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Philippe Kellermann:
Das Schwere, das schwer zu machen ist Die (vor allem) gegen den Marxismus in Form einer Frage gerichtete Kampfansage der Rivoluzione Sociale, Zeitschrift der italienischen Sektion der Ersten Internationale, wurde schon kurze Zeit später von Engels implizit für entschieden erklärt, als er seinen Artikel „Die Bakunisten an der Arbeit“, der sich mit den spanischen Aufständen 1873 beschäftigt, folgendermaßen beschließt: „In einem Wort, die Bakunisten in Spanien haben uns ein unübertreffliches Muster davon geliefert, wie man eine Revolution nicht machen muss.“ (Engels 1873: 493) Knapp fünfzig Jahre später „antwortet“ Peter Kropotkin in seinem Aufruf „An die Arbeiter der westlichen Welt“, die „Komissarokratie“ (Rudolf Rocker) der Bolschewiki vor Augen: „An Russland lernen wir, wie der Kommunismus nicht eingeführt werden kann“ (Kropotkin 1920: 284). Haben sich also sowohl die klassisch anarchistische, wie auch die marxistische Revolutionstheorie und ‑praxis historisch erledigt? Verbleiben wir einen Moment bei der ursprünglichen Auseinandersetzung beider Konzeptionen und hören wir, wie sie, aus anarchistischer Perspektive, beschrieben wurden: „Marx ist autoritärer und zentralistischer Kommunist“, heißt es bei Bakunin. „Er will, was wir wollen: den vollständigen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit, aber im Staate und durch die Staatsmacht, durch die Diktatur einer sehr starken und sozusagen despotischen provisorischen Regierung, das heißt durch die Negation der Freiheit. Sein ökonomisches Ideal ist der Staat als einziger Besitzer von Grund und Boden und jedem Kapital, das Land bebauend durch gut gezahlte und von seinen Ingenieuren geleitete landwirtschaftliche Assoziationen und mit dem Kapital alle industriellen und Handelsassoziationen kommanditierend. Wir wollen den gleichen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit durch die Abschaffung des Staates und von allem, was juridisches Recht genannt wird, und das nach unserer Ansicht die permanente Negation des menschlichen Rechts ist. Wir wollen den Wiederaufbau der Gesellschaft und die Konstituierung der Einheit der Menschheit nicht von oben nach unten, durch irgendwelche Autorität und durch sozialistische Beamte, Ingenieure und andere offizielle Gelehrte – sondern von unten nach oben, durch die freie Föderation der von dem Joch des Staates befreiten Arbeiterassoziationen aller Art.“ (Bakunin 1872a: 770f.) Man mag darüber streiten, inwieweit Bakunin, der sich hier deutlich am Manifest orientiert, die Marx’sche Konzeption insgesamt getroffen hat. Festzuhalten bleibt, dass damit die Theorie und Praxis der marxistischen Bewegungen, von der klassischen Sozialdemokratie bis hin zu den leninistischen Bewegungen – rätekommunistische Strömungen einmal ausgenommen – im Großen und Ganzen gut skizziert ist, wie im Übrigen auch deren mögliche Konsequenz erstaunlich prägnant vorweggenommen wurde.[2] Ich denke, dass eine solche Konzeption, von einem emanzipatorischen Standpunkt aus, kaum mehr ernsthaft vertreten werden kann, und erspare es mir deshalb an dieser Stelle, hier weiter darauf einzugehen. Wie aber steht es mit dem Anarchismus? Hat nicht auch dieser versagt? Manche sehen es so: „Die Tragik des Anarchismus war es fast immer, nur Minderheitenbewegung zu sein. Deshalb stand der Anarchismus nie wirklich auf dem Prüfstand (…). Das Ausnahmebeispiel der Spanischen Revolution (1936–1939) hat gezeigt, dass die theoretischen Postulate des Anarchismus durch die gesellschaftlichen Wirklichkeiten und Zwänge hinweggefegt wurden: In Zeiten von (Teil)Verwirklichungen des Anarchismus bricht dessen zeitbedingtes, oft über den gesellschaftlichen Realitäten schwebendes Theoriegebäude wie ein Kartenhaus zusammen.“ (Degen 1996: 107) Hatte sich nicht, mit Blick auf den Eintritt der CNT in die spanische Regierung während des Spanischen Bürgerkrieges, das schon von Engels kritisierte Resultat erneut eingestellt, das er 1873 folgendermaßen beschrieb: „Was war nun die Stellung der bakunistischen Internationalen in dieser ganzen Bewegung? Sie hatten ihr den Charakter der föderalistischen Zersplitterung geben helfen, sie hatten ihr Ideal der Anarchie, soweit es möglich war, verwirklicht. Dieselben Bakunisten, die in Cόrdoba wenige Monate vorher die Errichtung revolutionärer Regierungen für Verrat und Prellerei der Arbeiter erklärt hatten, sie saßen jetzt in allen revolutionären städtischen Regierungen Andalusiens – aber überall in der Minderzahl, so dass die Intransigenten tun konnten, was sie wollten.“ (Engels 1873: 485f.) Nun kann ich weder Degen völlig zustimmen, noch erkennen, dass Engels seinerzeit gegenüber dem Anarchismus eine – in ihren zu erwartenden Resultaten – emanzipatorisch-tragfähigere Konzeption anzubieten hatte.[3] Stattdessen möchte ich erstmal mit Guy Debord grundsätzlich festhalten, dass in Spanien unter der Leitung der AnarchistInnen „wirklich eine soziale Revolution“ stattgefunden hat, die den vielleicht immer noch „fortgeschrittensten Entwurf einer proletarischen Gewalt“ repräsentiert, „den es jemals gegeben hat“ (Debord 1967: 80). Um so ärgerlicher, wenn sich, bei aller berechtigten Kritik an einem „Mythos“ des Spanischen Bürgerkriegs, mittlerweile kaum mehr jemand an dessen Vorlauf, Verlauf, Ergebnissen und Scheitern abarbeitet und, davon ausgehend, mit der Frage der Revolution in der Gegenwart beschäftigt.