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Mario Becksteiner: Militant Research and Research Militancy

Einleitung

Beide Begriffe sind für viele Studierende und auch für manch langjährig gediente/n AkademikerIn, insbesondere im deutschsprachigen Raum, befremdlich, fordern sie doch ein grundsätzliches Verständnis von Wissenschaft heraus. Wir werden in unserem Artikel versuchen eine Annäherung an das Konzept der militanten Untersuchung darzulegen. Beginnend mit einer begrifflich/theoretischen und historischen Verortung, gehen wir über zu einigen grundlegenden Überlegungen theoretischer Natur. Dabei greifen wir auf Oskar Negt und Alexander Kluge zurück, die unseres Erachtens eine etwas verschüttete und zu wenig beachtete Inspirationsquelle militanter Untersuchung sein können. Ihr Ansatz gibt sowohl wichtige Hinweise zur Frage widerständiger Subjektivität im Kontext intersubjektiver Widerspruchskonstellationen, als auch zur Frage gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge so wie deren Konstitution. Die persönliche Motivation zur Beschäftigung mit militanter Untersuchung entstand bei uns aus der Universitätsbewegung 2009/10 in Wien, sowie der schon längeren Unzufriedenheit, zumindest eines der Autoren, mit der Mainstream–Forschung im Bereich der Industrie- und Arbeitssoziologie sowie der Gewerkschaftsforschung. Die Unibewegung war für uns und für viele andere eine positive Irritation. Die Autonomie der Proteste, die Experimentierfreudigkeit mit neuen Formen der Organisierung und der eingesetzten Kampfformen, war quantitativ und qualitativ unseres Erachtens neu für Österreich. Auch die radikalen Debatten in Teilen der Bewegung und die aus gewohnten Formen der politischen Repräsentation ausbrechenden Momente offensichtlich überschüssiger Subjektivität wirkten inspirierend, aber warfen auch viele Fragen auf. Der  Text ist vorläufiges Ergebnis von Diskussionen der beiden Autoren untereinander aber zusehends auch in einem breiteren Kontext. Die treibende politische Frage ist für uns, wie konstituiert sich Widerständigkeit auf subjektiver Ebene, welche Zusammensetzungsprozesse führen zu einer Entfaltung und welche Schlüsse sind daraus politisch zu ziehen (Diese Frage bleibt im Artikel offen und wäre Gegenstand einer eigenen Auseinandersetzung).

Militanz ist offensichtlich nur schwer vereinbar mit dem Postulat einer Mainstreamwissenschaft, die sich an Sachlichkeit, Objektivität und Distanzierung orientiert. Insbesondere der humboldtsche Bildungsbegriff und das darauf aufsetzende Wissenschaftsverständnis ist geprägt von einer Trennung des noblen Räsonierens über Gesellschaft und der mit Anrüchigkeit in Verbindung gebrachten Tat, der theoretisch unterfütterten politischen Aktion im Sinne gesellschaftlicher Veränderung. Historisch ist dies Verbunden mit dem Scheitern bürgerlicher Revolutionen im deutschsprachigen Raum. „Die der Bildungstheorie immanente Kritikfähigkeit wurde in die Köpfe der Menschen verbannt, ab nun erschöpft sich Bildung in der Reflexion – die Aktion erhielt den Nimbus des primitiven und Anrüchigen. Ganz in diesem Sinne hat Hegel den Unterschied zwischen dem revolutionären Frankreich und Deutschland einmal folgendermaßen charakterisiert: »Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe, dabei lässt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner«.“ (Ribolits in: Plattform Massenuni (Hg.), 49) Anders ausgedrückt vollzog sich im deutschsprachigen Raum eine fetischisierte Trennung im wissenschaftlichen Bereich, nämlich der zwischen Kopfarbeit im Sinne von Forschung und Theoriebildung und der politischen Handarbeit im Sinne einer praktischen Involviertheit der Wissenschaft in gesellschaftliche Kämpfe.  Diese Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit im wissenschaftlichen Betrieb führte - und hier ist Österreich noch einmal stärker betroffen als zum Beispiel Deutschland - auch zu einer massiven Unterrepräsentation von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im wissenschaftlichen Betrieb. Betrachtet man zum Beispiel die Forschung zu industriellen Beziehungen in Österreich, so sind zwei Momente sehr augenscheinlich. Erstens gab und gibt es eine starke Konzentration auf die Frage der makropolitisch-korporatistischen Einhegung des industriellen Konflikts im Sinne einer funktionalistischen, auf die Verbände und politischen Organisationen orientierten Forschung und  Politikberatung, eingebettet in wohlfahrtsstaatliche Diskurse. Zweitens zielen Forschungen in der so genannten Arbeits- oder Industriesoziologie zumeist auf die strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt. Wenn Belegschaften oder BetriebsrätInnen auftauchen, dann zumeist als Opfer der Veränderungen oder als Unterstützungsbedürftige, um mit den Veränderungen zu Rande zu kommen. Hier verbindet sich die Neutralität und Objektivität einer bürgerlichen Wissenschaft mit den spezifischen paternalistischen Herrschaftsdiskursen des österreichischen korporatistischen Systems. Unter diesen Rahmenbedingungen verschwand in Österreich allerdings auch der Begriff der „Militanz“, der in der Arbeitssoziologie andere Länder existiert, zwar nicht als Mainstream-Begriff, aber durchaus als heuristische Provokation, die eine Existenzberechtigung verteidigen konnte. Spricht man in Österreich über „Militanz“, so werden in erster Linie zwei Assoziationsketten damit verknüpft. Zum ersten, die dem Wortstamm entsprechende Kette, nämlich „militare“, „als Soldat dienen“, wobei Militanz auch sehr schnell als Keimform „nicht–demokratischer“ politischer Eskalationsstrategien angesehen wird, welche nicht selten als Springquelle autoritärer Tendenzen identifiziert werden. Der zweite Strang verknüpft sich, insbesondere in der politischen Debatte mit der verkürzten Assoziation eines bestimmten „Milieus“ politischer Aktivität, die auf Gewaltanwendung verkürzt wird, DIE Autonomen oder DIE AnarchistInnen. Insbesondere dieser Strang wird entweder als denunziatorischer Begriff in der Öffentlichkeit verwendet (siehe die Debatte um „militante Tierschützer“ oder „militante Feministinnen“) oder als Signifikation der nicht mehrheitsfähigen Ablehnung des politischen Systems.

