erneut. In Polizeigebäuden oder auch andernorts wurden Waffen gefunden und mehr oder minder organisiert verteilt. Die Geschehnisse in verschieden Orten wie Hagen, Bochum, Witten aber auch in Elberfeld zeigen eine ähnliche Grundstruktur. Überall geht die Initiative zunächst von den Funktionären der Arbeiterorganisationen aus, die intern über die zu ergreifenden Maßnahmen beraten. Sie bilden den örtlichen Aktionsausschuß, ohne die Mitglieder oder die Belegschaften heranzuziehen. Die Arbeiter ihrerseits stellen, sobald sie die Betriebe verlassen haben, vor allem zwei Forderungen: Wir brauchen Waffen, um uns vor den Kräften der Reaktion am Ort zu schützen, und: Die politischen Gefangenen müssen freigelassen werden. Die Waffen werden nicht auf einen kommenden Kampf mit Watter verlangt, sondern nur, um die jeweilige Örtlichkeit gegen die Putschisten zu verteidigen. Beide Forderungen beschränken sich auf Unmittelbares und Konkretes. Dies ist interessant, denn es zeigt, daß erst durch die Kämpfe selbst diese über die lokalen Begrenztheiten hinausdrängen. Die ersten Kämpfe entwickelten sich. Werfen wir einen Blick auf die Stadt Wetter. Am 14.3. rücken 150 Mann in die Stadt und besetzen den Bahnhof. Während sich der kommandierende Hauptmann mit dem Bürgermeister unterhält, eilen Arbeiter aus dem Streikkomitee herbei, um mit den Soldaten zu sprechen. Als der Kommandant erklärt, auf Seiten Lüttwitzens zu stehen, ziehen sich die Arbeiter zurück. Der Kampf wird unvermeidlich. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer, über Telefon werden die Wetteraner gebeten, zu warten bis Verstärkung aus Hagen komme. Dort werden Autos und Straßenbahnen beschlagnahmt, um bewaffnete und unbewaffnete Arbeiter nach Wetter zu bringen. Ca. 1000 Arbeiter, teilweise bewaffnet, belagern den Bahnhof. Den erbitterten Nahkampf am Nachmittag entscheiden die Arbeiter für sich, der kommandierende Hauptmann wird durch einen Halsschuß getötet. Die Arbeiter stehen vor einer neuen Situation. Sie haben einen Sieg errungen und überdies Geschütze, Minenwerfer, Maschinengewehre und Transportmittel erbeutet. Ähnliche Kämpfe fanden in Herdecke und Kamen statt, bzw. zwei Tage später in Elberfeld. Der Kampf um Dortmund am 16. und 17. März ist ein Wendepunkt in der Entwicklung des Ruhraufstandes. Hier haben sich sozialdemokratische Führer zu Helfershelfern der Putschisten gemacht und erzwangen so den Kampf auch gegen die Sozialdemokratie. In Dortmund obsiegen die aus allen Vororten heranrückenden Arbeiter in hartnäckigen Kämpfen gegenüber 1500 – 2000 Freikorpsleute und Sipo[6]. Sie gelangen samt Kommandanten in Gewahrsam der Arbeiter. Am 18.3. wurde die Stadt Essen erobert und bis 21.3. fiel nahezu das gesamte Ruhrgebiet unter die Gewalt der Arbeitenden. Es ist erstaunlich, wie hier verstanden wurde, daß die Reichswehr nur erfolgreich bekämpft werden konnte, wenn sie verfolgt und ihr nachgestellt wurde. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Bewegung ausbreitete, ist atemberaubend. Daß hierbei auch Fehler gemacht wurden, ist verständlich.