[4] Ich möchte und kann hier keine Diskussion der Spanischen Revolution führen, auch soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass jene Bewegung eins zu eins, zu einem überhistorischen Revolutions-„Modell“ stilisiert werden soll. Vielmehr möchte ich nur auf einen meines Erachtens aber ganz zentralen Punkt aufmerksam machen, den die Spanische Revolution uns vor Augen führt. Dieser war auch für Karl Korsch ein entscheidender Grund dafür, dass er das „Studium dieser Bewegung, ihrer Konzepte und Methoden, ihrer Erfolge und Fehlschläge und die daraus folgende Erkenntnis ihrer Stärken und Schwächen (…) für den klassenbewussten und revolutionären Teil des internationalen Proletariats“ als „von dauernder Bedeutung“ erklärte (Korsch 1939: 119f.) – und folgendermaßen beschrieb: „Die für diese Aufgabe seit langen Jahren in einem unablässig erneuerten und von den großen Städten bis in die entlegensten Landwinkel hinausgetragenen unaufhörlichen Gespräch ausgiebig vorbereitete syndikalistische und anarchistische Arbeiterbewegung Spaniens wusste über ihre eigenen ökonomischen Ziele Bescheid und hatte über die ersten praktischen Schritte zur Erreichung dieser Ziele im Ganzen eine viel realistischere Vorstellung als sie die sogenannte ‚marxistische‘ Arbeiterbewegung im übrigen Europa in ähnlichen Situationen zeigte.“ (ebd.121)[5] Ähnlich Korsch, hat auch der spanische Libertäre Gaston Leval diesen Aspekt in Bezug auf die Konstitutionsphase der spanischen ArbeiterInnenbewegung und als deren bestimmenden Zug herausgestellt: „In dieser gesamten [anarchistischen] Presse werden die gleichen Ziele unaufhörlich zum Ausdruck gebracht. Während in anderen Ländern und in anderen Kampfperioden nur die Kritik, die bloßen unmittelbaren Forderungen, die Entlarvung der gesellschaftlichen Überstände – bis hin zu bloßen Schimpfereien – besonders in den Vordergrund gestellt wurden, werden hier immer wieder die Ziele und konstruktiven Ideen wiederholt.“ (Leval 1971: 27) Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass es mir unabdingbar erscheint, nicht nur ungefähr zu wissen, wohin man wie will, sondern auch zu realisieren, dass der Sozialismus „gelernt und geübt“ werden muss (Landauer 1915: 236), ein Punkt, auf den schon Bakunin verwies, wenn er die positive Rolle der Arbeiterassoziationen hervorhebt, in denen man lerne, „sich [zu] helfen“ und „gegenseitig [zu] unterstützen“ (Bakunin 1869: 136).[6] Im Übrigen eine Vorstellung von solidarischer Praxis, die sich auch in der Organisationsfrage niederschlug, was das sogenannte „Jurazirkular“ prägnant auf den Punkt bringt, wenn dort betont wird, dass eine „egalitäre und freie Gesellschaft“ „unmöglich“ aus einer „autoritären Organisation hervorgehen“ könne, deshalb dafür „Sorge“ getragen werden müsse, dass unsere Organisation „schon von jetzt an das treue Abbild unserer Grundsätze von Freiheit und Föderation“ werden müsse bzw. dass sich diese „so weit wie möglich“ diesem annähern (Guillaume 1871: 695). Es entbehrt jedenfalls nicht einer gewissen Ironie, wenn dem Anarchismus immer wieder eine völlig unklare Vorstellung darüber vorgeworfen wurde und wird, „was das Proletariat“ an die Stelle der Staatsmaschinerie setzen soll (Lenin 1917: 246) und was es überhaupt zu tun gilt. Im Gegenteil: Große Teile der anarchistischen Bewegungen haben gerade diese Probleme immer wieder fokussiert und hiervon ausgehend die zeitgenössische, vor allem marxistisch geprägte ArbeiterInnenbewegung kritisiert: „Die Arbeiter, und keine so wie die deutschen, haben wahrhaft irre geleitete und verwahrloste Köpfe. Weil ihre Besonnenheit und Nüchternheit so gar nicht ausgebildet sind, weil sie also gar kein eigenes, zuverlässiges Denken haben, darum erwarten sie alles von der Plötzlichkeit, vom unbekannten Augenblick, vom Wunder. Weil sie wahrhaft gar nicht daran denken, ihre Ideen Schritt für Schritt, Stein um Stein zu verwirklichen, darum gibt es nur zweierlei für sie: das wie ein träges Rinnsal fortschreitende Einerlei ihres gegenwärtigen erbärmlichen Zustands, ihre langsame Wirklichkeit, oder den fieberhaften Traum einer Augenblicksverwandlung, wo aus Nacht Licht, aus Schlamm Gold werden soll. So ist ihr ganzer Sozialismus: wie im Märchen kommt eins, zwei, drei hast du nicht gesehn, der Knüppel aus dem Sack oder der große Kladderadatsch, und dann im Handumdrehn das Tischlein deck dich und das Zauberland des Zukunftsstaats, wo sie selber die staatlich beaufsichtigten Esel sind, denen aus allen Öffnungen eitel Gold herausfällt!“ (Landauer 1911a: 271f.) Und Rudolf Rocker erklärt, das Scheitern der Novemberrevolution in Deutschland vor Augen: „Es war ein verhängnisvoller Fehler des Marxismus, jeden Versuch, Pläne und Richtlinien zur Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft zu entwerfen, als utopistisch abzutun, ein Fehler, für den die deutsche Arbeiterklasse am 9.November die Quittung bekommen hat. Man verließ sich darauf, dass der Sozialismus von selbst kommen würde, dass er dem kapitalistischen System entspringen müsse wie der göttliche Funke dem Haupte der Minerva.“ (Rocker 1919: 33) Diese Probleme leben fort, auch wenn die „Fantasie“ mit den bewegten Jahren um 1968 eine neue Stellung in den emanzipatorischen Bewegungen einzunehmen scheint. So erklärt Michel Foucault, selbst kurze Zeit zuvor noch „beinahe orthodox“ (Brieler 1998: 270) marxistisch gegen den Anarchisten Noam Chomsky argumentierend,[7] im Jahr 1978 : „Das Charakteristische unserer Generation – wahrscheinlich gilt dasselbe für die vorhergehende und die nachfolgende – ist der Mangel an politischer Einbildungskraft. Was bedeutet das? Beispielsweise besaßen die Menschen des 18. und des 19. Jahrhunderts zumindest die Fähigkeit, sich eine Zukunft der menschlichen Gesellschaft zu erträumen. Ihre Einbildungskraft blieb dieser Art von Fragen nichts schuldig: Was bedeutet es, als Mitglied dieser Gemeinschaft zu leben? Oder: Was sind die sozialen und menschlichen Beziehungen? Tatsächlich kann man von Rousseau bis zu Locke oder zu jenen, die man utopische Sozialisten nennt, sagen, dass in der Menschheit oder vielmehr in der westlichen Gesellschaft ein Überfluss von fruchtbaren Produkten der sozio-politischen Einbildungskraft vorhanden war. Wir können uns über die gegenwärtige Armseligkeit nur wundern. In diesem Sinne stehen wir in völligem Gegensatz zu den Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts. Trotzdem ist es möglich, die Vergangenheit durch eine Analyse der Gegenwart zu verstehen. Aber was die politische Einbildungskraft angeht, muss man erkennen, dass wir in einer sehr verarmten Welt leben. Wenn man sich fragt, wo dieser Mangel an Vorstellung auf der sozio-politischen Ebene des 20. Jahrhunderts herkommt, scheint mir trotz allem der Marxismus eine wichtige Rolle zu spielen. Deshalb beschäftige ich mit dem Marxismus. Sie werden also verstehen, dass die Frage: ‚Wie soll man mit dem Marxismus fertig werden?