In anderen gesellschaftlichen Konstellationen besitzt der Begriff der Militanz eine andere Konnotation. Militanz wird hier weniger im Sinne der vertikalen militärischen Struktur gesehen, sondern als die Aktivität antagonistischer Subjekte an der gesellschaftlichen Basis. So weisen Länder mit weniger engen integrativen Tendenzen im Bereich der industriellen Beziehungen auch in der Arbeitsforschung einen heuristischen Begriff der Militanz auf, der die Basisaktivität als wichtigen Moment gesellschaftlicher Kämpfe  wahrnimmt. Das bedeutet nicht, dass nicht von vielen diese Militanz als Störfaktor institutionalisierter Konfliktlösungsmechanismen gesehen und damit zum Objekt von Regierungstechniken erklärt wird. Es bedeutet schlichtweg, dass auch aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung von Militanz an der Basis -  zum Beispiel im gewerkschaftlichen Kontext – diese nicht vollkommen negiert werden kann.

„Militant Research“, speist sich eben aus dieser Sichtweise von Militanz. Wir setzen ganz bewusst bei diesen Begriffen an, weil für österreichische Verhältnisse die Betonung der Militanz im zweiteren Sinne eine begriffspolitische und heuristische Provokation darstellt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zusehende Unfähigkeit etablierter politischer Kräfte ebenso wie auch die autoritären Tendenzen der neoliberalen Staatlichkeit, provozieren geradezu den Blick auf emanzipatorische und antagonistische Momente an der Basis unserer Gesellschaften, um politische Resonanzräume dafür zu öffnen. Die auf unterschiedlichen Ebenen krisenhafte Entwicklung des „real existierenden Kapitalismus“ eröffnet zurzeit auch realiter eine Perspektive der Hinwendung zu antagonistischer Subjektivität im Wissenschaftsbetrieb. Doch verweilen die Benennungen derartiger Forschung noch im Kanon der vermeintlichen wissenschaftlichen Objektivität. Das Vorwort „kritisch“ hat Konjunktur, Konzepte der Aktionsforschung oder des „strategic research“ im Bereich von Gewerkschaftsforschung/Organizing und Arbeitssoziologie gedeihen. Doch eine klare und auch öffentlich gemachte politische Positionierung dieser Forschung lässt sich damit nicht deutlich machen. „Militant research“, lässt allerdings wenig Zweifel darüber aufkommen, was der Standpunkt der eigenen Wissensproduktion ist. Die vermeintliche Objektivität DES Wissenschaftsbetriebs ist mit dem Bezug zur antagonistischen Militanz und der Selbsttätigkeit über ein gutes Stück schon zurückgewiesen.