Wo die Arbeiter Reichswehr und Sipo vertrieben haben, erfahren die Aktionsausschüsse einen außerordentlichen Machtzuwachs und benannten sich um in Vollzugsräte. Das ganze Ruhrgebiet fiel unter die Herrschaft der örtlichen Vollzugsräte, die sich am 25. 3. mit dem „Zentralrat“ in Essen eine organisatorische Spitze gaben. An die Stelle bürgerlicher Staatsmacht traten bewaffnete Arbeiter. Wobei zu unterscheiden ist zwischen denjenigen Arbeitern, die Reichswehr und Sipo verfolgten und den Arbeiterwehren oder Volkswehren, welche Polizeiaufgaben und andere öffentliche Funktionen übernahmen und den örtlichen Vollzugsräten unterstanden. Die Arbeiter erhielten, ähnlich wie die Roten Garden 1917 in Rußland, weiterhin ihre Löhnung aus den Unternehmen, in denen sie beschäftigt waren. Bei kleineren Betrieben wurde stellenweise die Stadtkasse belastet. Die alte Verwaltungsbürokratie blieb zwar im Allgemeinen im Amt, aber die respektvolle Ängstlichkeit von 1918/19 war einer stärkeren Kontrolle durch die Vollzugsräte gewichen. Gleich zu Beginn des Aufstandes wurden neue Betriebsräte gewählt, was aber nur dort durchführbar war, wo die politische Macht bereits in den Händen der Vollzugsräte lag. Dies zeigt, daß die Eroberung der politischen Macht die Voraussetzung für die Etablierung wirklicher Demokratie ist. Eine allgemeine Sozialisierung der Produktionsmittel konnte in dieser kurzen Zeitspanne nicht in Angriff genommen werden, wenngleich einige Belegschaften hier vorstellig wurden. So hatte sich die Familie Thyssen auf das linke Rheinufer, die „neutrale Zone“, geflüchtet. Die Leitung der Betriebe wurde von den Betriebsräten gestellt und zwar, wie Lucas schreibt, mit planvoller Überlegenheit. Für die Reife des Aufstandes spricht auch, daß die theatralischen Proklamationen von Räterepubliken – wie 1919 – bis auf eine Ausnahme unterblieben.

Aber bald schon zeigten sich die Grenzen des Aufstandes. Das Ruhrgebiet war auf Lebensmittel von außerhalb angewiesen und die von der Reichsregierung verhängte Blockade entfaltete ihre Wirkung. Außerdem mangelte es an Zahlungsmitteln, die Banken weigerten sich, Gelder zur Verfügung zu stellen bzw. die Reichsregierung die nötigen Devisen, um im Ausland Lebensmittel zu kaufen.

Inzwischen war die Reichsregierung wieder in Berlin eingetroffen und wollte zur Tagesordnung übergehen, weswegen sie auf ein Ende des Generalstreiks drängte, ohne aus ihrer fehlerhaften Politik den Militärs gegenüber Lehren zu ziehen. Am 17.3 bereits ernannte Ebert General v. Seekt, welcher am 13.3. die Anordnung Noskes, die Regierung zu schützen, verweigert hatte, zum Reichswehrchef und Nachfolger des Putschistengenerals v. Lüttwitz. Selbst die den Putsch tragende Brigade Ehrhard, deren Auflösung sogar von der Entente explizit verlangt wurde, blieb in Berlin und verwendete sich gegen Streikende. Am 19.3. wurde über Deutschland der verschärfte Ausnahmezustand verhängt, der genau besehen verfassungswidrig war. So lasen die Streikenden in Berlin neben der Aufforderung der Reichsregierung, den Generalstreik zu beenden, die Verkündung des verschärften Ausnahmezustands. Wie mußten sie das verstehen? In dieser außergewöhnlichen Situation machte Carl Legien, der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), den ungewöhnlichen Vorschlag an die Adresse der USPD, mit ihr zusammen eine neue Regierung zu bilden. Diese Regierung, wäre sie zustande gekommen, hätte sich wie diejenige der Putschisten in Konkurrenz zur Regierung Ebert-Scheidemann befunden. Aber in beiden Regierungen wären Mehrheitssozialdemokraten gesessen. Eine Zerreißprobe! Innerhalb der USPD wurde erbittert debattiert, ob man sich auf Gespräche einlassen solle oder nicht, und die Fronten gingen quer durch die Parteiflügel. Mit Sicherheit war es ein Fehler, Legiens Angebot, das zwar von selbstsüchtigen Interessen getrieben, aber nichtsdestoweniger ernst gemeint war, ohne weiterer Fühlung aus der Hand zu schlagen. Schließlich wird für den 23. 3. die Wiederaufnahme der Arbeit in Berlin beschlossen.

