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Anton Pam: Privilegiertes Rädchen im System?
Persönliche Überlegungen aus dem Arbeitsalltag eines Universitätsassistenten

Ich bin politisch in der linken Szene aktiv und arbeite schon seit 2004 an der Universität Wien als Universitätsassistent. Jedoch habe ich nur selten über meinen Arbeitsalltag kritisch reflektiert oder meine Erfahrungen in die Debatte eingebracht. Linke Kritik an der Uni jammert häufig über zu wenig Geld und Zeit für Forschung und Lehre, ohne die Universität als System zu hinterfragen. Oft werden Forderungen gestellt, ohne sich der eigenen privilegierten Position bewusst zu werden. Angesicht der „Bologna-Reformen“ wird von vielen kritischen WissenschaftlerInnen der Status Quo verteidigt. Eine Kritik sollte jedoch mit einer Selbstreflektion anfangen.

Meine Arbeitssituation

Mit provozierenden Parolen wie „Zerschlagt die Universität“[1] kann ich wenig anfangen, da mir meine Arbeit zum großen Teil Spaß macht und ich mich auch damit identifiziere. Die Grenzen zwischen Arbeit, Interessen and Engagement sind fließend und oft nur schwer voneinander zu trennen. Ich habe eine Chefin, die mir viele Freiräume lässt und wenig monotone Aufgaben aufbürdet. In der Forschung und im Unterricht konnte ich von Anfang an selbstständig arbeiten und mir die Themen frei aussuchen. In der Regel halte ich mich an die vertraglich festgeschriebene Arbeitszeit. Um meine Dissertation bzw. Habilitation fertigzustellen oder wichtige Vorträge für Konferenzen vorzubereiten, gehe ich auch schon mal am Wochenende ein paar Stunden ins Büro. Leider fällt mir die Abgrenzung von der Arbeit manchmal schwer. Ich kann mich nicht daran erinnern, in den letzten Jahren meine Dienst-Emails länger als eine Woche nicht gelesen zu haben. Die Bewerbung für eine Konferenz in den USA, auf die ich jedes Jahr fahre, fällt immer auf den Sommer und ich bin deshalb schon in so manchem Urlaub in ein Internet-Cafe gegangen. Zwei bis drei Mal im Jahre fahre ich zu Konferenzen ins Ausland an Orte wie Melbourne, Hawaii oder Atlanta. Oft verbinde ich die Konferenzteilnahme mit einem kurzen Urlaub, was zu einer weiteren Verquickung von Arbeit und Freizeit führt. Im Gegensatz zu Deutschland sind die Universitäten in Österreich finanziell besser ausgestattet. Eine UniversitätsassistentIn verdient nach der Promotion über 2000 Euro netto im Monat. Voll- und Teilfinanzierung von Auslandsreisen mehrere Male im Jahr, längere Freistellungen vom Dienst unter Beibehaltung der Bezüge für die Forschung, 13. und 14. Monatsgehalt, keine Mahngebühren in der Bibliothek, während der Arbeitszeit in Bibliotheken gehen können, kostenlose Weiterbildungen, bezahlter Lehrendenaustausch mit dem „Erasmus“-Programm, nicht unbedeutende Gehaltszulagen bei Übernahme einer Funktion usw. sind die Privilegien, die die „internen“ Mitarbeiter in Anspruch nehmen können. Was für die Teilnahme an Konferenzen selbst bezahlt werden muss, kann man später durch die Steuererklärung zurückbekommen. Externe Lehrbeauftragte sind von den meisten dieser Privilegien ausgeschlossen.

Drei Jahre lang übte ich als Studienprogrammleiter eine Funktion mit einigen Entscheidungskompetenzen aus, wie z.B. die Anrechnung von Lehrveranstaltungen von anderen Universitäten sowie Wahlfächern, die Kontrolle des Lehrbudgets, Vorsitz bei allen Magister-Abschlussprüfungen sowie die Vergabe von Lehraufträgen an externe Lehrbeauftragte. Debatten über die Sabotage des Universitätsbetriebs erscheinen mir als weltfremd. „Bummelstreik“ bei der Arbeit hätte in meinen Fall dazu geführt, dass Studierende die Familienbeihilfe nicht rechtzeitig beantragen, Nicht-EU-Ausländer das Visum nicht verlängern oder andere einen Job nicht antreten können, weil ein Zeugnis fehlt.

Im System drin zu bleiben, ist keine leichte Aufgabe. Ich bin für eine halbe Stelle nach Wien gezogen und habe zuerst eine Schwangerschaftsvertretung für ein Jahr gehabt, die dann noch mal um ein Jahr verlängert wurde. Meine Dissertation musste ich innerhalb von zwei Jahren fertig stellen, weil dann am Institut eine neue Stelle frei wurde. In die Dissertation ist sicher auch viel nichtbezahlte Zeit eingeflossen. Nach der Promotion habe ich eine ganze Stelle bekommen (AssistentInnensäule 1), die 2012 ausläuft, weil man nicht länger als sechs Jahre an einer Universität in Österreich befristet beschäftigt sein darf („Kettenvertragsregelung“). Dann wird es sich entscheiden, ob ich nicht mehr weiter beschäftigt werden kann oder eine relativ sichere und unbefristete Stelle bekomme. Ich versuche, dieses Jahr mit meiner Habilitation fertig zu werden. Bis vor einigen Jahren konnten Habilitierte mit einer Stelle an der Universität einen Antrag auf Pragmatisierung (Verbeamtung) stellen, der in der Regel genehmigt wurde. Dieses Verfahren wurde abgeschafft. Bisher ist es den österreichischen Universitäten nicht gelungen, eine festgelegte Laufbahn, die auf der Erfüllung von Leistungsvereinbarungen und Evaluierungen beruht, zu etablieren. In den USA bekommen WissenschaftlerInnen auf einer  „tenure track“-Stelle, nach der Erfüllung von Leistungsauflagen und Evaluierungen eine unbefristete und sichere Anstellung („tenure“). Nun wurden auch an der Universität Wien solche „Laufbahn-Stellen“ eingerichtet, allerdings sind an meiner Fakultät in diesem Jahr bisher ganze drei (!) solche Stellen ausgeschrieben worden. Aus Kostengründen möchte die Universität nicht, dass aus der Erfüllung von Leistungsvereinbarungen ein Anspruch auf eine weitere Beschäftigung entsteht. Den jungen WissenschaftlerInnen bleibt als Alternative nur ins Ausland zu gehen oder in akademischen Projekten außerhalb der Universität zu arbeiten. Einige meiner KollegInnen haben Stellen in den USA oder Großbritannien bekommen.