Hier geht es uns um ein Wissen, das die Subjekte ins Zentrum stellt, das ihre Selbstverortung in widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren eigenen Standpunkt sowie Möglichkeiten der Intervention in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zum Ausgangs- und  Zielpunkt der Wissensproduktion macht. Es geht also um ein Wissen, das die eigenen widersprüchlichen Existenzbedingungen in kapitalistischen, patriachalen, bürokratischen oder staatlichen Herrschaftsverhältnissen erforscht. Und das benennt auch den Kern dessen, was wir in Anlehnung an collectivo situaciones als „research militancy“ bezeichnen. „We think of our practice as a double movement: to create ways of being militants that escape the political certainities established a priori and embrace politics as research (in this case it would be `research militancy´), and, at the same time, to invent forms of thinking and producing concepts that reject academic procedures, breaking away from the image of an object to be known and putting at the centre subjective experience (in this case, it would be `militant research´).” (Collectivo Situaciones in: Shukaitis/ Graeber/ Biddle 2007, 74)

„Militant research“ verweist auf eine lange Praxis einer Theoriebildung von Unten, die ihren Resonanzraum zumeist nicht im bürgerlichen Wissenschaftskanon gesucht und gefunden hat, sondern in historischen und aktuellen Auseinandersetzungen in und über unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche. Dabei allerdings ist der Begriff der Theoriebildung selbst zu problematisieren. Theorie, als die systematische Ausarbeitung synthetisierender Begriffssysteme, liegt in der Tradition des „militant research“ nicht immer vor. Vielmehr handelt es sich häufig um ein (Erfahrungs-)Wissen, das aus der Notwendigkeit widerständiger Praxis gegenüber den unterschiedlichsten Formen von Unterdrückung entsteht und dafür offen bleibt. Es ist ein Wissen, das oft in verborgenen Praxen beheimatet ist und historisch immer wieder seinen Ausdruck in Revolten, Revolutionen und Aufständen fand und findet. Es ist ein Wissen, das oft fragmentarisch bleibt, da es nicht zum Zwecke der theoretischen Ausformulierung entstand, sondern aus der Notwendigkeit, die eigenen Möglichkeiten des sich zur Wehr Setzens zu erkennen und kommunizierbar zu machen, aber nicht nur in der Negativität der Ablehnung verweilt, sondern Spuren neuer Formen von Vergesellschaftung beinhalten kann. Und es ist ein Wissen, das nur schwer oder kaum den Eingang gefunden hat in den Kanon der bürgerlichen Theoriebildung: nicht nur, weil es sich oft der akademischen Kultur und einer theoretischen Diskurssprache entzieht, sondern auch, weil es sich nicht einfach aus seinem spezifischen (widerständigen) Kontext herauslösen und in die Ordnung theoretischer Normierung einpassen lässt. Es  entsteht dort, wo die Ordnung der bürgerlichen Welt und deren theoretisch-/ begriffliche Erfassung an die Schranken ihrer eigenen konstruierten Objektivität stößt.

Einen der wichtigsten Resonanzräume fand diese Form der Theoriebildung in den ArbeiterInnenbewegungen und immer wieder gab und gibt es Versuche, derartiges Wissen als strategiebildenden und organisatorischen Kern in der ArbeiterInnenbewegung zu positionieren. Rosa Luxemburg, die mehr als viele ihrer ZeitgenossInnen auf die Selbstaktivität und die Spontaneität der Massen setzte, schätzte die Artikulation dieses Gegenwissens als wichtigen Motor revolutionärer Energie. Sie betonte, es „ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer laut zu sagen, was ist.“ Viele in der ArbeiterInnenbewegung blieben diesem Grundsatz der Artikulation des Gegenwissens treu. Zum Beispiel ging die Philosophin Simone Weil selbst geraume Zeit in die französischen Fabriken und beschreibt in ihren Fabrikstagebüchern die erniedrigenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen ihrer Zeit. Ebenfalls in Frankreich führten mehrere Gruppen sozialistisch orientierter WissenschafterInnen systematische Untersuchungen zur Frage der Situation und Widerständigkeit von ArbeiterInnen durch, zum Beispiel die Gruppe „Socialisme ou Barbarie“. In der gleichnamigen Zeitschrift wurden regelmäßig so genannte „tèmoinage“ veröffentlicht, Selbstzeugnisse von ArbeiterInnen über ihre Lebenssituation und ihren alltäglichen Kampf gegen die betriebliche Tyrannei, die den Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen bildeten. (vgl. dazu: Gabler 2009)

Dieses anklagende „zur Sprache bringen“ wirkte stimulierend für viele linke WissenschafterInnen. Nicht nur wurde damit die Anonymität, Uniformität und vermeintliche Rationalität der Fabrik aufgebrochen und die Widersprüche ans Licht gezerrt, sondern es erschloss sich zudem für viele WissenschafterInnen eine vollkommen andere gesellschaftliche Realität. Die von den ArbeiterInnen zur Sprache gebrachten Selbsteinschätzungen und Sichtweisen der Welt konstituierten eine Realität, die über weite Strecken im Widerspruch stand zur herrschaftlich geformten Öffentlichkeit im Betrieb, im Staat, in den Medien, in den Parteien, aber auch zur Öffentlichkeit, die durch die bürgerliche Wissenschaften konstruiert wurde.