‘, die gewissermaßen als Leitfaden für die Frage diente, die Sie gestellt haben, für meine Überlegungen ebenfalls grundlegend ist. Eine Sache ist dabei bestimmend, nämlich dass der Marxismus zur Verarmung der politischen Einbildungskraft beigetragen hat und immer noch beiträgt.“ (Foucault 1978: 752f.)[8] Dies greift einen Punkt auf, den der bereits erwähnte Landauer schon Anfang des Jahrhunderts in seinem Aufruf zum Sozialismus erkennen zu können meinte, als er festhielt, dass „nie (…) leerer, trockener geträumt worden“ ist und dass, „wenn es je phantasielose Phantasten gegeben hat, (…) es die Marxisten“ seien (Landauer 1911b: 59). Mittlerweile hat sich das dogmatisch verordnete „Bilderverbot“ wohl aufgelockert. So heißt es im „Editorial“ der Zeitschrift Prokla, das das Schwerpunktheft zum Thema „Sozialismus?“ einleitet: „Es ist keine neue Erkenntnis, aber sie gilt weiterhin, dass die Theorie und die Praxis, die im Namen des Sozialismus stattfand der kritischen Untersuchung bedarf. (…) Sie ist (…) vielleicht noch dringlicher als die genaue Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Denn nur wenn im Vorgriff auf das zukünftige Emanzipationspotential deutlich wird, wie vermieden werden kann, dass sich von neuem autoritäre Kräfte durchsetzen, können die Individuen ihre Wünsche nach einem freien Leben und nach Gestaltung mit einer sozialistischen Zukunft verbinden. Nicht über diese Zukunft nachzudenken, hieße zu erwarten, dass sich der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft gleichsam automatisch vollzieht. (…) Manche halten jede modellhafte Konzeptionalisierung von Alternativen für im schlechten Sinne utopisch und plädieren dafür, die Klärung der Probleme einer sozialistischen Alternative der Zukunft zu überlassen. Bei einem linken ‚Bilderverbot‘ kann es freilich nicht bleiben, denn Mehrheiten für eine sozialistische Alternative können nur gewonnen werden, wenn deren Machbarkeit plausibel gemacht werden kann und von Vielen getragene Strategien der Transformation entwickelt werden. Dies gilt erst recht nach dem Scheitern des ‚real existierenden Sozialismus‘.“ (Redaktion 2009: 177) Meines Erachtens kann dem nur zugestimmt werden, und vielleicht ist es durchaus sinnvoll, den Akzent der Tätigkeit vor allem auf das eigene Schaffen zu legen. Nun präsentiert sich das „Bilderverbot“ oftmals mit anti-autoritärem Gestus und tatsächlich kann es kaum darum gehen, eine Zukunft vollständig zu antizipieren, sie damit in den mehr oder weniger engen Rahmen einer bestimmten, vorgefassten Idee zu zwängen. Aber die oftmals bekräftigte Differenz zwischen idealem System und antiautoritärem Exodus ist schief. Bakunin beispielsweise polemisierte heftig gegen alle Systemdenker, die er genau aus den eben angeführten Gründen als „Autoritäre“ brandmarkte (Bakunin 1868: 48), wusste aber zugleich, dass es nicht ausreicht, sich – wie er es selbst in seinen frühen Jahren tat – mit der Behauptung zu begnügen, dass das Werk der Zerstörung eine „schaffende Lust“ sei (Bakunin 1842, 96). So erklärte er auch die Niederlage der sozialistischen Bewegung in der 1848er-Revolution wie folgt: „Der Sozialismus verlor diese erste Schlacht aus einem sehr einfachen Grund: Er war reich an Instinkten und subversiven Ideen (…). Aber es fehlte ihm noch völlig an aufbauenden und praktischen Ideen, die notwendig gewesen wären, um auf den Ruinen des bürgerlichen Systems ein neues System zu errichten: das der Gerechtigkeit des Volkes.“ (Bakunin 1868: 54) Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang auch einmal sinnvoll, sich die Resultate einer vermeintlich alles negierenden Haltung anzusehen. Nehmen wir die schon erwähnte Foucault/Chomsky-Debatte und sehen uns an, wohin die scheinbare Radikalität Foucaults führt, wenn er meint: „Im Gegensatz zu dem, was Sie denken, können Sie mich nicht daran hindern zu glauben, dass diese Begriffe der menschlichen Natur, der Gerechtigkeit, der Verwirklichung des Wesens des Menschen Vorstellungen und Begriffe sind, die in unserer Kultur, in unserem Typ von Erkenntnis, in unserer Form von Philosophie gebildet wurden, und dass folglich diese Begriffe zu unserem Klassensystem gehören und dass man, wie bedauerlich das auch sein mag, diese Begriffe nicht geltend machen kann, um einen Kampf zu beschreiben oder zu rechtfertigen, der die eigentlichen Grundlagen unserer Gesellschaft umstürzen sollte bzw. im Prinzip umstürzen muss.“ (Foucault 1971: 630) Das hört sich radikal an, worin aber besteht der Ausweg aus dieser hermetischen Konstruktion? Foucault erklärt: „Wenn das Proletariat die Macht übernehmen wird, kann es sein, dass es gegenüber den Klassen, über die es gesiegt hat, eine diktatorische und sogar blutige Gewalt ausübt. Ich sehe nicht, welchen Einwand man dagegen erheben kann.“ (ebd. 626) Gerade in diesem Bezug auf die „Diktatur“ erweist sich Foucault selbst als völlig in einer bürgerlichen Konzeption von Politik befangen: „Der Gedanke der Diktatur ist“, so Rudolf Rocker, „nicht der sozialistischen Ideenwelt entsprungen. Er ist kein Ergebnis der Arbeiterbewegung, sondern eine verhängnisvolle Erbschaft der Bourgeoisie, mit der man das Proletariat beglückt hat.“ (Rocker 1921: 106) Als zweites Beispiel kann auf die Ausführungen Paul Pops verwiesen werden, der sich in den Grundrissen schon vor einiger Zeit mit dem Verhältnis von Anarchismus und Marxismus auseinandergesetzt hat. „Sicher“, so nämlich Pop dort, „haben Marx und Engels“ in ihrer Polemik gegen das Jurazirkular „Recht, dass es unmöglich ist, eine Organisation im Kapitalismus nach dem Ebenbild der kommunistischen Gesellschaft zu bilden. Die Menschen, die in ihr arbeiten, sind auch als RevolutionärInnen von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt. Außerdem wissen wir nicht im Detail, wie eine nachkapitalistische Gesellschaft aussehen wird.