Die Ansprüche an uns sind hoch und relativ klar. Wer weiter kommen will, muss in anglo-amerikanischen „Peer Review-Journals“[2] auf Englisch veröffentlichen und auch Monographien und Sammelbände werden zunehmend diesem Verfahren unterzogen. Wir sollen Auslandserfahrungen sammeln und mit Stipendien an anderen Unis forschen. Viele junge WissenschaftlerInnen haben sicher „hochwertigere“ Publikationslisten als so manche ProfessorInnen, die vor 10 oder 20 Jahren berufen wurden. Trotz der hohen Ansprüche sind die weiteren Perspektiven für viele nach der Dissertation oder sogar Habilitation unklar. Trotzdem muss gesagt werden: Während große Teile der Bevölkerung entfremdete und oft uninteressante Lohnarbeit leisten, haben wir immer noch die Möglichkeit während der Arbeit zu forschen, zu lesen, zu reflektieren, zu diskutieren oder zu schreiben. Es ist ein großer Unterschied, während der Arbeitszeit ein Buch schreiben zu können oder wie viele arbeitslose GenossInnen in der „Freizeit“. Jede Kritik an der Universität muss die eigene privilegierte Stellung im Vergleich zu vielen anderen Teilen der Bevölkerung berücksichtigen und kann nicht nur auf die Verteidigung oder den Ausbau der eigenen Pfründe zielen. Die eigene Stellung als privilegierter Kopfarbeiter muss zum Ausgangspunkt der Überlegungen werden.

Bildung und das System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung

Die Universität ist wie das Bildungswesen ein System gesellschaftlicher Arbeitsteilung. In der Schule entscheidet es sich meistens, welche Menschen HandarbeiterInnen werden oder in Jobs mit „niedrigen Qualifikationen“ arbeiten und welche Menschen weiter ausgebildet werden, um später Arbeit im „Überbau“ oder in leitenden Funktionen auszuüben. In der Form des Abschlusses wird jeder Mensch mit „sozialem Kapital“ ausgestattet, das er / sie allerdings selbst verwerten muss. Die Einen gehen sofort auf den Arbeitsmarkt und die Anderen beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Studium. Deshalb nutzten viele Studierende die Universität auch, um dem Arbeitsmarkt für einige Jahre zu entkommen. Während die Schule in erster Linie klar definiertes Wissen vermittelt, gilt die Universität als Ort der Wissensproduktion und kritischer Reflektion über die Gesellschaft. Die meisten Schulen sind bisher noch fordistisch organisiert (Fächer im 45-minuten Takt nach einem genauen Plan, ständige Überwachung durch Noten, tägliche Hausaufgaben und Prüfungen, Beginn und Ende der Einheiten mit der Klingel). Wohnen die SchülerInnen, wie oft im ländlichen Raum, weiter entfernt von der Schule, müssen sie zu Zeiten wie FabrikarbeiterInnen aufstehen. Die Schule dient nicht zuletzt der Disziplinierung der SchülerInnen. Sie lernen Pünktlichkeit, Geduld, Zuverlässigkeit, Anerkennung von Autoritäten und Hierarchien und vor allem still zu sitzen. Die Universität war zumindest (in Deutschland) lange weniger klar strukturiert. Eine relativ freie Auswahl der Fächer, sogenannte „Sitzscheine“ (Kurse ohne Prüfung) und das weitgehende Fehlen einer Anwesenheitspflicht boten Freiräume, die weder Schule noch ein „normales“ Beschäftigungsverhältnis bieten konnten. In vielen Fächern wurden die entscheidenden Noten erst am Ende des Studiums vergeben.

Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass auch die Universität eine streng hierarchische Organisation war und ist. Die wissenschaftliche Ausbildung führt zu einer weiteren Spezialisierung und Herausbildung der Arbeitsteilung. Neben der horizontalen Gliederung in Fächer- und Themenschwerpunkte, gibt es noch eine vertikale Hierarchie (Reinigungspersonal, Studierende (BA, MA), DoktorandInnen, Verwaltungspersonal, externe MitarbeiterInnen, StudienassistentInnen, UniversitätsassistentInnen Säule 1 und 2, außerordentliche ProfessorInnen, ProfessorInnen, Studienprogrammleitung, DekanIn, RektorIn), die auch in der Vergabe von Titel (BA, MA, Dr., Habilitation usw.) ausgedrückt wird. Als Doktor und Universitätsassistent ist meine Position im vertikalen und horizontalen Hierarchiecluster ziemlich genau definiert. Ich übe Macht aus und anerkenne Machtstrukturen. Das fällt mir in der Regel nicht schwer, da ich eine Professorin als Vorgesetzte habe, die mir in Lehre und Forschung große Freiräume lässt und mich unterstützt. Es fällt auch deswegen leicht, weil ich häufig glaube, so handeln zu müssen, damit den Studierenden eine gute Lehre und interessantes Studium geboten wird. Vor diesem Hintergrund kommt allerdings die kritische Reflektion über das System zu kurz und die innere Logik des Apparates wird übernommen.