Da in anderen Regionen des Reiches der Generalstreik zum Teil bereits früher abgebrochen war, befand sich nun das Ruhrgebiet allein. In dieser Lage war an eine Ausweitung des Aufstandes nicht mehr zu denken, da nun auch mehr und mehr Truppen vor allem aus Süddeutschland an die Grenzen des Ruhrgebiets verlegt wurden. Verhandlungen lagen in der Luft. Bereits am 21.3. war eine Delegation ins Hauptquartier von Watter nach Münster gefahren, um Verhandlungsmöglichkeiten zu sondieren, aber der General stellte sich stur. Allerdings war es ihm bewußt, daß er am 22. 3. mit 17000 Gewehren die Aufstandsbewegung nicht niederwerfen konnte. Selbst Hagens bürgerlicher Oberbürgermeister Cuno und die berüchtigte „Frankfurter Zeitung“ mahnten eine Verhandlungslösung an. In dieser Situation lud der Kommissar der Reichsregierung Carl Severing (SPD) zu „Verhandlungen“ nach Bielefeld ein. Sein Ziel war es, die Aufständischen zu spalten. Daß ihm das gelang, hatte mehrere Gründe: In Bielefeld fanden sich um die 150 Personen ein, darunter viele Vollzugsräte, allerdings nicht alle und auch die meisten Kampfleiter fehlten. Fehler der Vollzugsräte war es, daß sie sich nicht vor der Konferenz verständigten. Schnell wäre ihnen bewußt geworden, daß die Frist von 24 Stunden für die Zusammenkunft zu kurz war. Aber auch auf der Konferenz haben sie sich nicht vorab koordiniert und verständigt. Hier wurde ein eigenartiges Waffenstillstandsabkommen geschlossen, das von dem Aufständischen gewisse Vorleistungen verlangte. Auch wurde nicht weiter geklärt, inwieweit Severing überhaupt für Watter zu sprechen befugt war, bzw. seine Unterschrift nicht eingefordert. Sträflicher noch war die Leichtfertigkeit, mit der die Arbeitervertreter in Bielefeld sich zu Sprechern der gesamten Aufstandsbewegung gemacht hatten. Nur wenige Vollzugsräte, die ja nach internen Beratungen der Parteispitzen besetzt wurden, waren bereit, den neu gewählten Betriebsräten zu weichen. Die Zeit war zu kurz gewesen, als daß sich Formen proletarischer Demokratie auch gegen die eigenen Arbeiterführer hätte durchsetzen und verwirklichen können. Und viele dieser Führer glaubten noch immer, die Arbeiter mit dem Dirigierstab, wie sich Rosa Luxemburg ausdrückte, führen zu müssen. Dies wurde spätestens offenbar, als viele kämpfende Arbeiter sich schlichtweg weigerten, diesen Bielefelder Beschluß anzuerkennen. In Bielefeld sprach die Aufstandsbewegung nicht mit einer Stimme und so konnte der folgenschwere Riß entstehen, der es der Bewegung nicht mehr gestattete, ohne Blutzoll aus dem Aufstand herauszukommen. An der östlichen Front, wo die Aussichtslosigkeit des Kampfes vielen Arbeitern bereits klar geworden war und die Kampfleiter zur Waffenabgabe aufriefen, begann sich die Front aufzulösen, noch ehe die Reichswehr vorrückte. Zu spät für Bielefeld kam, daß sich am 25.3. der Aufstand im Essener „Zentralrat“ eine Spitze gab. Ein weiterer Fehler war, wie sich Lucas ausdrückte, daß kein Zug- um- Zug- Abkommen ausgehandelt wurde, um Vertragsbrüche sofort feststellen zu können: ein Teil der Roten Armee zieht sich zurück, dann ein Teil der Reichswehr usw. Watter selbst fühlte sich an keinen Waffenstillstand oder an ein Abkommen gebunden. Mit den ersten Apriltagen rücken Reichswehrtruppen in das Ruhrgebiet vor und verbreiten Schrecken und Terror. Bezeichnend mag eine Postkarte sein, auf der sich Soldaten vor toten Rotarmisten in Positur legen. Viele Arbeiter und mit ihnen auch viele als Sanitäterin tätigen Arbeiterinnen flohen in das bergische Land oder die von den Alliierten besetzte „neutrale Zone“. Schlimmer aber als all dies ist das Schweigen, das über diese Ereignisse gelegt wurde. Wie schrecklich mußte es für die Überlebenden gewesen sein, später nie wirklich über diese Erfahrungen sprechen zu können. „An und für sich bin ich überrascht, daß sich nach dieser Zeitspanne noch Menschen finden, denen das damalige Geschehen etwas sagt.“ So schrieb ein Teilnehmer an E. Lucas[7]. Es liegt an uns, diese Erfahrungen wieder lebendig werden zu lassen und aus ihnen ohne Heroisierung und mit kritischem Verstand für die Zukunft zu lernen.

