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Thomas Seibert: Ontologie der Revolution.
Elf Thesen zum PRAXIS-Zirkel - heute

Der folgende Text basiert auf einem Vortrag für die Konferenz zur jugoslawischen PRAXIS-Philosophie, zu der die Rosa Luxemburg Stiftung in diesem Oktober nach Korcula geladen hatte. Auf dieser Insel vor der kroatischen Küste fanden zwischen 1963 und 1974 die berühmten „Sommerschulen“ der Zeitschrift „Praxis“ statt, deren erste Nummer 1964 und deren letzte Nummer ebenfalls 1974 erschien. Beide, die Zeitschrift wie die Sommerschule, waren eine eigentümlich jugoslawische – und mehr als eine jugoslawische Angelegenheit: sie waren ein zentraler Bezugspunkt der Möglichkeit einer emanzipatorischen Wende im damals noch real existierenden Sozialismus und damit zugleich Anhaltspunkt der globalen Revolten der 1960er und 1970er Jahre. Jugoslawien hielt sich gleichermaßen von Moskau wie von Peking fern und verpflichtete sich zumindest programmatisch auf ein Gesellschaftsexperiment, das im Auf- und Ausbau von „Arbeiterselbstverwaltung“ mit dem langandauernden Absterben des Staates ernst machen wollte. Um seinen „Dritten Weg“ auch theoretisch abzusichern, ließ der regierende Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BDKJ) einem Zirkel von Philosoph_innen und Soziolog_innen relativ freie Hand, die zu dieser Zeit an den Universitäten Belgrad, Zagreb und Ljubljana lehrten und ihre Positionen in der gleichnamigen Zeitschrift wie auf der alljährlichen Sommerschule zur nationalen und internationalen Debatte stellen durften.

Tatsächlich fand die auch in englischer Sprache publizierte Zeitschrift bald weltweit regelmäßige Leser_innen, zu den bis zu 250 Teilnehmer_innender Debatten im kleinen Kulturzentrum am Hafen Korculas gehörten u.a. Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Henri Lefebvre, Richard J. Bernstein, Shlomo Avineri und Agnes Heller. Der erste Grund dieser unerhörten Resonanz lag in der Aktualität der Sache selbst: der Mai 1968 war im Kommen, und die PRAXIS-Philosophie lag ganz im Trend des Ereignisses. Der zweite Grund war hausgemacht: Was anderswo „nur“ erst theoretisches Neuland war – die Bearbeitung der „Krise des Marxismus“ durch existenzial- und psychoanalytisch akzentuierte Bestimmungen des subjektiven Faktors aller Emanzipation – schien in Jugoslawien nah an gesamtgesellschaftlicher Erprobung und damit mehr als nur ein „philosophischer Entwurf“ zu sein.

Mit dem Ausbruch der globalen Mai-Revolten formiert sich auch in Jugoslawien eine linke studentische Opposition. Nach der Besetzung der Belgrader Universität im Juni 1968 gab der „Prager Frühling“ weiteren Auftrieb und verstetigte damit eine Bewegung, die bald auch auf die Betriebe übergriff und in der so genannten „Schwarzen Welle“ eine eigenständige Artikulation im Film und in der Literatur hervorbrachte. Als es 1971 erneut zu offenen Unruhen kam, schaltete der BDKJ endgültig auf Repression um. Da sich die PRAXIS-Philosoph_innen offen an den Protesten beteiligten und ihnen zugleich internationale Aufmerksamkeit verschufen, wurden Zeitschrift und Sommerschule 1974 verboten; im Januar 1975 verloren acht Mitglieder der Redaktion ihre Lehrstühle an der Belgrader Universität.

Sein eigenes Scheitern konnte der jugoslawische Realsozialismus damit nicht abwenden, im Gegenteil: das katastrophische Ende der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien quittierte nicht zuletzt die Unfähigkeit des Regimes, die Chancen zu nutzen, die sich ihm 1968 öffneten. Es gehört zum Elend des Zusammenbruchs, dass sich einzelne Mitglieder des PRAXIS-Zirkels – am prominentesten sicherlich der im Folgenden wiederholt zitierte Mihailo Marković und mit ihm Svetozar Stojanović – an der nationalistischen Regression beteiligten, in der das „jugoslawische Modell“ schon vor der militärischen und ökonomischen Intervention des Westens ausgelöscht wurde. Allerdings haben die wichtigsten PRAXIS-Philosophen, Gajo Petrovic und Milan Kangrga, durch ihre Stellungnahmen keinen Zweifel daran gelassen, dass diese Korruption nur im Bruch mit der eigenen Geschichte und dem Denken selbst möglich war.

Die Debatten der Korcula-Konferenz dieses Jahres nahmen beides in den Blick: das Scheitern und die unerfüllt gebliebenen Möglichkeiten einer mittlerweile abgeschlossenen Epoche. Die folgenden elf Thesen gehen der Frage nach, inwiefern das uneingelöste Versprechen radikaler Praxis auch heute noch als Möglichkeit zu fassen wäre, die zu erproben sich lohnt.

1.