In einigen marxistischen Gruppen und Kreisen verdichtete sich nach dem 2. Weltkrieg und angesichts der immer offensichtlicher werdenden Versteinerung der stalinistischen Parteien die Erkenntnis, dass radikale gesellschaftliche Veränderung nur bewerkstelligt werden kann, wenn die Analyse und Strategiebildung dort ansetzt, wo kapitalistische, patriachale, bürokratische, staatliche und andere Herrschaftsprozesse auf die Widerspenstigkeit und den Widerstand der Subjekte in ihren Lebens- und Arbeitszusammenhängen treffen. Nicht mehr die Partei, der Staat oder die Bewegungen des Kapitals standen für diese Gruppen im Zentrum der Analyse und Strategiebildung, sondern die selbsttätigen und widersprüchlichen Subjekte, die sich gleichzeitig mit der Herrschaft engagierten und trotzdem immer wieder in Opposition zu ihr traten. Das Ernstnehmen der Subjekte in ihrer historisch und räumlich jeweils spezifisch und oft auch widersprüchlich hergestellten Autonomie gegenüber unterschiedlichster Herrschaftsformen (also zum Beispiel auch gegenüber der Partei, den Gewerkschaften, als auch natürlich gegenüber dem Kapital und vermeintlich breit akzeptierten gesellschaftlichen Normen), bildete die Grundlage dieser theoretischen Arbeit.

Diese Form der Theoriebildung verweigerte sich nicht nur einem Sozialismusverständnis, das sich in staatsinterventionistischen, reformistischen oder stalinistischen Parteiprojekten erschöpfte, sondern es wendete sich auch gegen eine strukturalistische Marxinterpretation, die über weite Strecken die Subjektivität und Widerständigkeit von Menschen an die Führung durch Parteien koppelte und damit die historische Kraft der autonomen Kämpfe unterbetonte. Dementsprechend erfassen collectivo situaciones mit Tronti einen sehr eingänglichen Wechsel im Erkenntnishorizont des „miltant research“: „Capital was always the prime actor in the historical drama; workers organizations were left to scramble to adjust to its latest deprivations. Against this Mario Tronti… proposed what he termed a »Copernican Shift.« Let us, he said, re–imagine history from the assumption that resistance is primary and it’s capital that must always readjust.” (Shukaitis/ Graeber 2007: S. 27)

Conricerca

Der italienische Operaismus, die theoretisch und politisch einflussreichste aber nicht einzige Strömung des autonomen Marxismus, stellte sich zu Beginn der 60er Jahre am konkretesten die Frage der Verbindung von Theorie und politischer Praxis. Romano Alquati, resümiert im Vorwort zur Wiederherausgabe seiner Texte 1974 (Alquati in: TheKla Nr.: 6), die Versuche bezüglich einer politisch motivierten Wissenschaft. Als positiv bewertet er das Entstehen einer Idee der „conricerca“, das Konzept der „Mit–Untersuchung“. Den Kern dieses Konzeptes bildete der Versuch, das Subjekt – Objekt Verhältnis zwischen ForscherIn und Untersuchungsobjekt aufzulösen. Forschung und Erfahrung sowie subversive Aktion sollten sich befruchten und neue Formen des Wissens und neue Subjektpositionen sowohl von WissenschafterInnen als auch von ArbeiterInnen entstehen lassen. Rückblickend stellt Alquati allerdings fest, dass diese Intention im besten Fall nur bruchstückhaft verwirklicht wurde. Strategisch zielte das Konzept der „conricerca“ darauf ab, die Autonomie der Kämpfe zu befeuern und Verbindungen zwischen Wissenschaft und ArbeiterInnen auf Basis eines ArbeiterInnenstandpunktes aufzubauen, doch blieb es laut Alquati bei Experimenten und Annäherungsmodellen.