E-Mail: St.Junker@gmx.de


[1] Selbst Richard Löwenthal will diesen Gegenstand nicht übersehen: „Der sogenannte Ruhrkrieg im März und April 1920 unterscheidet sich von den zahllosen Erhebungen und Unruhen in der Frühzeit der Weimarer Republik zunächst einmal durch seinen Umfang: binnen weniger Tage entstand eine Arbeiterstreitmacht, deren Stärke auf dem Höhepunkt des Aufstandes (in der letzten Märzwoche) von den Zeitgenossen auf mehrere zehntausend Mann geschätzt wurde.“ So im Vorwort zu Eliasberg, George: Der Ruhrkrieg von 1920. Bonn, Neue Gesellschaft 1974.

[2] Frauen waren nur tätig im Sanitätswesen, nicht als Kombatantinnen. Selbst die Vollzugsräte hoben nach den Siegen die ungleiche Bezahlung zwischen Frauen und Männern nicht auf. Umso bewundernswerter ist die Opferbereitschaft der Frauen, auch ihre Spontaneität und Freiwilligkeit. Sicherlich kam es zu sexuellen Kontakten der beiden Geschlechter bei der Roten Armee. Ihre Anwesenheit erregte auch bei Führern der Roten Armee Unwillen. Hier zeigt sich erneut, wie sehr die Revolutionäre noch in alten Traditionen verhaftet waren. Der Stadtkommandant von Duisburg, Münzberg, äußerte sich offen antisexuell, er wolle Liebe an der Front mit dem Tode bestrafen. Lucas, Band II, 81ff. Aus diesem Grund verwende ich die männliche Form „Arbeiter“ vorwiegend, wenn auch von Männern die Rede ist, also von an der Front kämpfenden Arbeitern und nicht kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeitern.

[3] „Daß die Enttäuschung über Lassalles unselige Illusion eines sozialistischen Eingreifens einer preußischen Regierung kommen wird, ist über allen Zweifel erhaben. Die Logik der Dinge wird sprechen. Aber die Ehre der Arbeiterpartei erheischt, daß sie solche Trugbilder zurückweist, selbst bevor deren Hohlheit an der Erfahrung geplatzt ist. Die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts.“ Marx an Johann Baptist von Schweitzer am 13. Feb. 1865. In MEW 31, 445.

[4] Ich beziehe mich hier auf die großartige Darstellung des leider viel zu früh verstorbenen Erhard Lucas. Märzrevolution. 3 Bde. Frankfurt a.M., Roter Stern 1994, 1983, 1978. Es ist bezeichnend für die Historikerzunft in diesem Lande, daß Ulrich Kluge in seinem Werk über die deutsche Revolution, das beansprucht, einen Überblick über die Ereignisse zu geben, bei der Darstellung der Märzrevolution die 1000 Seiten umfassenden Bände von E. Lucas unerwähnt läßt. Kluge, Ulrich: Die deutsche Revolution 1918/1919. Frankfurt a.M., Surkamp 1985.

[5] Anfang 15. November trafen sich Carl Legien von der Gewerkschaftsführung und Hugo Stinnes, der für Unternehmerverbände sprach, und vereinbarten die sogenannte Zentralarbeitsgemeinschaft. Siehe hierzu auch Heinrich Neuhaus in Inprekorr Nr. 1/ 2011, 25.

[6] Sipo ist die Kurzform für Sicherheitspolizei.

[7] Lucas, Erhard: Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung. Frankfurt a.M., Stroemfeld/ Roter Stern 1983, 7.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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