Philosophie und Politik des PRAXIS-Zirkels sind für uns Geschichte geworden. Die Politik, sofern sie Teil der kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts war, die ihren Abbruch auch im Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien 1991 erfuhr. Die Philosophie, sofern sie Teil der langen „Krise des Marxismus“ war, die bekanntlich keine Lösung fand und deshalb ebenfalls nur in einem Abbruch endete. Doch sind mit diesen beiden Abbrüchen weder die politischen noch die philosophischen Kämpfe zu Ende gegangen, die sich in ihnen verdichtet haben. Deshalb stehen wir am Anfang des 21. Jahrhunderts längst im Neubeginn einer kommunistischen Bewegung und einer inmitten dieser Bewegung neu zu beginnenden Philosophie der Revolution.[1] Deshalb stehen unsere Politik und unsere Philosophie heute unter dem Titel des Postmarxismus, von dem Jacques Derrida sagt, dass er nur als eine „Radikalisierung des Marxismus“ verstanden werden kann, die als solche „immer an das verschuldet“ bleibt, „was von ihr radikalisiert wird.“ In dieser Radikalisierung kann es allerdings gerade nicht darum gehen, „noch weiter in die Tiefe der Radikalität, des Fundamentalen oder des Ursprünglichen (Ursache, Prinzip, arche) fortzuschreiten, noch einen Schritt mehr in dieselbe Richtung zu tun. Wir würden eher versuchen, uns dorthin zu begeben, wo das Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit, wie es immer noch die marxistische Kritik beherrscht, Fragen erfordert, wo es Formalisierungsverfahren und genealogische Interpretationen braucht, die in dem, was die sich marxistisch nennenden Diskurse beherrscht, nicht oder nicht hinreichend ins Werk gesetzt werden.“ (Derrida 1995: 149f.)

Diesen Fragen, Formalisierungen und Genealogien wird PRAXIS auch deshalb auszusetzen sein, weil es in der Befragung des „Schemas des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit“ um den transhistorischen Gründungsakt der Philosophie selbst und damit notwendig um den Punkt geht, von dem aus die Philosophie die Politik denkt und darin selbst politisch wird. Die außerordentliche Bedeutung von PRAXIS liegt darin, sich diesem Abenteuer der Dialektik vorab schon in fünf Zügen genähert zu haben:

(a) Sie richtete sich schon zu ihrer Zeit auf einen Neubeginn kommunistischer Bewegung und revolutionärer Philosophie aus.

(b) Sie folgte dabei einer Dialektik von Politik und Philosophie, die den Neubeginn kommunistischer Bewegung ausdrücklich zur Sache einer Philosophie erhob, die in diesem Neubeginn ihre eigene „Aufhebung“ finden und darin das Erbe Marx’ antreten sollte.

(c) Sie verstand diese Philosophie selbst schon als eine postmarxistische, in dem sie das „Denken von Marx“ kategorisch von den Marxismen der II. und III. Internationale, also von den Generallinien des „wissenschaftlichen Sozialismus“ unterschied.

(d) Sie vollzog diese Unterscheidung durch ihre Weigerung, das Paradox umstandslos hinzunehmen, von dem Michael Hardt und Toni Negri in einem der ersten Dokumente heutiger kommunistischer Bewegung festhalten, dass es „schon im Denken von Marx“ anzutreffen war: „das Paradox, die Befreiung der revolutionären Subjektivität einem ‚Prozess ohne Subjekt’ anzuvertrauen.“ (Hardt/Negri 1997: 17)

(e) Sie setzte sich den von Derrida eingeforderten Fragen, Formalisierungen und Genealogien nicht nur der Sache nach, sondern auch in programmatischer Ausdrücklichkeit aus, indem sie die postmarxistische Philosophie der Revolution als eine Ontologie der Revolution entwarf, die im „Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit“ erproben sollte, was Marx als Aufhebung der Entfremdung des menschlichen „Gattungswesens“ in den Blick nahm.

Bleibt anzumerken, dass das im Folgenden entfaltete Abenteuer der Dialektik zunächst wortwörtlich zu nehmen ist: als offene Folge von Rede und Widerrede in einer Phänomenologie des kommunistischen Neubeginns.

2.