Anpassung oder die gespaltene Persönlichkeit

Die Anpassung an das System findet auch statt, weil zwischen dem Job und dem politischen Engagement außerhalb der Universität nicht getrennt werden kann. Während der Arbeit beschränke ich mich überwiegend auf die speziellen wissenschaftlichen Themen, in die meine Persönlichkeit natürlich auch mit einfließt. Thesen, die sich nicht im Rahmen des „Genre“ Wissenschaft belegen lassen, stelle ich nicht auf.  Stellungnahmen zur Lage der Welt gebe ich in den Kursen mit konkreten Themen nicht ab. Einer Studierenden, die sich auf Karl Marx bezieht, gebe ich nur eine gute Note, wenn sie überzeugend argumentiert und sich an die Regeln den „Genres“ hält. Dieses Verhalten ist nicht nur durch Opportunismus zu erklären, sondern auch durch die Erfahrung, dass eine klare Vorgabe von politischen Positionen Studierende eher einschüchtert. Was gibt es schlimmeres als Lehrende, die nur ideologische Positionen von sich geben und von denen Studierende nichts lernen. Schon im Studium war mir jeder konservative Professor, von dem etwas Neues zu lernen war, lieber als sozialdemokratische Schwätzer, die mit ihrer Parteilichkeit auch noch kokettierten. Ich habe auch als Vorsitzender von Prüfungen miterlebt, in denen nur die richtige Ideologie abgefragt wurde nach dem Motto „Hat sich die Lage der Frauen nach dem Eindringen der Kolonialmacht verschlechtert?“. Das Ja reichte als richtige Antwort aus.

Die Vorstellung von professioneller Wissenschaft kann eine Entpolitisierung fördern, die die Spaltung der Persönlichkeit in einen Arbeits- und Freizeitmenschen erleichtert. In Österreich werden keine Gesinnungsrituale wie ein schriftliches Bekenntnis zur sogenannten „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ wie in Deutschland verlangt. In einigen deutschen Bundesländern müssen schon HilfswissenschaftlerInnen („Hiwis“) einen Eid auf das Grundgesetz schwören. Vor allem in den 1970er Jahre wurden Menschen aus dem Universitätsdienst entfernt, bei denen Zweifel an der Treue zum Grundgesetz bestanden. 

Scheinökonomisierung der Wissenschaft

In den 1970er Jahre lief fast jede linke Kritik an der Universität als Institution darauf hinaus, den „Elfenbeinturm“ jenseits der Produktion und das „Lernen um des Lernens Willens“ zur Ausbildung des bürgerlichen Individuums zu kritisieren. Ein größeres Maß an Autonomie der Universitäten vom Staat war ursprünglich eine linke Forderung, die nun unter anderen Vorzeichen umgesetzt wird. Heute wird die stärkere Verbindung der Hochschule mit der gesellschaftlichen Praxis auch von „neo-liberaler“ Seite gefordert. Damit ist jedoch eine stärkere Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts gemeint. Das führt häufig zu einer grotesken Scheinökonomisierung der Universität, in der verzweifelt versucht wird, betriebswirtschaftliche Kriterien auf Geisteswissenschaft und Forschung anzuwenden. Die Universität in ein Profitsystem zu verwandeln, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen in Europa nicht möglich. Zum einen fehlt im Gegensatz zu den USA die Bereitschaft von Studierenden und Eltern für ein Studium 30.000 bis 60.000 Dollar pro Jahr zu bezahlen, noch gibt es viele Unternehmen, die große Summen spenden, ohne einen direkten ökonomischen Nutzen zu haben. Von daher werden Punkten und Statistiken eine Bedeutung beigemessen als handele es sich um Geld oder Waren, als ob die Anzahl der AbsolventenInnen einer Produktionszahl von Glühbirnen entsprechen könnte. Die Qualität von Glühbirnen ist leicht zu überprüfen. Wie soll die Qualität des Produkts „AbsolventIn“ überprüft werden? Außerdem soll die AbsolventIn KundIn und Produkt zugleich sein.