Was allerdings ohne Zweifel als wichtige erkenntnistheoretische Errungenschaft und als immanent politischer Moment dieser Forschung bleibt, ist die Entmystifizierung des Begriffs der Spontaneität, wie er auch von dissidenten MarxistInnen früher oft hochgehalten wurde. Spontaneität der Kämpfe oder „der Klasse“, zurückgeführt auf die grundsätzliche und oft mythologisch überhöhte Ablehnung kapitalistischer Gesellschaft durch ArbeiterInnen wurde analytisch dekonstruiert und mit dem Begriff der Klassen(neu)zusammensetzung versucht erfassbar zu machen. Die Neuzusammensetzung speist sich aus zwei Momenten, der technischen und der politischen Neuzusammensetzung. Die technische Neuzusammensetzung kann subsumiert werden als die psycho–physische Zurichtung von Arbeitssubjekten unter dem aktuellen Stand der Entwicklung der Produktivkräfte, inklusive der erweiterten Reproduktionsfähigkeit des Kapitals, gesichert durch die staatlichen und auch zivilgesellschaftlichen Institutionen. Die politische Neuzusammensetzung speist sich aus den Formen des Widerstandes, den gebrochenen aber oft trotzdem devianten, dissidenten und subversiven Momenten von Subjektivität, gegenüber der auf Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte befindlichen kapitalistischen Gesellschaftsformation. Insbesondere die weite Fassung des Begriffs der technischen Neuzusammensetzung im Zuge postfordistischer Entwicklungen, der verstärkten Subsumtion von Gesellschaftlichkeit unter das Kapitalverhältnis (fabrica diffusa), schärfte den Blick für Widerstände abseits der industriell imaginierten ArbeiterInnenklasse. Feministische, ökologische, stadtteilbezogene oder migrantische Kämpfe wurden zu wichtigen Terrains der Formierung widerständiger Subjektivität. Die vermeintliche Spontaneität erschien nun analytisch und auch politisch antizipativ erfassbar als oft untergründiger Prozess der Neuzusammensetzung.

Im folgenden wollen wir einen vielleicht etwas verschütteten Zugang des Denkens einer autonomen Subjekttheorie darlegen, nämlich den von Oskar Negt und Alexander Kluge, die gemeinhin nicht als „Militante“ bezeichnet werden, aber unseres Erachtens eine militante Subjekttheorie entwickelt haben. Die Wahl ist aber auch aus vier weiteren Gründen auf Negt und Kluge (im weiteren nur noch N/K) gefallen. Erstens weisen sie einen mythologischen Zugang zu Widerständigkeit von Lohnabhängigen zurück und begründen das aus einer Subjekttheorie heraus, die, geprägt durch die Frankfurter Schule, vorsichtig ist gegenüber voluntaristischen und opportunistischen Abgleitflächen in Richtung „Arbeitertümelei“. Zweitens bieten sie mit ihrem Ansatz Andockpunkte an poststrukturalistische Subjekttheorien, die wir allerdings nicht weiter ausführen können. Drittens ist es eine pragmatische aber auch zugleich problematische Entscheidung, denn zumindest einer der AutorInnen forscht im Bereich der Arbeits- und Gewerkschaftsforschung und steht damit in einem Naheverhältnis zur Frage von Arbeitskämpfen und deren Konstitution im Bereich widersprüchlicher Subjektivität. Und viertens erscheint der starke Subjektbezug von Negt und Kluge sehr fruchtbar einsetzbar für postfordistische Arbeitswelten, weil er immer wieder Widersprüche innerhalb der Subjekte betont, was auf die heutigen postfordistischen Arbeitsrealitäten sehr stark zutrifft.

Macht und Widerstand

Trontis Aufruf dazu, sich die Geschichte neu anzueignen, verweist auf ein Denken von Macht, das wir als ein „radikal relationales“ auffassen. Zum Verständnis eines relationalen Machtbegriffs schreibt Alex Demirovic: „Denn Macht stellt eine Relation zwischen den herrschenden Klassen bzw. Fraktionen und den Herrschaftsunterworfenen dar und ist kein Ding, dass man besitzen kann.“ (Demirovic in: Bescherer/ Schierhorn (Hrsg.) 2009, 70) Macht in Form eines Verhältnisses  zu denken bedeutet, dass Macht und die Ausübung von Macht in Form von Herrschaft immer auch ihren Gegenpol benötigt um sich zu konstituieren. Damit bekommt eine Formulierung von Karl Marx im Manifest der kommunistischen Partei, nämlich dass die Geschichte „die Geschichte von Klassenkämpfen“ ist, eine Wendung. Klassenkampf passiert in Permanenz und ist nicht nur getrieben von der Expansions- und Bewegungslogik des Kapitals, sondern die Macht des Kapitals und seine unterschiedlichen Herrschaftspraxen müssen beständig ankämpfen und sich anpassen an die Versuche der vermeintlich Machtlosen, sich einem gegebenen Machtverhältnis zu entziehen oder innerhalb desselben eine Neuverteilung der Kräfte in Gang zu setzen. Woher schließlich kommt das permanente Bedrohungspotential der Macht von Oben durch subversive, deviante, dissidente oder widerständige Subjektivität? Gibt es doch den Anschein, als würden sich die Menschen die meiste Zeit in ihr Schicksal fügen und würden ihre Existenz als Lohnabhängige akzeptieren. Woher kommen Motive dieser Revolten, des Aufbegehrens, die für eine gewisse Zeit die bürgerliche Ordnung in Frage stellen können und an deren Horizont die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft erkennbar wird? Im Zentrum der militanten Forschung steht also die Frage von Subjektivität zwischen Widerstand und Anpassung.Diese Frage wurde und wird von militanten WissenschafterInnen aufgegriffen. Viele begannen zuerst im Lichte von Arbeitskämpfen und erst später im Kontext anderer gesellschaftlicher Kämpfe, diese Fragen mit einer Re- Lektüre von Marx zu bearbeiten. Ziel war es, die dogmatische und starre Leseart des marxschen Werkes aufzubrechen. Kern der Kritik war, die Klassen und ihre Kämpfe, sowie ihre spezifische Zusammensetzung wieder als Akteure zu positionieren, also das Primat der Kämpfe gegenüber der Bewegung des Kapitals wieder herzustellen.