Die von PRAXIS eröffnete Dialektik von Politik und Philosophie muss in ihrer Herkunft aus einer besonderen politischen Erfahrung verstanden werden: der Teilnahme nicht weniger der PRAXIS-Gründer am Partisanenkampf der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee einerseits und der folgenden Korruption der revolutionären Subjektivität vieler Militanter dieser Armee und ihrer Partei in der Herausbildung einer bürokratischen Staats- und Parteiherrschaft andererseits.[2] Aus dieser Erfahrung analysiert PRAXIS den inneren Zusammenhang der marxistischen These eines gesetzmäßig determinierten Geschichtsprozesses mit dem ethisch-politischen Voluntarismus bürokratischer Herrschaft. Den Kern dieses Zusammenhangs macht PRAXIS im Vorrang des „wissenschaftlichen Sozialismus“ auch vor seinem eigenen „subjektiven Faktor“ aus, mit dem viele Marxist_innen bzw. Kommunist_innen des 20. Jahrhunderts einem folgenschweren Missverständnis des Begriffs wie der Sache selbst der Subjektivität verfielen. Den logischen Grund dafür erkennt PRAXIS in dem Umstand, dass die Bestimmung der Subjektivität meist erst im „ideologischen“ Gegenzug zu den zuvor „wissenschaftlich“ ausgewiesenen objektiven Determinationsverhältnissen erfolgte; das beileibe nicht nur Marxist_innen zuzuschreibende Missverständnis selbst kann in Abwandlung einer berühmten Formel Michel Foucaults als „deterministisch-voluntaristische Dublette“ bezeichnet werden. (vgl. Foucault 1971: 384) Dabei ist im Begriff des Voluntarismus weniger die Bestimmung des Subjekts durch seine Bedürfnisse, seine Begierde oder Begehren und derart durch seinen Willen gemeint als vielmehr die Trennung dieses Willens von einer Vernunft, die im selben Zug auf die wissenschaftliche Positivierung von Determinationsverhältnissen reduziert wird.

3.

Dass PRAXIS die deterministisch-voluntaristische Dublette als notwendige Folge einer falschen Verwissenschaftlichung von Philosophie und Politik verstand, lässt sich der Polemik entnehmen, in der Gajo Petrović sogar der Kritischen Theorie vorwarf, die gemeinsam angestrebte Aufhebung der Philosophie mit einer „positivistischen Auflösung der Philosophie in die Wissenschaften“ verwechselt zu haben. (Petrović 1984: 3) Wenn Petrović die tatsächliche Aufhebung der Philosophie demgegenüber einem „wahren (wesentlichen) Denken“ vorbehält, „das die Revolution (nicht die Revolution im Sinne einer gesellschaftlichen Veränderung, sondern die Revolution im Sinn von wahrem Sein) zu denken imstande ist“, verortet er die Dublette im Sein selbst und entwirft ihre philosophische und politische Aufhebung als einen polit-ontologischen Prozess, in dem die politische Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit der ontologischen (Selbst-)Veränderung ihrer Subjektivierungspraktiken zusammenfällt.

4.

Natürlich beruft sich Petrović in dieser Polemik auf die Thesen zu Feuerbach, in denen Marx dem „bisherigen Materialismus“ ein grundlegendes Vergessen attestiert: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren.“ Das erste Vergessen schließt ein zweites ein, in dem vergessen wird, dass das „Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung“ selbst wieder „nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden“ kann. Marx zufolge artikuliert dieses Vergessen nicht weniger als den „Hauptmangel alles bisherigen Materialismus“, nach dem „der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt.“ (Marx/Engels 1969: 5-7)

Tatsächlich „sondieren“ im Bann dieses Vergessens und Versäumnisses nicht nur der Marx vorausgehende, sondern auch der Marx folgende Materialismus die Gesellschaft in „zwei Teile“: Beide spalten dabei das „theoretische Verhalten“ vom Ganzen der Praxis ab und liefern sich so der deterministisch-voluntaristischen Dublette aus (eine Operation, die ihre entschiedenste Fassung weniger in der Kritischen Theorie als vielmehr in Althussers „Sondierung“ der Wissenschaft von der Ideologie und der Subordination sowohl der Ideologie wie der Philosophie unter die Wissenschaft gefunden hat).[3] Gegen diese Mystifikation gleichermaßen der Wissenschaft wie der Ideologie und des vergessenen Zusammenhangs beider in der „menschlichen Praxis“ beharrt PRAXIS auf der strategischen Einsicht der Thesen über Feuerbach, nach der „alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis“ finden. Der entscheidende Punkt liegt dabei im Zirkel der Praxis und des „Begreifens dieser Praxis“, in dem „die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme“, zuerst und zuletzt „keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage“ ist. (Marx/Engels a.a.O.)

Eine solche praktische Frage ist dann aber auch die Frage nach dem Kommunismus als einer „Revolution im Sinn von wahrem Sein“, die PRAXIS immer wieder mit dem Marx-Zitat beantwortet, nach dem der Kommunismus „als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus“ sei: „wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, (…) wahrhafte Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ (Marx/Engels 1968: 536; zur Bedeutung dieser Marx-Passage für PRAXIS vgl. exemplarisch die Diskussion bei Petrović 1971: 211-224 bzw. 224-234)

5.

Die Emphase, mit der PRAXIS die „ontologische Einheit“ des Seins selbst im Sein der „menschlichen Praxis“ und damit im „Sein des Menschen“ finden wollte, ruft heute und für uns allerdings zunächst nur den „Zeitenabstand“ (Gadamer 1986: 303) auf, der uns von ihr trennt. In diesem Zeitenabstand gründen Derridas Vorbehalt gegen das „Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit“ wie Foucaults Auflösung der „ontologischen Einheit“ des Kollektivsingulars „Mensch“ in den Transzendentalien des Lebens, der Arbeit und der Sprache. Dabei fasst Foucault den berüchtigten „Tod des Menschen“ seinerseits in Frage-Form: „Wie kann der Mensch dieses Leben sein, dessen Netz, dessen Pulsieren, dessen verborgene Kraft unendlich die Erfahrung überschreiten, die ihm davon gegeben ist? Wie kann er jene Arbeit sein, deren Erfordernisse und Gesetze sich ihm als ein fremder Zwang auferlegen? Wie kann er das Subjekt einer Sprache sein, die seit Jahrtausenden ohne ihn gebildet worden ist, deren System ihm entgeht, (...) die er einen Augenblick durch seinen Diskurs aufblitzen lässt und innerhalb deren er von Anfang an sein Sprechen und sein Denken platzieren muss?“ (Foucault 1971: 390)