Nicht wenige Diskussionen über die Frage, wie durch welches Punktesystem die Leistung einer MitarbeiterIn oder auch durch „European Credit Points“ die StudentInnen bewertet werden sollen, erinnern mich an das maoistische China. Soll der Bauer für das Melken der Kuh drei oder vier Arbeitspunkte in der Volkskommune bekommen? Warum wird das Melken der Kuh höher bewertet als das Ausmisten des Stalls? Wenn wir für die Reparatur des Traktors fünf Arbeitspunkte vergeben, überschreiten wir nicht das Budget unserer Volkskommune? Auch durch Planvorgaben bestimmte statistische Werte zu erzielen, spielt eine immer größere Rolle. Lange konnte man bei Budgetverhandlungen mit der Zahl der Studierenden argumentieren. Plötzlich hieß es, dass nur noch die PrüfungsteilnehmerInnen und Abschlüsse zählen. Gut ist es, wenn die Studierenden mit dem Studium schnell fertig werden, aber nicht zu schnell. Eine Planungssicherheit gibt es nicht, weil die Botschaften sich ständig ändern können. Selbst die „Neo-Liberalen“ könnten fragen, lohnen sich die Kosten (Zeit und Geld) für die Evaluierungen, wenn man den Nutzen betrachtet? Denn schon eine Bauernweisheit sagt: „Vom vielen Wiegen wird die Sau nicht fetter“. Es werden hunderte Statistiken mit Prüfungszahlen, Abschlüssen, Frauenanteil, StudienabbrecherInnen usw. gesammelt sowie die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen gezwungen, ihre Veröffentlichungen in die RAD ("http://international.univie.ac.at/de/portal/rad/" Research Activities Documentation)-Datenbank einzutragen, ohne dass klar ist, nach welchen Kriterien bewertet oder bepunktet werden soll. Bisher hat sich an der Uni Wien kein einheitliches System durchgesetzt, den „Wert“ der Publikationen der MitarbeiterInnen in ein statistisches System zu übersetzen. Viele Journale sind nicht in den europäischen Ranking-Systemen enthalten und die Ranking-Systeme selbst sind umstritten. Ein Kollegin von der Business-School Frankfurt erzählte mir, dass in ihrem Arbeitsvertrag festlegt ist, dass sie weniger Stunden im Semester unterrichten muss, wenn sie eine bestimmte Punktzahl nach einem Ranking von wirtschaftswissenschaftlichen Journalen gemäß der deutschen Tageszeitung (!) Handelsblatt erzielt. Deshalb braucht eine WissenschaftlerIn heute eine „Publikationsstrategie“, wonach er oder sie erst die Rankings in Erwägung zieht, bevor ein Artikel eingereicht wird. Dadurch haben Menschen, die in Journalen mit niedrigeren Rankings publizieren, einen „Wettbewerbsnachteil“. Für die Lobbyarbeit um eine Verbesserung der Rankings oder die Manipulation von Statistiken wird immer mehr Zeit aufgewendet. Eine Herausgeberin eines britischen Journals forderte mich auf, einen Protestbrief gegen das Ranking ihrer Publikation in Australien als Nummer Zwei statt Nummer Eins zu unterschreiben. Ein anderes Journal bat mich, doch vier Buchbesprechungen von ihnen in meinem Artikel zu zitieren, wahrscheinlich um ihre Zitierhäufigkeit zu erhöhen, was ein Faktor des Rankings ist. Das Rankingsystem von Journalen scheint vor allem in Europa ad absurdum geführt zu werden.

Das soll nicht heißen, dass ich jede Form von Leistungskontrolle ablehne. Sicherlich ist es unmöglich, den „Wert“ einer wissenschaftlichen Publikation statistisch zu messen. Trotzdem sollte es Mechanismen gegen Machtmissbrauch geben. Es sollte z.B. nicht hingenommen werden, wenn eine ProfessorIn, die aus öffentlichen Geldern bezahlt wird, sich auf den Unterricht nicht vorbereitet oder gar der Lehrverpflichtung nicht nachkommt, sich nicht an die Fristen für die Bewertung von Abschlussarbeiten hält oder überhaupt keine Forschung mehr betreibt. Derzeit sind die Leistungskriterien vor allem für MitarbeiterInnen wichtig, die keine feste Stelle haben, und sie dienen damit mehr als Disziplinierung von oben nach unten als einer Kontrolle der Macht. Auch die „Employability“, die Beschäftigungsfähigkeit der  AbsolventInnen auf dem Arbeitsmarkt, kann nicht gemessen werden. Da es bei vielen Themen und Lehrveranstaltungen keinen direkten praktischen Nutzen für den Arbeitsmarkt geben kann, muss eben eine ausgedacht werden. Bei der Gestaltung neuer Studienpläne weiß jeder, dass ein Studium keine Berufsausbildung ist, trotzdem müssen ein paar Absätze in der Studienordnung stehen über das Beschäftigungsprofil für die Studierenden und vielleicht noch ein Gutachten der Wirtschaftskammer eingeholt werden. Vieles ist ein „so tun als ob“, ein Spiel wie wenn eine europäische Universität nach den Kriterien ökonomischer Verwertbarkeit geführt werden könnte. Es wird sich zeigen, wie sich dadurch die Verhaltensweisen der Menschen verändern werden und ob ein Punktesystem geeignet ist, die Rolle des ökonomischen Zwangs zu ersetzen oder eine Kombination davon.

Beschleunigung des Studiums und die Ökonomisierung des Denkens

Vor allem hat sich die Art zu Studieren in den letzten zehn Jahren verändert. Die Zeit als die Universität als Experimentierfeld zur Selbstfindung dienen konnte, ist vorbei. Vielen Studierenden geht es hauptsächlich darum, möglich schnell durch das Studium zu kommen und einen lückenlosen Lebenslauf vorweisen zu können. Es gibt keine Veranstaltung mehr ohne Prüfungen und nur noch wenige ohne Anwesenheitspflicht. Der Stundenplan ist voll. Der Kampf um einen Platz in einem Seminar scheint bei den „Massenstudiengängen“ Teil der Ausbildung zum Konkurrenzverhalten zu sein. Die (Schein)-Ökonomisierung der Ausbildung hat auch zu einer Ökonomisierung des Denkens geführt: „Was muss ich genau leisten, um welche Note zu bekommen?“ Anstatt zu Leistung zu animieren, bewirkt das Notensystem in der Praxis häufig das Gegenteil. Viele Studierende haben in der Schule kritisches Denken und die Infragestellung von Autoritäten nie gelernt. Manche sagen, sie können sich nicht selbst disziplinieren und ohne Druck von außen arbeiten, wollen daher Noten und klare Anweisungen wie in der Schule. Ich habe den Eindruck, dass viele Studierende mit nichts mehr verunsichert werden können, als ihnen die Aufgabenstellung selber zu überlassen. Es ist schwierig, die Lerngewohnheiten der Schule an der Universität zu durchbrechen. Ohne eine Aussicht auf eine Note macht der gemeine Studierende nichts mehr. Nur was angerechnet werden kann, macht auch einen Sinn. Wird zur Teilnahme an einem Workshop mit internationalen ExpertInnen eingeladen, kommen gleich E-Mails mit der Frage, für welche Lehrveranstaltung der Workshop anrechenbar sei. Eine US-amerikanische Universität, bei der ich einmal einen Vortrag gehalten habe, teilt an die Studierenden ein Heft aus und sie bekommen für die Teilnahme an einer Abendveranstaltung einen Stempel. Gibt es kein größeres Eingeständnis des Scheiterns, Studierende zu motivieren, als eine „Stechuhr“ einzuführen? Die Überlegungen, welcher Job durch das Studium zu bekommen ist, sind wichtiger denn je. Einige setzen sich selbst so unter Druck, dass sie nicht mehr ein Jahr im Ausland studieren wollen, sondern nur noch einige Monate, um keine Zeit zu verlieren. Im Gegensatz zum alten Diplomstudiengang mit offenem Ende, wo es manchmal keine klare Studienordnung gab, helfen nun „Student Point“ und andere Serviceeinrichtungen, möglichst schnell das System zu verstehen und kein „Orientierungssemester“ zu verplempern.