“ (Pop 2005: 40) Nun schreibt das Jurazirkular ja vom Versuch einer Annäherung, was soll man auch anderes machen? Und dass wir „im Detail“ nicht wissen können, wie „eine nachkapitalistische Gesellschaft aussehen wird“, hilft uns heute auch nicht weiter, außer man zieht daraus – wie Marx und Engels – den Schluss, dass man sich dann eben organisieren könne, wie man wolle. Und was das von Pop zu Recht aufgeworfene Problem nach der Prägekraft der bürgerlichen Gesellschaft angeht, hat diese Frage mit der Marx’/Engels’schen Polemik überhaupt nichts zu tun, sondern wurde vielmehr gerade von den Jurassiern und deren „Verbündeten“ aufgeworfen. So schreibt beispielsweise André Léo in ihrem Artikel „Der Geist der Internationale“: „[E]s gibt derzeit unter den Menschen einen solchen starken Drang, diesem Weg zu folgen, dem von Tradition, Erziehung und Gewohnheit, dass man nicht merkt, wohin man geht und auf welchem Irrweg man sich befindet. Wir beginnen gerade erst zu verstehen, dass die wahre Einheit der nicht im Verschwinden aller zugunsten eines Einzelnen besteht, seltsame Arithmetik, verhängnisvoller Köder, der die Menschheit seit so vielen Jahrhunderten narrt! (…) Die neue Einheit ist nicht die Einheitlichkeit, sondern ihr Gegenteil; die Entfaltung aller Initiativen, aller Freiheiten, aller Vorstellungen, verbunden allein durch die Tatsache ihrer Wesensgleichheit, die ihr gemeinsames Interesse erzeugt, in dem, von sich aus und auf verschiedenen Wegen, und wären es Umwege, die freien Kräfte zusammenströmen.“ (Léo 1871: 687)[9] Pop bleibt dann an dieser Stelle auch selbst etwas unklar, wenn er nebenbei erwähnt: „Im Kampf gegen den Kapitalismus kann es unter Umständen nicht immer möglich sein, autoritäre Strukturen, Geheimhaltung und Konspirativität zu vermeiden.“ (Pop 2005:40) Festzuhalten bleibt, dass es – gerade auch um die Einbrüche des Autoritären in den Befreiungsprozess zu vermeiden – darum geht, in „großen Linien“ eine „neue[.] Gesellschaftsordnung“ zu antizipieren (Schwitzguébel 1880: 213), die es gerade auch ermöglichen wird, eine freie Entfaltung des Gemeinwesens hin ins Offene zu gewährleisten und zu sichern, also ein „System von Institutionen und Funktionsmechanismen (…), das die Entfaltung des Massenengagements ermöglicht und begünstigt und dazu alles aus dem Weg räumt, was dieses Engagement behindert oder blockiert“ (Castoriadis 1957: 103). Wobei eben stets präsent bleiben muss: „Wenn es um die Zukunft geht, sind wir mehr noch als in allen anderen Dingen Gegner absoluter Festlegungen. Deshalb müssen wir begreifen, dass die wahre Konzeption die der historischen Erfahrung ist.“ (Schwitzguébel 1880: 213) Der Schlüsselbegriff für diesen Prozess muss daher der der „Freiheit“ sein, so phrasenhaft sich das auch anhören mag. Dies gilt meines Erachtens im Übrigen auch für die ökonomische Ausrichtung der Gesellschaft. Der italienische Anarchist Malatesta hat dies wie folgt erläutert: „Ich bezeichne mich als Kommunisten [im Sinne von kommunistischer Anarchist], weil der Kommunismus mir als das Ideal erscheint, dem die Menschheit sich in dem Maße annähern wird, wie die Liebe unter den Menschen und der Überfluss in der Produktion sie von der Angst vor dem Hunger befreien und so das hauptsächliche Hindernis für ihre Verbrüderung zerstören werden.“ Für die Frage der revolutionären Periode allerdings gelte: „Welche Formen werden Produktion und Handel annehmen? Wird der Kommunismus (assoziierte Produktion und freier Konsum für alle), der Kollektivismus (gemeinsame Produktion und Verteilung der Produkte entsprechend der Arbeit eines jeden) oder der Individualismus (jedem individuellen Besitz der Produktionsmittel und Genuss des vollständigen Produkts der eigenen Arbeit) den Sieg davon tragen oder aber werden sich andere, kombinierte Formen durchsetzen, die individuelles Interesse und gesellschaftliches Bedürfnis auf Erfahrung gestützt nahelegen können? Wahrscheinlich werden alle möglichen Formen des Eigentums und der Nutzung der Produktionsmittel und alle Möglichkeiten der Verteilung der Produkte gleichzeitig an einem oder an verschiedenen Orten erprobt werden, sich miteinander verflechten und vermischen, bis die Praxis gelehrt haben wird, welche die beste oder die besten Formen sind. (…) Man kann dem Kommunismus, dem Individualismus, dem Kollektivismus oder irgendeinem anderen vorstellbaren System den Vorzug geben und mit Propaganda und beispielhaften Taten für den Sieg der eigenen Vorstellungen arbeiten; doch hüte man sich bei Strafe der sicheren Katastrophe vor der Anmaßung, dass das eigene System das einzig mögliche und unfehlbar sei (…) dem anders als mit der aus der tatsächlichen Erfahrung heraus entstehenden Überzeugung zum Sieg verhelfen werden soll. Der wichtige, unabdingbare Ausgangspunkt muss sein, allen die Mittel zu garantieren, frei zu sein.“ (Malatesta zit. n. Fabbri 1951: 18f.) An diese Haltung, die sich in gewisser Weise im Verlauf der Spanischen Revolution durchaus bewährt hat[10] – im Gegensatz zu den gewaltsam vereinheitlichenden ökonomischen Konzepten der Bolschewiki –, scheint es mir, gilt es anzuknüpfen, und es ist schade, wenn Torsten Bewernitz in den Grundrissen eine „Renaissance des libertären Kommunismus“ anscheinend nur unter der Bedingung zulassen möchte, dass man sich die völlige Dummheit des historischen Anarchismus eingesteht und zur Kenntnis nimmt, dass, die „ökonomischen Konzepte Proudhons und Bakunins zu Ende gedacht“ uns zu „einem Neoliberalismus“ führen würden, „der an sozialer Ungerechtigkeit den aktuellen Zustand bei weitem übertreffen würde“ (Bewernitz 2007: 24).