Liegt einerseits auf der Hand, dass PRAXIS diese Fragen nicht zureichend beantwortet hat, gilt doch zugleich, dass der fortwirkende Zeitenabstand „den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen“ lässt: „es werden nicht nur immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet, so dass der wahre Sinn aus allerlei Trübungen herausgefiltert wird, sondern es entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren.“ (Gadamer, a.a.O.)

6.

Ein solcher Sinnbezug kann in der noch lange nicht ausgedeuteten Übereinkunft gefunden werden, in der sich nicht nur PRAXIS, sondern auch Derrida, Foucault und der heutige Postmarxismus Hardt/Negris, Alain Badious und Slavoj Žižeks neben der Ontologie Marx’ auch auf die Heideggers beziehen.[4] Diese alle ihre Differenzen untereinander durchwirkende Übereinkunft eröffnet die Möglichkeit, den jeweiligen Zeitenabstand aufeinander im doppelten Blick auf Marx und Heidegger auszumessen. Letzterer bestimmt sein eigenes Verhältnis zu Marx im Brief über den Humanismus bekanntlich in der Auszeichnung, nach der Marx, „indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht“, deshalb in seiner „Anschauung von der Geschichte der übrigen Historie überlegen“ sei und die existenziale Ontologie dadurch zum „produktiven Gespräch mit dem Marxismus“ verpflichte. (Heidegger 1967: 340)

7.

Obwohl Heidegger selbst dieses Gespräch nirgendwo zureichend geführt hat, können wir im Blick auf PRAXIS und den Postmarxismus wenigstens drei Punkte wechselnder Übereinstimmung wie wechselnden Widerstreits nennen:

a.) PRAXIS und der Postmarxismus folgen Heidegger zunächst darin, Ontologie nicht als klassisch-metaphysische Seins- oder Wesenslehre, sondern als selbst post-metaphysische „Wiederholung der Frage nach dem Sinn von Sein“ (Heidegger 1984: 3) zu fassen. Wenn das „Sein“ in dieser „Seinsfrage“ primär als „Sinn“ entschlüsselt werden soll, folgt dies daraus, dass es vorab als der quasi-transzendentale Horizont der Welt-Erschlossenheit und damit als Horizont aller gesellschaftlichen Praxis verstanden wird. Im Stellen der Seinsfrage wird Ontologie bei Heidegger wie bei PRAXIS zu einer ent-grenzten Hermeneutik, die sich von Anfang an jenseits der Opposition von Wissenschaft und Ideologie platziert: ein Schritt, der im Postmarxismus im Prinzip nachvollzogen, wenn auch in unterschiedlich tiefgreifender Weise modifiziert wird. Ent-grenzt ist diese Hermeneutik insoweit, als es ihr nicht einfach um das Auslegen von Texten geht, sondern um das Auslegen dessen, was Heidegger und Marx je auf ihre Weise als „faktisches Leben“ fassen. Der ontologische Eigensinn dieser Hermeneutik liegt darin, die deterministisch-voluntaristische Dublette von Objekt und Subjekt in Konstellationen von Praxis und Welt aufzuheben, in denen menschliche Praxis immer schon menschliches In-der-Welt-sein ist: ein zugleich theoretisches wie praktisches Verhalten, das im Vollzug je einem „Sinn von Sein“ folgt. Ihr methodischer Eigensinn liegt dann darin, dass die ausdrücklich theoretische Auslegungstätigkeit der Ontologie zum kritischen Nachvollzug der alltäglichen Auslegungstätigkeit der Praxis selbst wird. Deren verschiedene Formen (Wissenschaft wie Ideologie und mit beiden Politik, Recht, Religion, Kultur, Technik, Architektur, Bildung, Medizin, Kunst, Sport, Mode, Lebensstile und -weisen etc.) werden dabei anthropo- bzw. existenzialontologisch als Formen verstanden, in denen diese Praxis sich je schon selbst versteht. Ihrem immanenten Ziel nach ist so verstandene Hermeneutik kritisches Sich-Verhalten zum alltäglichen Sich-zu-sich-Verhalten, dem es um die Aufhebung der eigenen Entfremdung geht: um eine „Revolution im Sinn von wahrem Sein.“