Engagement und Reflektion wird auch für Studierende immer schwieriger, die wie viele MitarbeiterInnen in einem Laufrad stecken und einen fast unüberschaubaren Berg von Deadlines abarbeiten müssen. Wie in vielen Branchen der Wirtschaft wird ergebnisorientierte Arbeit eingeführt, bei der es nicht mehr darum geht, eine bestimmte Zeit im Büro zu sitzen, sondern zu einem festgelegten Termin das „Produkt“ abzuliefern. Das bringt zum einen die Freiheit gleitender Arbeitszeiten. Zum Anderen kann es temporär zu extremen Arbeitsbelastungen führen, die auch die „Freizeit“ einnehmen. Die „Deadline“ wird wichtiger als der Dienstplan. Teile des Unterrichts bestehen darin, die Studierenden darauf zu trimmen, Deadlines einzuhalten. Früher hatte man an der Uni Wien drei Semester Zeit eine Hausarbeit abzugeben, heute sind es maximal die Semesterferien plus einen Monat (Ende der Nachfrist der Anmeldung zum nächsten Semester). Bisher konnten weder Lehrenden noch Studierenden der recht flexible Umgang mit Deadlines ausgetrieben werden. Besonders geeignet zum Trainieren des richtigen „Zeitmanagements“ ist E-Learning, da die Plattform so eingestellt werden kann, dass Hausaufgaben nur bis zu einem bestimmten Tag vom System angenommen werden. Statt langen Hausarbeiten in den Ferien kann  auch mit kleineren Deadlines innerhalb des Semesters gearbeitet werden. Mittlerweile können die Lehrenden sogar sehen, ob und zu welcher Uhrzeit ein im System angemeldeter Studierender ein Dokument geöffnet hat. Nach meinen Eindruck haben viele Studierende diese zusätzliche Kontrollfunktion von E-Learning erkannt und melden sich nicht gerne für Kurse an, die innerhalb des Semesters den meisten Arbeitsaufwand verlangen. Sie wollen zwar, dass der Lehrende alle seine Materialien online stellt, aber das eigene Referat oder andere Beiträge sollen lieber nicht für jede KursteilnehmerIn sichtbar sein. Auch die Versuche, die Teilnahmevorsetzungen für Kurse durch ein Online-System streng durchzusetzen, funktionieren nur bedingt. Der Computer soll selbst erkennen, wenn die Vorsetzungen nicht erfüllt werden, und die Studierende gar nicht erst zulassen. Obwohl das System jedes Semester verbessert wird, gelingt es Studierenden immer wieder, „Schlupflöcher“ zu finden und sich z.B. über andere Studienkennzahlen trotzdem für den Kurs anzumelden. Die Lehrenden verwenden viel Zeit damit, mit den Studierenden über Ausnahmen zu diskutieren oder das Einhalten der Regeln zu überwachen. Es ist fraglich, ob die „Computerisierung“ der Kontrolle wirklich zu weniger Arbeit führt.

Die Noten und Ich

Verwunderlich ist allerdings auch, dass bisher niemand das österreichische „Einheitsnotensystem“ in Frage stellt (nur glatte Noten von 1 bis 5), das eine genauere Differenzierung nicht möglich macht und daher im Widerspruch zur „neo-liberalen“ Leistungsideologie steht. In Deutschland gibt es hingegen die Komma-Noten. Die „Kosten“ für die Abschaffung der „Sitzscheine“ durch Benotung in allen Lehrveranstaltungen darf nicht unterschätzt werden. ProfessorInnen, die zwei Vorlesungen halten, müssen ca. 400 Klausuren korrigieren (lassen), anstatt forschen zu können. Damit sie das überhaupt noch bewältigen können, führen manche Multiple Choice-Tests ein. Das hat wiederum zur Folge, dass die Studierenden Dinge für die Prüfung auswendig lernen und dann wieder vergessen. Gerade in Bezug auf Evaluierungen von MitarbeiterInnen und Noten in Vorlesungen ist es verführerisch „neo-liberal“ mit den zu hohen Kosten zu argumentieren. Eine Kritik am Noten-System zu entwickeln, ist allerdings schwieriger. Auch ich gebe jedes Semester viele Noten. Zum einen ist mir klar, dass Noten nicht unbedingt die Leistung steigern, sondern genutzt werden können, um mit dem möglichst geringsten Aufwand durch das Studium zu kommen. Außerdem wird als Lehrender eine Vorselektion für den Arbeitsmarkt ausgeübt. Noten sind nicht gerecht, da jeder Lehrende seine eigenen Maßstäbe hat. Gerade Vergleichbarkeit ist nicht gegeben. Natürlich spielt auch der persönliche Eindruck eine Rolle. Einer Studierenden, die für gut gehalten wird, wird schneller eine gute Note gegeben als jemandem, der/die in die schlechte „Schublade“ eingeteilt wurde. Trotzdem widerspricht die Vergabe von Einheitsnoten von eins bis zwei meinem Gerechtigkeitsinn. Warum soll eine StudentIn, der/die sich Mühe gegeben und gute Ideen hat, die gleiche Note bekommen, wie jemand, der / die von Wikipedia abgeschrieben hat? Ist es sinnvoll, Studierende, die vom wissenschaftlichen Arbeiten keinen blassen Schimmer haben, immer durchkommen zu lassen, damit sie dann bei der Abschlussarbeit scheitern? Definitionskriterien für „Leistung“ und „Qualität“ müssen immer kritisch hinterfragt werden, trotzdem würde ich diesen Begriff nicht grundsätzlich ablehnen. Die LeserIn einer Abschlussarbeit erkennt doch, ob sie von der VerfasserIn gut durchdacht und fundiert recherchiert wurde oder nicht. Der Widerspruch ist klar und dennoch schwierig lösbar: Die eigenen Ansprüche an Kreativität und Qualität unterstützen die gesellschaftliche Funktion der Selektion für den Arbeitsmarkt, die ich eigentlich nicht ausüben möchte. Oft sind gerade junge Lehrende strenger, weil sie, wenn sie etwas machen, es besser machen wollen als der alte Professor, der vielleicht denkt: „Wem schadt’s denn? Mir is eh alles wurscht.“