[11] In einem Interview, dass der „Neue Philosoph“ Bernard-Henry Lévy mit Foucault im Jahre 1977 geführt hat, findet sich folgender Passus: „In der Wiederkehr der Revolution“, meint dort Foucault, „liegt unser Problem. Es ist gewiss, dass ohne dieses Problem die Frage des Stalinismus nur eine Schulfrage wäre – ein einfaches Problem der Organisation von Gesellschaften oder der Gültigkeit des marxistischen Schemas. Nun geht es beim Stalinismus allerdings um etwas anderes. Sie wissen das genau: Die Wünschbarkeit selbst der Revolution wird heute zum Problem … – Wünschen Sie die Revolution? Wünschen Sie etwas, das über die einfache, ethische Pflicht, hier und jetzt, auf Seiten dieser oder jener, Wahnsinniger oder Gefangener, Unterdrückter und Elender, zu kämpfen hinausgeht? – Ich habe keine Antwort darauf. Aber ich glaube, wenn Sie so möchten, dass anders Politik machen als in der Weise der Politiker heißt zu versuchen, mit größtmöglicher Ehrlichkeit in Erfahrung zu bringen, ob die Revolution wünschbar ist.“ (Foucault 1977: 350) Ist nun aber die Revolution wünschenswert? Man könnte Foucault den Vorwurf machen, sich einseitig an der bolschewistischen als Negativbeispiel auszurichten und dagegen z. B. das Beispiel Spaniens anführen. Wer beispielsweise das Buch Gaston Levals über Das libertäre Spanien gelesen hat, dürfte von den erstaunlichen Leistungen im Zuge der Kollektivierungen während der Spanischen Revolution beeindruckt sein, und man kann nach der Lektüre den Mann verstehen, den Leval zu Beginn seiner Ausführungen folgendermaßen zitiert (und kommentiert): „‚Jetzt kann ich sterben, ich habe gesehen, wie mein Ideal verwirklicht worden ist.‘ So sprach zu mir in einer der Kollektivitäten der levantinischen Gegend (…) einer dieser Männer, die ihr ganzes Leben lang für den Sieg der sozialen Gerechtigkeit, der wirtschaftlichen Gleichheit, der Freiheit und der Brüderlichkeit unter den Menschen gekämpft hatten.“ (Leval 1971: 17) Auch der Erlebnisbericht Kaminskis, selbst kein Anarchist, aber mit diesen sympathisierend, über ein Gefängnis der politischen Polizei, der mehrheitlich AnarchistInnen angehörten, bringt einen zum Staunen: „Ich begebe mich nicht allein in die Höhle des Löwen. Emma Goldman, die mit dem Franzosen Sébastien Faure und dem Deutschen Rudolf Rocker zu den bekanntesten Veteranen der anarchistischen Internationale gehört, begleitet mich. Emma Goldman ist in Russland geboren, hat die meiste Zeit ihres Lebens in den Vereinigten Staaten gelebt, wohnt in Frankreich und ist britische Staatsangehörige. Über alles, was die Polizei betrifft, ist mit ihr nicht zu spaßen. Sie ist sechzig- oder siebzigmal verhaftet worden und weiß genau, was Gefängnisse sind, denn sie war jahrelang in den verschiedensten Gefängnissen eingesperrt. Sie erhält ohne Schwierigkeiten die Adresse der Investigación, die sich unerkannt und geheimnisvoll in einer Vorstadtvilla [von Barcelona] eingerichtet hat. (…) – Die Investigación – sagt man uns – gibt keine Interviews. Wir sind eine anonyme Institution, als Personen sind wir unwichtig, und es gibt nichts zu sagen. Aber vor Emma Goldman und ihren Freunden haben wir keine Geheimnisse. Was wollen Sie wissen? Ich wage kaum, Emma Goldman anzusehen. Ich weiß, sie denkt das gleiche wie ich: Sind diese Männer, die nur Institution sein wollen, bescheiden oder unmenschlich? (…) Behandeln Sie die Gefangenen wirklich gut? (…) Sie können mit den Gefangenen sprechen, wir wollen bei ihrer Unterhaltung nicht einmal dabei sein. Einige von ihnen sind Ausländer, uns ist es gleich, in welcher Sie mit ihnen reden. Hier sind die Protokolle, Sie können sie lesen und nachprüfen. Sie haben also ein Spezialgefängnis? Sie werden es sehen. (…) Nach wenigen Schritten sehen wir die Rückseite des Gefängnisses, die Fenster sind zwar verriegelt, jedoch ganz gewöhnliche Fenster; als wir um das Haus herum sind, stellen wir fest, dass das Gefängnis einfach eine benachbarte Villa ist. Es gibt keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen, nicht einmal Wachtposten. Nur die Tür ist abgeschlossen, und am Eingang des Parks stehen Milizsoldaten. Man öffnet uns: In der Eingangshalle sitzen mehrere Männer und Frauen an einem Tisch. Zuerst halte ich sie für Wächter, aber es sind die Gefangenen. Man lässt uns tatsächlich mit ihnen allein. (…) Beschwerden? Nein, keine einzige. Alle Gefangenen erklären ohne Ausnahme, dass sie sehr gut behandelt werden. Sie bekommen die gleiche Kost wie ihre Bewacher, auch Wein. Und so oft sie wollen, steht ihnen das Bad zur Verfügung. Den Männern hat man sogar ihre Rasiermesser gelassen. (…) Die Investigación lacht, als wir uns verabschieden, und alle zählen uns die Gefängnisse auf, in denen sie selber gewesen sind. Emma Goldman ist glücklich wie nach einer gewonnenen Schlacht, und wir gehen ins Hotel zurück, fröhlich wie Kinder, denen man ein Geschenk gemacht hat.“ (Kaminski 1937: 170f. und 174)[12] Kaum aber meint man im vermeintlich sicheren Hafen angekommen zu sein, zerstört ein Brief Simone Weils, datiert auf Anfang 1938, die Idylle: „[I]n einem Dorf, das Rote und Weiße viele Male erobert, verloren, wieder erobert und wieder verloren hatten, fanden die roten Milizen, die es dann endgültig eingenommen hatten, in den Kellern eine Handvoll verstörter, eingeschüchterter, ausgehungerter Wesen, darunter auch drei oder vier junge Männer. Sie stellten folgende Überlegung an: wenn diese jungen Männer dageblieben sind und auf die Faschisten gewartet haben, statt mit uns zu ziehen, als wir uns das letzte Mal zurückzogen, dann sind sie Faschisten. Also erschossen sie sie sofort, gaben dann den übrigen zu essen und dünkten sich dabei sehr human.“ Weiter: „[Z]wei Anarchisten erzählten mir einmal, wie sie zusammen mit einigen Genossen zwei Geistliche gefangengenommen hatten; den einen töteten sie in Gegenwart des anderen an Ort und Stelle mit einem Pistolenschuss, dem anderen sagten sie, er könne gehen. Als er zwanzig Schritte entfernt war, schossen sie ihn nieder. Der Erzähler war sehr erstaunt, weil ich nicht lachte. (…) Man zieht als Freiwilliger aus, von Idealen und Opfergeist erfüllt, und trifft unversehens auf einen Krieg, der einem Söldnerkrieg ähnelt, nur mit viel mehr Grausamkeit und weniger Achtung vor dem Gegner.