b.) Erkennt PRAXIS den Grund der deterministisch-voluntaristischen Dublette des „wissenschaftlichen Sozialismus“ wie der europäischen Wissenschaftsgeschichte überhaupt mit Marx in einem „Vergessen“ der emphatisch verstandenen „menschlichen Praxis“, so weitet sich dieses Vergessen mit Heidegger zur „Seinsvergessenheit“ aus, die ihrerseits überhaupt erst zur „Wiederholung der Frage nach dem Sinn von Sein“ nötigt. Von dieser Seinsvergessenheit sagt Heidegger, dass sie einerseits in den Ursprung der europäischen Wissenschaftsgeschichte zurückreicht und andererseits, vermittelt über die Verwissenschaftlichung und Durchtechnisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, das Alltagsleben wie die Verfassung entwickelter moderner Gesellschaften in quasi-transzendentaler Weise lenkt. Der Sache nach ist unter dieser Seinsvergessenheit die alle gesellschaftliche Praxis durchherrschende Verdinglichung (Objektivierung, Positivierung) des Seins in einem „höchsten“ und zugleich „allgemeinsten“ Seienden (Idee, Gott, Subjekt, Vernunft, Geist, Wille, Mensch) zu verstehen, im Bezug auf das der Staat die Vielheiten des Seienden durchzählt und zu einem geschlossenen Ganzen zu versammeln sucht. In der Folge solcher Seinsvergessenheit gerät die europäische Wissenschaftsgeschichte unter den Bann einer „Onto-theo-logie“, die sich in der wissenschaftlich-technischen Verdinglichung und Vernutzung der Welt vollendet: eine „Weltordnung“, die Heidegger „Gestell“, Foucault „Biomacht“ und Hardt/Negri „Empire“ nennen.

c.) PRAXIS und Heidegger trennen sich dann allerdings im konkreten Begriff der ontologisch (d.h. im Denken des Seins und im Sein selbst) aufzuhebenden Entfremdung. Richtet sich PRAXIS auf eine letztendliche Aufhebung der Entfremdung im Vollzug kommunistischer Bewegung aus, geht es Heidegger um die immer neu zu wiederholende Aufhebung einer sich immer neu und immer anders einstellenden Entfremdung. Dem entspricht, dass Heidegger die gesellschaftliche Praxis durch die (selbst wieder gesellschaftlich vermittelte) „Sorge um sich“ bestimmt, während PRAXIS umgekehrt die (je von einzelnen Subjekten zu vollziehende) „Sorge um sich“ durch die gesellschaftliche Praxis bestimmt. Derrida, Foucault, Badiou und Žižek folgen in diesem Punkt eher Heidegger, Hardt/Negri eher PRAXIS.

8.

Ein ähnliches Verhältnis von Widerspruch und Übereinkunft ergibt sich dann allerdings auch in der hier mit Derrida gestellten Frage eines „Schemas des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit.“ Stellte Heidegger seine Seinsfrage anfangs unter den missverständlichen Titel einer „Fundamental-Ontologie“, setzte er dieses „Schema“ in der Entfaltung der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem einer immer tiefgreifenderen Befragung aus. Dabei stieß er auf den auch für den gesamten Postmarxismus maßgeblichen Begriff einer Geschichtlichkeit, deren mögliche ontologische Einheit am Einbruch eines Ereignisses hängt und sich in der Augenblicklichkeit eines solchen Ereignisses sogleich wieder entzieht. Wenn der Begriff des Ereignisses PRAXIS fremd geblieben ist, liegt dies maßgeblich an einem Humanismusbegriff, den alle anderen Autoren so nicht teilen, weil sie ihn zumindest der Tendenz nach als selbst „onto-theo-logischen“ Begriff deuten. Es spricht zumindest für Ansätze einer selbstkritischen Einholung dieser Differenz, dass z.B. Mihailo Marković die größte Gefahr der PRAXIS in einem „abstrakten Humanismus“ und in der „Gefahr einer Kritik“ ausgemacht hat, „die keinen Sinn für die Geschichte hat und die alle Grundbegriffe (Mensch, menschliche Natur, Praxis, Freiheit, Entfremdung usw.) als apriorische, abstrakte Gemeinplätze behandelt, indem sie sie unmittelbar mit dem Bestehenden konfrontiert, statt sie durch besondere Bestimmungen der konkreten historischen Situation zu vermitteln.“ (Marković 1968: 12, vgl. ebd.: 160, wo PRAXIS selbstkritisch vorgeworfen wird, „bei den Kategorien des jungen Marx stehengeblieben zu sein.“)[5]

Allerdings heißt das nicht, sich in der von Althusser aufgestellten Opposition von Humanismus und Antihumanismus auf die Seite des zweiten Pols stellen zu müssen: wie überall, kommt es auch hier auf die dritte Möglichkeit an. Analog zum Begriff des Postmarxismus haben Hardt/Negri dazu den Begriff des Posthumanismus gebildet und sich dabei auf die weitreichende Relativierung der Rede vom „Tod des Menschen“ bezogen, die Foucault in der subjekthermeneutischen Kehre seiner späten Ontologie vorgenommen hat. (Hardt/Negri 2002: 104ff.; Foucault 2005: 700ff.) In dieser Linie wäre dann auch den untergründigen Korrespondenzen zwischen dem Humanismus der PRAXIS-Philosophie und dem Antihumanismus Deleuze/Guattaris nachzugehen: haben beide doch in der entschiedenen Zustimmung zu Marx’ spekulativem Ausgriff auf eine „wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen“ einen trotz allem gemeinsamen polit-ontologischen Fluchtpunkt (vgl. Deleuze/Guattari 1974).