Beim Schreiben dieses Textes ist mir meine Stellung als Lehrender gegen die Studierenden deutlich geworden. Gerade für engagierte Lehrende kann es frustrierend sein, wenn viele Studierende kein besonderes Interesse an ihrem selbstgewählten Studium haben. Es ist immer noch möglich, kritisches Denken und analytischen Fähigkeiten an der Universität zu lernen, wenn es wirklich gewollt wird. Die Teilung zwischen Lehrenden und Studierenden ist im Moment schwer in Frage zu stellen, weil ein großer Teil der KursteilnehmerInnen kaum Vorkenntnisse hat, nicht aus eigenem Interesse liest oder sich gar eine eigene Meinung bildet. Als Vorsitzender in Magister-Abschlussprüfung habe ich auch gemerkt, wie schnell man sich an neue Rollen gewöhnt. An der anderen Seite des Tisches wird auch in anderen Kategorien gedacht. Es ist nicht verwunderlich, dass sich viele ProfessorInnen nach 20 Jahren Lehre kaum noch in die Rolle des nervösen Studierenden hineinversetzen können, für den es um viel geht. Ohne die Studierenden mit einzubeziehen, ist eine kritische Reflektion des Systems und der eigenen Rolle nicht möglich.

Keine politische Opposition im „Ständestaat“

Gegenwärtig gibt es an der Universität keine interventionsfähige Opposition, der ich mich anschließen wollte. Auf der einen Seite steht das Rektorat, das die „neo-liberalen“ Reformen beschleunigt und auf der anderen Seite eine „unheilige Allianz“ von Kräften, die aus unterschiedlichen Gründen den Status Quo verteidigen wollen. Bei den unzähligen Sitzungen auf den verschiedenen Ebenen, an denen ich teilgenommen habe, wurde nie auch nur eine Frage politisch diskutiert. Durch die ständigen Änderungen der Studienpläne und Institutionen wird der Apparat der MitarbeiterInnen auf Trab gehalten. Man lernt schnell die Schlagwörter selbst zu benutzen, um seine eigene Forschung absichern zu können. Die Umsetzung der Pläne und Verordnungen gilt als Preis für selbstbestimmtes Forschen. Die Agenda ist so eingerichtet, dass jeder Versuch die Fragen von der Ökonomisierung der Bildung oder auch der Verschulung der Universität politisch zu diskutieren, erst gar nicht zu Stande kommt. So ist es nicht verwunderlich, dass der Anstoß zur Kritik von außen durch die Studierenden-Proteste 2009 kommen musste. Leider ist von diesem Druck nun nichts mehr zu spüren. Auch die meisten (heimlichen) Kritiker der „neo-liberalen“ Reformen argumentieren wieder „juristisch“ oder weisen auf Widersprüche in Verordnungen hin. Wie auch der Betriebsrat, so ist auch die ÖH (Österreichische Hochschülerinnenschaft) fest in der Hand von quasi Parteiorganisationen, was Engagement nicht unbedingt attraktiver macht. Mit der Gewerkschaft bin ich noch nie in Berührung gekommen. Es scheint keinerlei Bestrebungen zu geben, neue Mitglieder zu gewinnen. Die Arbeiterkammer zieht mir jeden Monat 0,5 Prozent von meinem Bruttolohn ab, ohne sich mir jemals in einem Brief vorgestellt haben. Die Sitzungen der nach „Ständen“ getrennten vier Kurien (ProfessorInnen, Mittelbau, allgemeines Personal und Studierende) sind in der Regel so langweilig, dass besonders jüngere KollegInnen sich kaum engagieren. Oft geht es in Kuriensitzungen nur darum, zu erraten, was der Rektor will oder wann er wem welche Zusagen gemacht hat. Zwischen denjenigen, die dank der alten Gesetzbebung quasi verbeamtet sind, und den Jüngeren, die unter Existenzdruck arbeiten müssen, scheinen Welten zu liegen. Die „externen“ MitarbeiterInnen, die jedes Semester hoffen müssen, einen neuen Vertrag zu bekommen, sind aus den Kommunikationsstrukturen weitgehend ausgeschlossen. Die Trennlinien verlaufen hier nicht nur zwischen Alt und Jung. Auch Habilitierten ohne feste Stelle wird eine prekäre Beschäftigung angeboten, wenn sie Masterarbeiten mit einem Werksvertrag betreuen sollen. Konflikte entbrennen häufig auch nicht entlang des ständestaatlichen Konstrukts, sondern zwischen Abteilungen und Instituten. Die Einteilung in vier Kurien erscheint mir künstlich und hat mit dem Arbeitsalltag wenig zu tun. Die Auflösung der Kurien und ihre Ersetzung durch ein einheitliches „Faculty-Modell“ könnte ein Schritt in die richtige Richtung sei, allerdings wird das Interesse an den „Selbstverwaltungsgremien“ nicht steigen, wenn sie keine wirklichen Entscheidungskompetenzen haben. Besonders fraglich finde ich die Versuche, eine Scheindemokratie zu etablieren, wo die Mitbestimmung abgeschafft wurde. Viele Gremien wie Institutsversammlungen, Studienkonferenzen oder Curricular-Arbeitsgruppen, die nur beratende Funktion haben, stimmen trotzdem noch ab. Es kann zwar nicht mitentschieden werden, aber in Curricular-Arbeitsgruppen soll die Verantwortung für neue Studiengänge übernommen werden. Statt die Infragestellung der herkömmlichen Strukturen von „neo-liberaler“ Seite als Chance zu begreifen und selber Kritik zu entwickeln, wird von vielen nur versucht, das Alte unter neuem Namen weiter zu betreiben.