Ihre Kritik an dogmatischen und strukturalistischen Marxinterpretationen zielte darauf ab, dass diese zu stark auf die kapitalinherenten Bewegungen blickten und zu wenig auf den andauernden und konfliktorischen Prozess der Verwandlung von menschlicher (lebendiger) Arbeit in tote Arbeit. Die Analyse der Kapitalwerdung und – bewegung beleuchte zu wenig ihren Gegenpol, nämlich das menschliche Arbeitsvermögen als Faktor, der nicht vollkommen in der Kapitallogik aufgeht, N/K formulieren demnach sogar etwas über das Ziel hinausschießend: „Offensichtlich besitzen wir eine ausgeführte Theorie der politischen Ökonomie des Kapitals: Das Kapital von Marx. Der Gegenpol dazu ist eine politische Ökonomie der Arbeitskraft. Hierzu existiert kein theoretisches Fundament. Marx hat diese politische Ökonomie der Arbeitskraft, die als Gegenseite des Kapitals in seinen Gedankensystem immanent vorausgesetzt ist, nicht niedergelegt.“ (Kluge/ Negt 1981: S. 88) Nicht einfach nur in der Kapitalbewegung liegen die Widersprüche verborgen, die zu Motiven in Richtung Revolte und Ablehnung weisen, sondern in der Kollision und der Artikulation der Kapitallogik mit einem noch näher zu spezifizierenden „Eigensinn“ des Menschen. Im Zusammentreffen und der je historisch als auch räumlich spezifischen Artikulation der beiden Momente sehen N/K die Konstitutionsmomente widerständiger Subjektivität.

Politische Ökonomie der Arbeitskraft

Wie auch Marx gehen sie davon aus, dass Menschen grundsätzlich die Befähigung haben, durch Verausgabung ihres Arbeitsvermögens ihre Umwelt zu verändern. Diese grundsätzliche Befähigung, das Arbeitsvermögen, kann unterschiedlich gesellschaftlich organisiert sein. N/K verorten im Arbeitsvermögen sowohl kooperativ – assoziative Momente als auch das Potential in Richtung konkurrenz- und wettbewerbsbasierter Momente. Beide Momente bilden keine in die eine oder die andere Richtung grundlegende anthropologische Konstante, sie sind vielmehr als Potentiale menschlichen Arbeitsvermögens angelegt. Dies ist vielleicht erklärungsbedürftig. N/K sehen das menschliche Arbeitsvermögen und der darin angelegten Assoziations- und Kooperationsfähigkeit nicht als vom Rest der Gesellschaft entkoppelte Kategorie. Ihr analytischer Schwerpunkt liegt auf der gesellschaftlichen Einbettung dieses Arbeitsvermögens. Das menschliche Arbeitsvermögen, die lebendige Arbeit in Form der Aneignung und Umwandlung natürlicher oder vorgefundener Begebenheiten, bildet einen Moment der Selbstregulation, der eigene Logiken besitzt. Für sich alleine betrachtet, würde das Arbeitsvermögen vieler Individuen einen Zusammenhang herstellen, der sich versucht auch als solcher anzuwenden.  Diese Selbstregulation der Arbeitsvermögen existiert allerdings realita nur in Form des Zusammenhangs mit anderen Ebenen der Selbstregulation und im Kontext der Entfremdung der Menschen.  So kann verstanden werden, dass es keinen Sinn ergibt, sich analytisch auf die kooperativ – assoziativen Potentiale alleine zu berufen, sie existieren nicht isoliert, sondern nur in einem breiteren gesellschaftlichen und historisch konkreten Zusammenhang, der sich ebenfalls versucht als solcher anzuwenden. Eine Mythologisierung stellt analytisch eine Sackgasse dar. „Im engeren Sinne bezeichnet Selbstregulierung die spezifischen Prozesse des Subjektiven Anteils: das, was in der Bewegung das Lebendige ausmacht. Praktisch: der Eigensinn der lebendigen Art. Man muss dafür nicht von einer Lebenskraft, einem spezifischen subjektiven Elan oder von primären Trieben, die man nicht weiter zurückführen könnte, ausgehen. Es genügt die Beobachtung, dass etwas, das einen Zusammenhang bildet, sich auch als ein solcher Zusammenhang anzuwenden versucht“. (N/K: S55/56)