9.

Mit einem so verstandenen Posthumanismus und insbesondere mit Badiou käme PRAXIS zuletzt darin überein, die jenseits von Wissenschaft und Ideologie platzierte Philosophie auf einen „Formalismus der Existenz“ zuzuspitzen. Badiou zufolge kommt in diesem (zugleich metaethischen wie metapolitischen) Formalismus auf den Punkt, dass „die Philosophie sich vornimmt, zu zeigen, dass es Formen der Existenz gibt, die kohärent und gerechtfertigt sind, und andere, die dies nicht sind. Die Frage des Universellen hat keinen anderen Sinn, als zu versuchen, durch singuläre diskursive Mittel einen Formalismus der Existenz zu definieren, der derart ist, dass man im Ausgang von ihm unterscheiden kann, was ein wirklich subjektives und erfülltes Leben ist, soweit es dies sein kann, und was ein Leben ist, das in der Animalität verharrt.“ (Badiou 2009: 18).

Allerdings: Gegen Badious abstrakte Opposition von Animalität und Subjektivität wäre die Unterscheidung des subjektiven und des animalischen Lebens in der Subjektivität selbst zu vollziehen, die sich dabei in ein animalisches und in ein in sich gespaltenes Leben spaltet. Es ist in dieser Hinsicht kein Zufall, dass sich der aktuell reifste Begriff dieser Spaltung des „faktischen Lebens“ in sich dann aber weder bei Foucault, noch bei Hardt/Negri und auch nicht bei Badiou, sondern bei Žižek findet, der sein eigenes theoretisches Projekt als Schüler der PRAXIS-Philosophie begann. Dabei hat Žižek die für PRAXIS noch kennzeichnende anthropologische Einhegung des Begriffs des subjektiven Seins überschritten und zugleich den Sinn für dessen abgründige Negativität gerettet, der von Foucault, Deleuze/Guattari, Hardt/Negri und Badiou je auf ihre Weise verfehlt wird. Gelungen ist ihm das, weil er die Weisung wörtlich zu nehmen wusste, die Marx in der ersten seiner Feuerbach-Thesen allen ihm folgenden Materialist_innen auf den Weg gab: dass ein zureichender Begriff der Praxis paradoxerweise den Rückgang auf die idealistische Spekulation einschließt – obwohl diese „die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche“ natürlich nicht kennt (vgl. hier These 4).[6]

10.

Im Rückblick auf PRAXIS sind abschließend die beiden Punkte zu nennen, in denen ihr noch heute eine unmittelbare ethisch-politische Aktualität zukommt. Der erste Punkt hat natürlich mit der jugoslawischen „Arbeiterselbstverwaltung“ zu tun und führt von dort auf den nicht zu unterschätzenden Umstand, dass sich die heutige kommunistische Bewegung – und das besonders in diesem Jahr (2011) – primär als Demokratisierungsbewegung formiert. Strategische Relevanz kommt dabei sowohl der im „jugoslawischen Modell“ leitenden Suche nach einer dritten Möglichkeit jenseits der Opposition von Markt und Plan wie der für PRAXIS leitenden Auffassung des „Absterbens des Staates“ als eines langfristigen und in sich notwendig konfliktiven Prozesses zu. Dabei greift die PRAXIS-Diskussion des Begriffs der „unmittelbaren Demokratie“ als einerseits eines theoretisch aufzulösenden „ideologischen Mythos“ und andererseits einer praktisch einzuholenden „Tendenz des historischen Fortschritts“ (Marković 1968: 146ff und passim) auf die Dialektik konstituierender und konstituierter Macht vor, in der aktuell die staatstheoretische Problematik der postmarxistischen Philosophie gründet (Hardt/Negri 2010: 125ff. und passim).[7]

11.