Alles Elite?

Seit einigen Jahren wird von „neo-liberaler“ und konservativer Seite versucht, den Begriff „Elite“ positiv zu besetzen, die Einrichtung von Elite-Universitäten wird gefordert. Problematisch ist auch die inflationäre Verwendung des Eliten-Begriffs von links. Gibt es Zugangsbeschränkungen (wie in fast allen Ländern der Welt), wird gleich von der Einführung eines „Elite-Studienganges“ gesprochen und so getan, als ob es ein Menschenrecht sei, dass jeder in Wien Publizistik studieren darf. Was ist eigentlich eine Elite-Universität? Nur ein paar Zahlen: 2008 hatte  die Harvard-Universität  mit 3,46 Milliarden US-Dollar ein ähnliches Budget wie das österreichische Ministerium für Wissenschaft und Forschung für alle Universitäten und weitere Ausgaben. Insgesamt besaß Harvard 2008 ein Vermögen von 36,8 Milliarden US-Dollar. Die Universität Wien hat 6,7 Millionen Bücher, Harvard aber 16,2 Millionen. Bisher ist es eine Illusion, in Kontinentaleuropa eine Eliteuniversität zu schaffen, die mit den US-amerikanischen vergleichbar wäre. Zum einem ist der finanzelle Aufwand sehr hoch und politisch bisher nicht durchzusetzen, die Ressourcen derart ungleich zu verteilen wie in den USA. Durch die deutsche „Exzellenzinitiative“, in der die gewinnenden Unis und Projekte einige Millionen Euro pro Jahr mehr kommen, werden die Unterschiede zwischen den Universitäten vergrößert, von der Finanzkraft der amerikanischen Top-Universitäten werden auch die Gewinnerinnen trotzdem weit entfernt sein. Oft wird der Eindruck erweckt, dass es früher ohne Studiengebühren und bei einer Tabuisierung des Elitenbegriffs keine soziale Selektion gegeben hätte. Wie ist es zu dann zu erklären, dass auch bei einem kostenlosen Studium ohne Zulassungsbeschränkungen der Anteil der ArbeiterInnenkinder trotzdem abgenommen hat? Ist es nicht positiv, dass endlich wieder offen über Eliten gesprochen wird, anstatt so zu tun, als würden Klassenherkunft und sozialer Habitus keine Rolle mehr spielen? Was war verlogener als die sozialdemokratische Gleichheitsideologie der 1970er Jahre, nach der scheinbar alles für alle offen war? Im alten Magisterstudiengang brachen in Deutschland über die Hälfte der Studierenden das Studium ab und bekamen nie einen Abschluss. Der BA wird daher nicht ganz zu Unrecht als „Abschluss für Studienabbrecher“ bezeichnet.

Es gilt auch die Erfahrung in den „real-sozialistischen“ Ländern miteinzubeziehen Als Ex-Leninist habe ich mit dem Elitebegriff weniger Probleme als viele SozialdemokratInnen. Die Idee einer revolutionären Avantgarde war immer schon elitär. Nicht jede sollte in die „Kader-Partei“ aufgenommen werden. Das Universitätssystem in der Sowjetunion, der DDR oder China beruhte in einen viel größeren Maß auf dem Ranking der Hochschulen und der Auslese der Studierenden als in Westdeutschland oder Österreich. Zumindest zeitweise wurden dadurch Studierende aus „bildungsfernen Schichten“ besonders gefördert. In China weiß heute jedes Schulkind, welche Universitäten als die besten des Landes gelten. Es wird immer Menschen geben, die engagierter und aktiver sind als andere, die größere Risiken eingehen, intelligenter sind, mehr lesen oder besser erklären können. Daraus sollte natürlich kein Herrschaftsanspruch abgeleitet werden und die Frage gestellt werden, woher diese Unterschiede rühren. Damit hängt natürlich auch die Frage von „sozialem Kapital“ und Habitus zusammen. Im Moment wird leider der akademische (und bildungsbürgerliche) Habitus kaum in Frage gestellt. In der gegenwärtigen Debatte muss vor allem die Entpolitisierung des Elitenbegriffs hinterfragt werden. Viele Fragen sind heute offen: Soll in einer nachkapitalistischen Gesellschaft jeder Zugang zu allem gewährt werden, ohne Einbeziehung von Fähigkeiten sowie der gesellschaftlichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten?