Für analytische Zwecke kann der Begriff des Zusammenhangs zweigeteilt werden. Einmal als der Zusammenhang des Lebendigen, als Moment der Selbstregulation in diesem Zusammenhang. Die zweite Ebene stellt den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang her. Dieser ist in sich strukturiert durch die Durchdringung unterschiedlicher Momente der Selbstregulation sowie durch die Bedingungen der Entfremdung im System der „toten Arbeit“ (wir kommen später auf diese Bezeichnung zu sprechen). Wie wir also sehen, ist die bloße Gegenüberstellung der beiden Potentiale nicht zulässig, vielmehr müssen sie immer in den jeweils historisch und räumlich konkreten Aktivierungs- und Repressionsmomenten und in ihrer gegenseitigen Durchdringung analysiert werden.Mit Bezug auf die Herausbildung eines kapitalistischen Arbeitsdispositivs müssen Selbstregulationsmomente spezifisch mit dem System der „toten Arbeit“ artikuliert und damit herrschaftlich angepasst werden. In dieser Artikulationsbewegung entstehen laut Negt/Kluge spezifische Arbeitsdispositive, also gesellschaftlich dominante Vorstellungen und konkrete gesellschaftliche Materialisierung von dem, was Arbeit ist, jeweils historisch spezifisch auf der Höhe dessen, was wir als historisch spezifischen Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Produktivkräfte bezeichnen würden . Dieser Prozess der Herstellung gesellschaftlich dominanter Arbeitsdispositive ist nun kein rein repressiver, also kein Prozess der ungebrochen von oben nach unten wirkt, sondern einer, der in und an den Subjekten eine Reihe von  psychischen und physischen Arbeitsleistungen in Form einer Herstellung innersubjektiver Anpassung verlangt. Doch wo die Notwendigkeit innerer Anpassungsprozesse existiert, dort besteht auch das Potential zum Widerspruch, zur Verweigerung der eigenen Anpassung und nicht zuletzt die des Scheiterns. Es sind gerade diese inneren Anpassungsleistungen an herrschaftlich gewollte Arbeitsdispositive, die in Individuen Widersprüche zwischen kooperativen und konkurrenzbasierten Potentialen konstituieren, die in Permanenz von diesen bearbeitet werden müssen und einen „Eigensinn“ konstituieren, der sich aus oft negierten Zusammenhängen der Selbstregulation speist. Diese Spannungen können sich in historisch, räumlich, sprich gesellschaftlich konkreten Situationen ihren Weg bahnen, in Revolten und Aufständen, aber auch in regressiven Momenten, wie massenhaft verbreiteter Depression oder auch in faschistoiden Tendenzen. Dieser Produktionsprozess der Herstellung eines kapitalistischen Arbeitsdispositives innerhalb der Subjekte und die daraus entstehenden Spannungen sind für uns der zentralste Moment für militante Forschung. Er verweist auf den „Eigensinn“ der Subjekte, der immer wieder aus den überschüssigen Momenten von Subjektivität hervorgehen kann, die über die bürgerliche Ordnung hinausweisen. Die Frage, die sich nun aufdrängt, ist die nach den Strategien und Mechanismen, die bemüht sind, diesen Eigensinn einzufangen und durch seine Reintegration dem kapitalistischen Arbeitsdispositiv seine Dominanz zu sichern. Dazu müssen wir den niemals abgeschlossenen Prozess der Herstellung eines kapitalistischen Arbeitsdispositives und das Konzept des Systems der „toten Arbeit“ im Sinne von N/K näher beleuchten.

Ursprüngliche Akkumulation in Permanenz

Für viele an Marx orientierte TheoretikerInnen stellt der Prozess der ursprünglichen Akkumulation den Anfangspunkt kapitalistischer Vergesellschaftung dar. Durch die Zerschlagung agrarisch und feudal dominierter gesellschaftlicher Strukturen werden die Menschen in einem Trennungsprozess von ihren eigenen Produktionsmitteln losgelöst. Menschen wurden damals (werden es freilich auch noch heute) oft durch gewaltsame Prozesse in eine Existenzform gedrängt, in der ihre einzige Chance zu überleben darin besteht, das letzte, was sie noch besitzen, nämlich ihre Arbeitskraft, in Form von Lohnarbeit zu verkaufen. Marx sieht darin die Herstellung der Bedingung der Möglichkeit kapitalistischer Akkumulation, die Durchsetzung von Lohnarbeit als basaler Voraussetzung kapitalistischer Entwicklung auf breiter gesellschaftlicher Ebene und die Verankerung von Lohnarbeit als paradigmatischen Reproduktionsmoment einer großen gesellschaftlichen Gruppe.