“ (Weil 1938: 124f.) Auch hier befinden wir uns also nicht im Zustand unbefleckter Reinheit und diese „Blutschuld“ (Baxmeyer 2004: 28) muss benannt werden, allein schon, damit sich „die revolutionäre Gewalt, soweit sie unvermeidlich ist, sich bisweilen von dem widerwärtigen guten Gewissen verabschiedet“, in dem sie sich einrichtet (Camus zit. n. Jacquier 2006: 183)[13] Gegen Ende seines Lebens erwähnt Foucault die, „vielleicht ein wenig langweilige[.] Erfahrung unserer unmittelbarer Zeitgenossen (...), sich nur noch zum Verzicht auf die Revolution zu bekehren“ (Foucault 1982: 263) und hatte schon Jahre zuvor, vielleicht um dieser vorzubeugen, angemerkt: „Wenn sie [die Sozialismen] es verdienen wollen, geliebt zu werden und nicht auf Abweisung zu stoßen, wenn sie begehrt sein wollen, dann müssen sie eine Antwort auf die Frage nach der Macht und ihrer Ausübung finden. Sie haben eine Ausübung der Macht zu erfinden, die keine Furcht bereitet. Das wäre es, das Neue.“ (Foucault 1976a: 98) Was auch immer unter „Macht“ genauer zu verstehen ist, es bleibt festzuhalten, dass hier etwas sehr Wichtiges angesprochen ist: Es kann nicht darum gehen, „Furcht“ zu verbreiten, sondern vielmehr anziehend zu wirken, Orte und Räume zu schaffen, die dem „Leben“ und nicht nur dem „Überleben“ Raum geben, um mich mal ein wenig pathetisch in der Sprache Raoul Vaneigems (vgl. Vaneigem 2008) auszudrücken. Ähnlich hatte auch Foucault selbst betont: „Heute ist die Revolution in den Augen der Massen letztlich etwas Unerreichbares oder Schreckliches geworden. Meiner Meinung nach muss die Rolle des Intellektuellen heute die sein, für das Bild der Revolution dieselbe Wünschbarkeitsrate wiederherzustellen, die es im 19. Jahrhundert gab. Und für die Intellektuellen ist es dringend nötig – einmal unterstellt, selbstverständlich, dass die Revolutionäre und eine breite Schicht des Volkes ihnen das Ohr leihen –, die Revolution wieder so anziehend zu machen, wie sie es im 19. Jahrhundert war. Dazu müssen notwendig neue Modi menschlicher Beziehungen, das heißt neue Modi des Wissens, neue Moral der Lust und des Sexuallebens, erfunden werden. Mir scheint, dass die Veränderung dieser Beziehungen sich in eine Revolution verwandeln kann und sie wünschenswert macht. Kurz, die Ausbildung neuer Modi menschlicher Beziehungen birgt ein Thema in sich, um von der Revolution zu sprechen.“ (Foucault 1976b: 114) Denn es hilft ja nichts: „Wenn man“ – aufgrund der Schwierigkeit eines richtigen Lebens in einer falschen Welt – „sagen würde, es sei darum das moralische Verhalten das, wenn man schlechterdings gar nichts tun und die Hände in den Schoß legen würde, so wäre man auch dadurch nicht besser dran. Denn dadurch würde man ja erst recht jenes fragwürdige Ganze unbeschädigt, in seiner Beschädigung einfach so lassen, wie es ist – und dadurch ihm sich beugen.“ (Adorno 1965: 366) Verlieren wir deshalb aber „in all dem Grauen, in all dem Wust, in all der unendlichen Wiederholung die Heiterkeit nicht, die wir brauchen, um aufrecht zu bleiben und zu wachsen“ (Landauer 1911c: 120), denn „das ist die Aufgabe: nicht am Volk verzweifeln, aber auch nicht aufs Volk warten“ (Landauer 1911b: 138). Und vor allem: Nicht an sich selbst verzweifeln! P.S. Der vorliegende Aufsatz mag banal sein, eher pathetisch als analytisch. Jede/r Aktivist/in wird die hier angesprochenen Probleme und Fragen kennen und wissen, wie schwer sich all dies in der gelebten Praxis ausnimmt. Umso problematischer, wenn ich, weder Aktivist noch dazu in der Lage, im Alltag das einzulösen, was hier thematisiert wird, nun große Reden halte. Vielleicht darf der Text als das genommen werden, was er vielleicht meiner Intention nach ist: Der Versuch einer Bekräftigung und ein Ausdruck des Respekts an alle diejenigen, die sich tagtäglich jenen Fragen ausgesetzt sehen und sie im emanzipatorischen Sinn zu lösen versuchen. Möglicherweise ist ein Geburtstagsfest der passende Moment für eine solche Intervention … P.P.S.: Als ich vorliegenden Aufsatz schrieb, hatte ich Michael Seidmans Buch Gegen die Arbeit, auf das ich in Fußnote 4 verweise, noch nicht gelesen. Viele der dort beschriebenen Dinge waren mir neu – beispielsweise die Existenz von Arbeitslagern während des Spanischen Bürgerkriegs – und so war die Lektüre zwar spannend und informativ, aber auch ernüchternd und sehr bedrückend (vgl. Kellermann 2011). Ich erwähne dies, weil ich vor diesem Hintergrund den auch im vorliegenden Aufsatz an manchen Stellen gewiss pathetischen Ton in Bezug auf Spanien wohl nicht mehr anschlagen würde. Für die von mir ins Zentrum gestellten Fragen scheint mir der Bezug auf Spanien grundsätzlich aber dennoch nach wie vor vertretbar. E-Mail: philippe.kellermann@gmx.de Literatur Adorno, Theodor W. (1965): Zur Lehre von der Freiheit und der Geschichte. Frankfurt am Main 2006. Altvater, Elmar/Zelik, Raul (2009): Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft. Berlin. Bakunin, Michael (1842): ‚Die Reaktion in Deutschland‘, in: ders. Philosophie der Tat. Eine Auswahl aus seinem Werk. Köln 1968. S. 61–96. Bakunin, Michael (1868): Die revolutionäre Frage. Föderalismus – Sozialismus – Antitheologismus. Münster 2000. Bakunin, Michael (1869): ‚Der Doppelstreik von Genf‘, in: ders. Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften. Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1972. S. 133–139. Bakunin, Michael (1872a): ‚An Ludovico Nabruzzi und die anderen Internationalisten der Romagna‘, in: ders. Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften. 