Die Notwendigkeit eines Netzwerkes

Je detaillierter ich über meinen Arbeitsalltag schreibe, um so mehr verstricke ich mich in der Logik des Hochschulsystems. Eine grundsätzliche Kritik an der Universität kann nur im Kontext der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt werden. Es scheint paradox zu sein: In dem Moment, wo Selbstdisziplinierung und Selbstausbeutung die Fremddisziplinierung durch Stechuhr und Fließband in der Ökonomie ersetzen, wird die Universität immer mehr verschult. Alles soll durch die Lehrenden benotet und überwacht werden. Im Gegensatz dazu sollen sich die späteren ArbeitsnehmerInnen ihr eigenes Panoptikum bauen. Nicht alles, was die RektorInnen für „Employability“ halten, muss auch von den KapitalistInnen so bewertet werden. Oft wird in linker Kritik das ideologische Geschwätz von der Universität als Wirtschaftsunternehmen mit der Realität eins zu eins gesetzt. Der Zusammenhang zwischen Universität und Arbeitsmarkt muss genauer herausgearbeitet werden. Welche Funktionen haben Universitäten in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft? Was sind die gesellschaftlichen Gründe für die Reformen der Hochschulen? Inwiefern handelt es sich um objektive Notwendigkeiten und was ist Ideologie, bzw. wie werden Notwendigkeiten konstruiert? Warum werden für Arbeiten, für die vor 20 Jahren keine Matura gebraucht wurde, heute Universitätsabschlüsse verlangt? Auf die (Schein)-Ökonomisierung der Wissenschaft kann nur mit einer Politisierung der Debatte geantwortet werden. Allerdings macht es im Moment wenig Sinn, diese Debatten in den bestehenden Gremien anzustoßen. Wir brauchen Orte der theoretischen Reflektion, die jenseits des Alltagsgeschäftes liegen und nicht an institutionelle Grenzen gebunden sind. Zunächst könnten wir ein Netzwerk der kritischen Wissenschaft aufbauen - ein anderes Forum, in dem ProfessorInnen, AssistentInnen, MitarbeiterInnen und Studierende sich austauschen können. Vor und nach den Studierendenprotesten von 2009 hat es mehrere Organisationsversuche gegeben. Sie sind entweder nach einiger Zeit eingeschlafen oder es blieben nur noch ein dutzend Leute übrig. Zum einen ist es in Zeiten der Prekarisierung schwierig, noch weitere zusätzliche und vor allem regelmäßige Termine wahrzunehmen. Außerdem gibt es auch unterschiedliche Herangehensweisen. Soll sich die Kritik in erster Linie gegen die „Bologna-Reformen“ richten, die „alte“ Universität wieder herbeigewünscht oder eine grundsätzliche Kritik an den Hochschulen als Institutionen entwickelt werden? Auch die persönlichen Erfahrungen sind kein einfacher Ansatzpunkt, weil die Arbeitsbedingungen unter den verschiedenen ProfessorInnen stark variieren.  Da für viele das Verbleiben an der Universität in Zukunft unklar ist, denken sich manche, warum sie überhaupt Uni-Politik machen sollen. Sicherlich gibt es an der Uni noch einige Leute links von der Sozialdemokratie, die sich noch gar nicht kennen und Lust haben, gemeinsam Kritik an der Universität als System zu entwickeln. Mich interessieren in diesem Zusammenhang vor allem vier Punkte:

1. Entwicklung einer fundierten politischen und theoretischen Kritik an der Universität als System innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Dabei wäre es sinnvoll, Texte aus der Vergangenheit und Gegenwart zu sammeln, die sich diese Aufgabe gestellt haben (z.B. Gramsci, Adorno, Althusser, Derrida, Gorz, Edufactory, Uninomade usw.).

2. Beschäftigung mit alternativen und radikalen Bildungsreformen in der Vergangenheit. Die vielseitigen Erfahrungen in der jungen Sowjetunion, dem kulturrevolutionären China, dem anarchistischen Spanien oder auch in der DDR spielen in der Debatte im Moment gar keine Rolle. Viele vertreten einfach ohne kritische Reflektion die sozialdemokratische Ideologie der 1970er, die sich vor allem gegen Studiengebühren und „Leistungsorientierung“ richtet. In diesem Zusammenhang ist die Frage interessant, ob sich die Bedeutung und Funktion von Bildung und Wissen im Post-Fordismus grundlegend gewandelt hat und daher auch Alternativen zum bestehenden Bildungswesen neu formuliert werden müssen.

3. Was heißt kritische Wissenschaft oder Widerstand heute? Gibt es in anderen Ländern Ansätze, von denen wir etwas lernen können? Es geht darum, eine offensive Kritik zu entwickeln und eine politische Kraft jenseits der „neo-liberalen ReformerInnen“ und der „unheiligen Allianz“ gegen alle Veränderungen aufzubauen.

4. Macht es Sinn Forderungen aufzustellen oder programmatische Überlegungen zu entwickeln? Bei der „Uni brennt“-Bewegung 2009 wurde ein Forderungskatalog[3] entwickelt, der später kaum noch diskutiert wurde.

Ein Netzwerk an der Universität Wien und in Österreich kann nur ein Anfang sein. Die Internationalisierung der Bildungsapparate wird auch uns früher oder später zur Internationalisierung der Organisierung zwingen.

E-Mail: Anton.pam@gmx.net


[1] Andre Gorz (1971): „Zerschlagt die Universität“ http://www.grundrisse.net/grundrisse24/ZerschlagtDieUniversitaet.htm

[2]  „Peer Review“ bedeutet, dass mindestens zwei externe Gutachter, die dem Autor nicht bekannt sind, den anonymisierten Artikel begutachten. Auf Grund der Bewertungen entscheidet dann die Redaktion über die Veröffentlichungen. Im deutschsprachigen Raum gibt es hingegen nur Änderungsvorschläge der Redaktion. Die meisten wissenschaftlichen Verlage in Deutschland und Österreich drucken bei Büchern immer noch einfach die Manuskripte ab, ohne Review oder Editieren.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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