Der Demokratiefrage eng verbunden ist dann der zweite Punkt, der sich in der Frage nach dem Ethos der kommunistischen Militanten erschließt. Sie war die Ursprungsfrage des PRAXIS-Zirkels und wird aktuell vor allem von Hardt/Negri und Badiou gestellt (für PRAXIS vgl. exemplarisch Grlić 1969). Posthumanistisch wiederholt, führt diese Frage zunächst auf die Differenz des Marx’schen und des Heideggerschen Entfremdungsbegriffs zurück, die PRAXIS zu ihrer Zeit eindeutig im Sinne Marx’ beantwortete. Im Zeitenabstand auf ihr abgeschlossenes Abenteuer wie auf ihre Nachgeschichte im Zerfallsprozess Jugoslawiens ist dazu ein kritischer Selbstvorbehalt Markovićs aufzugreifen. In diesem Selbstvorbehalt macht er in der „modernen wissenschaftlichen und technischen Revolution, der Entdeckung der dunklen, irrationalen Seite der menschlichen Natur durch die Psychoanalyse, den anthropologischen Untersuchungen primitiver Kulturen, dem Surrealismus und anderen Richtungen der modernen Kunst und des modernen philosophischen Irrationalismus (der Lebens- und Existenzphilosophie) und schließlich der brutalen Erfahrung der Kriege und Konterrevolutionen unseres Jahrhunderts“ ebenso viele Motive einer „neuen kritischen Konzeption der dialektischen Rationalität“ aus, denen PRAXIS nicht gerecht geworden sei. (Marković 1968: 14) Um zum Schluss auf diesen Punkt zurückzukommen: Nach dem 20. Jahrhundert liegt der turning point einer solchen Konzeption dort, wo sich Marx infolge des „Hauptmangels alles bisherigen Materialismus“ behelfsweise an idealistische Bestimmungen der „tätigen Seite“ zurückverwiesen sah: in der Frage, wie sich das Individuum – und insbesondere die kommunistische Militante – zu dem „wirklichen individuellen Gemeinwesen“ machen kann, um sich so „sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art“ in einer Weise anzueignen, in der „Denken und Sein zwar unterschieden, doch zugleich in Einheit zueinander“ sein können. (Marx 1968: 539) Diese Frage führt nicht zufällig auf die Aufgabe einer kritischen Befragung des „Schemas des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit“ zurück, mit der wir hier angefangen haben. Eine Frage zugleich, die in keiner einfachen Antwort stillzustellen sein wird, weil das Schema selbst dabei in stets veränderter Weise aktiviert wird.

E-Mail: seibert@medico.de

Literatur:

Althusser, Louis 2011: Für Marx, Frankfurt am Main.

Axelos, Kostas 1966: Einführung in ein künftiges Denken. Marx und Heidegger, Tübingen

Badiou, Alain 1997: Manifest für die Philosophie, Wien

Badiou, Alain 2003: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien

Badiou, Alain 2009: Das Konzept des Modells. Einführung in eine materialistische Epistemologie der Mathematik, Wien

Castoriadis, Cornelius 1984: Gesellschaft als imaginäre Struktur. Eintwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main

Deleuze, Gilles/Guattari, Fèlix 1974: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1, Frankfurt am Main

Derrida, Jacques 1995: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main

Foucault, Michel 1971: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main

Foucault, Michel 2005: Was ist Aufklärung? In: Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main

Gadamer, Hans-Georg 1986: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen

Grlić, Danko 1969: Aktion und Kreation, in: Petrović, Gajo (Hg.) 1969: Revolutionäre Praxis, 174-191

Guattari, Félix/Negri, Toni 1985: Communists like us, New York

Heidegger, Martin 1984: Sein und Zeit, Tübingen

Hardt, Michael/Negri, Toni 1997: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin/Amsterdam

Hardt, Michael/Negri, Toni 2002: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main

Hardt, Michael/Negri, Toni 2010: Commonwealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt am Main

Heidegger, Martin 1967: Brief über den Humanismus. In: Wegmarken, Frankfurt am Main

Heidegger, Martin 1984: Sein und Zeit, Tübingen

Irigaray, Luce 1980: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt am Main

Kangrga, Milan 2004: Praxis Zeit Welt, Würzburg

Kanzleiter, Boris 2011: Die ‚Rote Universität’. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964-1975, Hamburg

Kojève, Alexandre 1975: Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main

Kosìk, Karel 1967: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankfurt am Main

Marcuse, Herbert 1968: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt am Main

Marcuse, Herbert/Schmidt, Alfred 1973: Existenzialistische Marx-Interpretation, Frankfurt am Main

Marx, Karl 1968: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844. In: Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband, 1. Teil, Berlin (DDR)

Marx, Karl 1969: Thesen über Feuerbach. In: Marx-Engels-Werke Band 3, Berlin (DDR)

Marković, Mihailo 1968: Dialektik der Praxis, Frankfurt am Main

Petrović, Gajo (Hg.) 1969: Revolutionäre Praxis, Freiburg i. Breisgau

Petrović, Gajo 1971: Philosophie und Revolution. Modelle für eine Marx-Interpretation. Mit Quellentexten, Reinbek bei Hamburg

Petrović, Gajo 1984: Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. In: Honneth, Axel/Wellmer, Albrecht (Hg.) 1986: Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York. Hier zitiert nach: http://www.praxisphilosophie.de/petrovor.pdf

Rancière, Jacques 2002: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main

Sartre, Jean-Paul 1964: Existenzialismus und Marxismus. Versuch einer Methodik, Reinbek bei Hamburg

Seibert, Thomas 2011: Potenzialitäten. Poststrukturalismus, Philosophie, Politik. In: Lorey, Isabell/Nigro, Roberto/Raunig, Gerald (Hg.) 2011: Inventionen, Zürich.