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Geburtstag und meinen ganz persönlichen Dank dafür, dass man mir vor Ewigkeiten die Möglichkeit gab, hier zu publizieren, ohne dass gefragt wurde, wer ich denn sei, und ohne den Umstand zu berücksichtigen, dass ich keinen „großen Namen“ (nicht mal einen kleinen) vorzuweisen hatte/habe. [2] „Im Volksstaat des Herrn Marx wird es, sagt man uns, keine privilegierte Klasse geben. Alle werden gleich sein, nicht nur vom juristischen und politischen Standpunkt aus, sondern auch vom ökonomischen. Zumindest wird uns das versprochen, obwohl ich stark daran zweifle, dass mit dieser Vorgehensweise und auf dem Weg, dem man folgen will, dieses Versprechen jemals gehalten werden kann. Es wird also keine Klasse mehr geben, aber eine Regierung und wohlgemerkt, eine äußerst komplizierte Regierung, die sich nicht damit zufrieden geben wird, die Massen politisch zu regieren und zu verwalten, wie es heute alle Regierungen tun, sondern sie auch ökonomisch verwalten wird, indem sie die Produktion und die gerechte Verteilung der Ressourcen, die Bearbeitung des Bodens, die Einrichtung und Entwicklung der Fabriken, die Organisation und Lenkung des Handels und schließlich die Verwendung des Kapitals zur Produktion durch den einzigen Bankier, den Staat, in ihrer Hand hat. Dies alles wird eine ungeheure Wissenschaft und viele überreichlich mit Verstand versehene Köpfe in dieser Regierung erfordern. Das wird die Herrschaft der wissenschaftlichen Intelligenz sein, die aristokratischste, despotischste, arroganteste und herablassendste aller Herrschaftsformen. Es wird eine neue Klasse geben, eine neue Hierarchie von wirklichen und eingebildeten Gelehrten, und die Welt wird sich in eine im Namen der Wissenschaft herrschende Minorität und in eine ungeheure Majorität von vergleichsweise Unwissenden aufteilen. – Und dann wehe der Masse der Unwissenden!“ (Bakunin 1872b: 968f.) [3] Man muss im Zusammenhang mit dem Regierungseintritt der CNT – ein Punkt, der hier nicht diskutiert werden kann – zumindest in Betracht ziehen: „Die CNT (…) missbrauchte nicht ihre Stärke, die sie besonders in Katalonien besaß, um andere soziale Richtungen zu unterdrücken und ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Sie tat vielmehr alles, was in ihren Kräften stand, die antifaschistischen Elemente zu vereinigen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind und für die Neuschöpfung des gesellschaftlichen Lebens. Sie dachte nicht daran, die Meinungsfreiheit einzuschränken oder auf Grund ihrer faktischen Überlegenheit anderen zu verwehren, was sie selbst beanspruchte.“ (Rocker zit. n. Saña 2001: 100) [4] Beispielhaft der Diskussionsband von Raul Zelik und Elmar Altvater, die sich über alles Mögliche unterhalten, aber (nicht nur) in dem ganzen Abschnitt „Der gescheiterte Sozialismus“ die Spanische Revolution nicht einmal erwähnen. Stattdessen erfahren wir von Altvater aber, dass den „libertären Sozialisten“ anscheinend erst im Stau klar werde, dass wir „gesellschaftliche Wesen“ seien (Altvater in Altvater/Zelik 2009: 27). Raul Zelik, der gegen diese Aussage keinen Einspruch erhebt, ignoriert die Spanische Revolution in seinem Aufsatz „Nach dem Kapitalismus: Warum der Staatssozialismus ökonomisch ineffizient war und was das für Alternativen heute bedeutet“ ebenfalls (Zelik 2009), um in der überarbeiteten Version dieses Aufsatzes, der in sein neues Buch Nach dem Kapitalismus aufgenommen wurde, in einer hinzugefügten Fußnote lediglich darauf hinzuweisen, dass sich der spanische Anarchismus schnell „von kleineren Bewegungen (…) marginalisieren“ lies (Zelik 2011: 32). Dagegen betonte Sam Dolgoff meines Erachtens zu Recht: „Die immer wieder gestellte Frage nach der Rolle der Anarchisten in einer revolutionären Situation ist von dauerhafter Aktualität. Man kann vieles lernen, sowohl aus den Fehlern als auch aus den Errungenschaften unserer Genossen; aus den tragischen Ereignissen in Spanien“ (Dolgoff 1986: 137). Während er seine ZeitgenossInnen dafür kritisierte, dass deren Ausführungen zu Spanien leider keine „vernünftige Diskussionsbasis“ abgeben würden (ebd.: 137), findet heute allerdings, wie es scheint, nicht einmal irgendeine Diskussion statt. Zu hoffen wäre, dass das soeben erschienene Buch von Seidman (2011) einen neuen Impuls für eine solche Debatte geben kann. [5] Schon 1931 hatte Korsch auf die Besonderheit der spanischen ArbeiterInnenbewegung verwiesen: „Was sich in Spanien zu der starken, bakunistisch und nicht marxistisch gerichteten ‚Internationale’ zusammenschloss, das war die Auslese der aktiven Arbeiterrevolutionäre, die sich gerade damals in einer gradlinig fortschreitenden Entwicklung von der bürgerlich-revolutionären föderativ republikanischen Partei lostrennte und die selbständigen Ziele des Proletariats proklamierte. (…) Von diesen sechziger Jahren [des 19.Jahrhunderts] bis zur heutigen revolutionären Arbeiterbewegung führt in Spanien eine einzige, völlig ungebrochene, organische Entwicklungslinie. Diese Entwicklung hat mannigfache Phasen durchlaufen, hat organisatorisch und taktisch vieles erprobt, berichtigt und wieder verworfen, hat auch von außen aus der europäischen und amerikanischen Bewegung manches aufgenommen, das Wichtigste aus der im letzten Vorkriegsjahrzehnt vom revolutionären Syndikalismus in Italien und Frankreich aus über die anarchistische Bewegung der ganzen Welt verbreiteten Erneuerung, hat aber bei alledem ihren eigenen Charakter in erstaunlichem Maße bis zur Gegenwart bewahrt. Infolge dieser Entwicklung ist noch heute in Spanien, anders als im übrigen Europa, die Hauptrichtung der Arbeiterbewegung entschieden antistaatlich, anarchistisch und syndikalistisch. Infolge dieser Entwicklung ist aber auch die andere, die sozialdemokratisch marxistische Richtung der modernen Arbeiterbewegung in Spanien früher und entschiedener in die ihr vorgezeichnete Bahn hereingedrängt worden. Viel früher und viel klarer als in den wichtigsten sozialdemokratischen Parteien Europas zeigte sich in der schwachen sozialdemokratischen Partei, die der Engels-Lafargue-Schüler Pablo Iglesias ebenfalls schon seit jenen sechziger Jahren der starken anarchistisch-revolutionären Richtung der spanischen Arbeiterbewegung entgegenzustellen versuchte, jener absolut staatserhaltende Grundzug, den die deutsche Sozialdemokratische Partei erst seit 1914 und 1918 offen darstellte.“ (Korsch 1931: 242f.) [6] Die Bedeutung dieser Konzeption in Bezug auf die Gegenwart zeigt die Darstellung Raul Zibechis über die Kämpfe in Al Alto, Bolivien (vgl. Zibechi 2007). [7] In besagtem Interview plädiert Chomsky für ein „föderatives, dezentralisiertes System freier Vereinigungen, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Institutionen beinhaltet“ (in: Foucault 1971: 615), was Foucault polemisch unter der Rubrik „Modell des idealen gesellschaftlichen Lebens für unsere wissenschaftliche oder technologische Gesellschaft“ abfertigt (Foucault 1971: 616), um dann zu konstatieren: „Wenn das Proletariat die Macht übernehmen wird, kann es sein, dass es gegenüber den Klassen, über die es gesiegt hat, eine diktatorische und sogar blutige Gewalt ausübt. Ich sehe nicht, welchen Einwand man dagegen erheben kann.“ (ebd.626) Schließlich meint er sogar, Mao folgend, dass es eine „bürgerliche[.]“ und eine „proletarische[.] Natur des Menschen“ gäbe (ebd. 620), was im Übrigen auf eine wichtige Problematik des seinerzeit recht modischen – und wie man sieht, nicht nur theoretischen – Anti-Humanismus verweist, gegen den sich mit dem Dissidenten Victor Serge festhalten lässt: „Verteidigung des Menschen, Achtung vor dem Menschen. Seine Rechte, seine Sicherheit, sein Wert müssen ihm wiedergegeben werden. Ohne das gibt es keinen Sozialismus. Ohne das ist alles falsch, verdorben. Ein Mensch, wer auch immer er sei, und wäre er der letzte der Menschen, ‚Klassenfeind‘, Sohn oder Enkel von Bürgern, darauf pfeife ich; man darf nie vergessen, dass ein Mensch ein Mensch ist. Hier [in der Sowjetunion] unter meinen Augen, überall, wird das jeden Tag vergessen, das ist das Empörendste, das Antisozialistischste, das es gibt.“ (Serge 1933: 455) [8] Nur nebenbei mal ein Beispiel für „kreativen“ Umgang mit Texten. So (v)erläutert Michael Fisch in seiner gerade erschienen Foucault-Biografie die hier zitierte Stelle wie folgt: „Wiederholt beklagt Michel Foucault (…) den Verlust an sozialer und politischer Fantasie, eine Utopie oder eine Vision einer humanen Gesellschaft zu denken, zu experimentieren und zu praktizieren. Viele Gesellschaftsentwürfe des 18. und 19. Jahrhunderts scheinen vergessen zu sein, etwa der Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau oder der utopische Sozialismus von John Locke. (…) Eine utopische Vorstellung von Politik scheint es nicht mehr zu geben (…). Das erscheint Foucault als Rätsel, darum will er ‚eine neue Vorstellung von Politik entstehen lassen‘, ohne dabei zu vergessen, dass ‚trotz allem der Marxismus eine wichtige Rolle spielt‘.“ (Fisch 2011: 194) [9] Die strategische Ausrichtung von Marx und Engels auf die Parteiform, die anscheinend schon dadurch eine proletarische Politik machen wird, wenn ihr die richtigen Proletarier angehören, ist genau das Gegenteil einer Problematisierung, wie sie Pop in Bezug auf das Jurazirkular unternimmt. [10] „Einer der auffallendsten Hauptzüge der spanischen Revolution ist ihre Vielgestaltigkeit. Diese Revolution wurde gemäß einigen sehr klaren und genauen Grundsätzen durchgeführt, z. B. die allgemeine Enteignung der Besitzer des sozialen Reichtums, die Übernahme der Organisationsstrukturen der Produktion und der Verteilung durch die Arbeiter, die direkte Verwaltung der öffentlichen Dienste und die Einführung der wirtschaftlichen Gerechtigkeit durch die Anwendung des libertär-kommunistischen Prinzips. Die einstimmige Anwendung dieser Grundsätze schloss aber nicht die Vielfältigkeit der Anwendungsmethoden aus, so dass man von einer ‚Vielfältigkeit in der Einheit‘ und von einem überaus mannigfaltigen Föderalismus sprechen kann.“ (Leval 1971: 340; vgl. auch ebd. 182ff.) [11] Max Nettlau kommentierte die Ende des 19. Jahrhunderts sich anbahnenden Auseinandersetzungen zwischen „kollektivistischen“ und „kommunistischen“ AnarchistInnen wie folgt: „In allen Bewegungen gibt es leider zwei Arten Leute – solche, die eine um eine Nuance, geschweige denn etwas mehr, von der ihrigen verschiedene Auffassung bereits in den Tod hinein hassen und zu vernichten suchen und solche, die sich freuen, dass auf dem ihnen lieben Gebiet Verschiedenheit der Auffassung besteht, wodurch die Aussicht, dass eine derselben sich der Wahrheit nähert, doch nur vermehrt wird. (…) Es war 1880 eine Trennung von der Realität. Nicht damals gleich, aber recht bald entstand die Vorstellung, dass nur der sofortige Übergang zum freien Kommunismus Anarchie sei, das jede, absolut jede andere Auffassung des Anarchismus ins alte Eisen gehöre, reaktionäre Keime enthalte usw. (…) In der Internationale von 1864 hatten auf die natürlichste Weise, ihres inneren Werts wegen, die den einseitigen Proudhonismus überwindenden kollektivistischen Ideen die erste Stelle gewonnen und die Beherrschungsversuche der Marxisten, der Blanquisten und der Politiker abgeschlagen. Musste dieser weite und freie Rahmen aufgegeben werden zu Gunsten einer sehr wertvollen, glänzend verteidigten besonderen Theorie, die, da es sich um die Zukunft handelt, doch nur eine Hypothese unter andern Hypothesen ist? Musste dies sein? Für mich liegt hierin die Tragödie des modernen Anarchismus.“ (Nettlau 1927: 231; 233; 236) [12] Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Martin Baxmeyer. [13] Zur Diskussion und Kontextualisierung der Äußerungen Weils, siehe Canciani (1990); Mercier-Vega (1975); Jacquier (2006). Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit zu einer Selbstkritik nutzen, habe ich doch unlängst geschrieben, dass sich die spanischen AnarchistInnen „nicht brutalisieren ließen“ (Kellermann 2011a: 11). Bei aller zu Recht von mir angemerkten Differenz zu den Bolschewiki, wird hier doch ein problematisches Bild transportiert, dass den Ereignissen nicht gerecht wird. |
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