Unsichtbares Komitee 2007: Der kommende Aufstand, Hamburg

Žižek, Slavoj 2001: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main

Žižek, Slavoj 2002: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuch über Lenin, Frankfurt am Main


[1] Den Aufschlag machten Toni Negri und Félix Guattari schon 1985, indem sie in ihrem Manifest Communists like us Positionen des italienischen Operaismus und des französischen Poststrukturalismus zusammenführten (engl. Ausgabe New York 1990). Ihnen folgte 1989 Alain Badiou mit seinem Manifest für die Philosophie (dt. Ausgabe Wien 1997). 1993 dokumentiert Jacques Derridas Marx’ Gespenster die Parteinahme der französischen Dekonstruktion für den kommunistischen Neubeginn; 1995 gelingt es Jacques Rancières Das Unvernehmen, den philosophischen und politischen Einsatz zu erneuern, den Marx zu seiner Zeit im Begriff des Proletariats ausgespielt, doch im klassistischen Selbstmissverständnis zugleich wieder verdunkelt hatte. Den Durchbruch zum Bestseller schaffen Michael Hardt und wieder Toni Negri 2000 mit Empire (dt. Ausgabe Frankfurt am Main 2002). 2002 erscheint Slavoj Žižeks Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin und 2007 setzt das anonyme Unsichtbare Komitee mit Der kommende Aufstand einen ganz eigenen Punkt.

[2] Zu nennen sind hier wenigstens: Veljko Korać, Andrija Krešić, Mihailo Marković, Rudi Supek, Ljubomir Tadić und Predrag Vranicki; vgl. Petrović 1969: 275ff. Ich danke Manfred Lauermann für unser Gespräch zu dieser und einigen anderen Fragen.

[3] Ohne Althussers Problematik darauf reduzieren zu wollen, sei doch die Bemerkung Petrovićs angeführt, nach der es in ihr vor allem darum gehe, „den Stalinismus zu retten, und zwar dadurch, dass man ihm einen ‚gelehrteren’ und ‚westlicheren’ Anstrich gibt.“ (Petrović 1971: 26; vgl. dazu Althusser 2011). Von einer Subordination auch der Philosophie unter die Wissenschaft kann bei Althusser insofern gesprochen werden, als er ihr zwar das Richteramt im „Klassenkampf in der Theorie“ zuspricht, sie aber gerade dadurch der Wissenschaft nachordnet.

[4] Die verschlungene Geschichte des „Heideggermarxismus“ beginnt unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit mit Herbert Marcuses Entwurf einer marxistisch gewendeten Existenzialontologie (vgl. Marcuse/Schmidt 1973) und setzt sich später in der marxistischen Wende des französischen Existenzialismus (Sartre 1964), aber auch in enger bei Heidegger verbleibenden Philosophien u.a. von Kostas Axelos (1966) und Cornelius Castoriadis (1984) fort. Mit der Zusammenstellung von Marx und Heidegger verbindet schon Marcuse (1968) eine existenzialontologische Hegel-Lektüre, deren prominenteste Ausarbeitung sich bei Alexandre Kojève (1975) findet. Die Abkehr Derridas und Foucaults, aber auch Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris vom französischen Existenzialismus findet im Zug eines noch einmal vertieften Rückgangs auf Heidegger (und Nietzsche) statt, ähnliches geschieht im Feminismus etwa bei Luce Irigaray (1980). Im Vorfeld des Mai 1968 verbreiteten sich heideggermarxistische Positionen unter dissidenten kommunistischen Intellektuellen auch in der CSSR, in Polen und Rumänien, exemplarisch beim tschechischen Philosophen Karel Kosìk (1967). Für eine kurze Übersicht vgl. Philosophie Marx/Heidegger: Freiheit in Prag, Der Spiegel 11/1967.

[5] Dass der Begriff des Ereignisses PRAXIS fremd geblieben sei, gilt allerdings nur für die Positionen des Zirkels bis zu seinem Verbot 1974, nicht für das Buch, das als sein kollektives Vermächtnis gelesen werden muss: Milan Kangrgas Praxis Zeit Welt (Erstveröffentlichung 1984). Obwohl Kangrga dieses Buch während eines längeren Aufenthalts in Deutschland und in deutscher Sprache geschrieben hat, wurde es hier erst 2004 veröffentlicht.

[6] Vgl. Žižek 2001: 20f. und passim. Zur aktuellen Debatte des subjektiven Faktors vgl. meinen Aufsatz Potenzialitäten. Poststrukturalismus, Philosophie, Politik. In: Lorey u.a. 2011: 110-128.

[7] Die von Žižek a.a.O. aufgeworfene Frage, ob PRAXIS mit der kritisch-solidarischen Verpflichtung auf das „jugoslawische Modell“ einem im schlechten Sinn des Worts philosophischen Fehler verfiel, könnte erst dann beantwortet werden, wenn definitiv gesichert wäre, dass die anfängliche Bereitschaft von Teilen des BDKJ, die Revolte der Student_innen politisch anzuerkennen, in Wahrheit nur dem Ziel folgte, ihre Bewegung zu sabotieren. Da feststeht, dass die Partei fünf Tage nach Beginn der Revolte von niemand anderem als Marschall Tito selbst wieder „auf Kurs“ gebracht wurde, geht es dabei also um das Möglichkeitspotenzial eben dieser fünf Tage: in sich ein Beitrag zu den praktischen Implikationen des Begriffs wie der Sache selbst des Ereignisses. Vgl. dazu Kanzleiter 2011, besonders 189-300.

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ISSN 1814-3164 
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