Aus Sicht von N/K gibt es allerdings einen untergründigen und permanenten Prozess ähnlich der ursprünglichen Akkumulation, eben den der Herstellung des kapitalistischen Arbeitsdispositives, der Aneignung und Inkorporierung des menschlichen Arbeitsvermögens und seiner Selbstregulation und den assoziativ – kooperativen Potentialen. Es ist dies ein niemals abgeschlossener gesamtgesellschaftlicher Produktionsprozess von kapitalistischen Arbeitssubjekten, der in Permanenz mit und an Antagonismen arbeitet. Es ist bis zu einem gewissen Grad auch ein permanenter Prozess der ursprünglichen Akkumulation, also ein Trennungsprozess, der versucht, kooperativ–assoziative Momente abzutrennen und im kapitalistischen Arbeitsdispositiv neu zu bearbeiten und unter der Dominanz dissoziativer und konkurrenzbasierter Momente zu reorganisieren. Das heißt, das kapitalistische Arbeitsdispositiv, das sich genau auf diesen grundlegenden Koordinaten von Konkurrenz, Dissoziation und Vereinzelung aufbaut, muss in Permanenz reproduziert und je nach Stand der historisch spezifisch vorherrschenden Produktions- und Akkumulationsparadigmen auch neu hergestellt, erneuert und durchgesetzt werden.

Halten wir nun kurz einige Dinge fest: wie wir gehört haben, entsteht für Negt und Kluge widerständige Subjektivität also aus der Kollision zweier Potentiale, die beide nicht ausgelöscht werden können. Das Kapital ist in Permanenz dazu angehalten, das kapitalistische Arbeitsdispositiv zu erneuern oder zu stabilisieren. Aus diesem äußeren Zwang entstehen innerhalb der Subjekte permanent(e) Konflikte, da es ja ihnen als ArbeiterInnen überlassen bleibt, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Potentialen herzustellen, die im menschlichen Arbeitsvermögen enthalten sind. So sehr die Bemühungen von Seiten des Kapitals auch intensiviert werden, die seiner Logik zuträglichen Momente zu aktivieren, der „Eigensinn“ der Subjekte ist nicht vollkommen zu zerschlagen. Ja es kann sich, wie die historische Entwicklung zeigt, sogar ins Gegenteil verkehren. Je intensiver die subjektinternen Anpassungsleistungen werden, desto unwahrscheinlicher gelingt den Subjekten eine harmonische Balance im Inneren, desto wahrscheinlicher verstärken sich Motive des Abweichens von der Logik des kapitalistischen Arbeitsdispositives. Die Frage, die sich nun stellt, ist natürlich, welche Angebote innerhalb der bürgerlich–kapitalistischen Gesellschaft gemacht werden, damit die Bearbeitung der inneren Widerspruchskonstellation zugunsten der Affirmation herrschaftlicher Verhältnisse und zuungunsten der Revolte und des Aufbegehrens ausgeht.

Dazu ziehen N/K noch einmal die beiden Begriffe menschliche (lebendige) Arbeit und tote Arbeit heran. „Lebendige Arbeit schlägt sich in Produktion nieder, sie verschwindet darin. Diese geronnene Form von Arbeit nennt Marx tote Arbeit. Solche tote Arbeit sind z.B.: Maschinen, gebahnte Wege (Beziehungen), das gesellschaftliche Produktionsverhältnis, das Geschichtsprodukt, z.B. Geld, Staat. Die lebendige Arbeit steht der Gesamtheit ihrer Vorgeschichte gegenüber: der toten Arbeit. Der zweite Widerspruch in der politischen Ökonomie der Arbeitskraft lautet: Die Masse der toten Arbeit stellt sich der lebendigen Arbeit als Übermacht dar“ (N/K, 98) Und in einer Fußnote merken N/K an: „Tote Arbeit ist kein Arsenal von bloßen Dingen. Vielmehr sind es menschliche Beziehungen, Subjektivität in Objekt gewordener Gestalt, ein gesellschaftliches Verhältnis.“ (N/K, 98 - 99) Das Verständnis von lebendiger Arbeit geht für N/K also weit über den uns geläufigen Begriff von Arbeit hinaus. Lebendige Arbeit verstanden als Arbeitsvermögen umfasst affektive Tätigkeiten genauso wie die stoffliche Umwandlung unserer Umwelt, diese lebendige Selbsttätigkeit des Menschen gilt es in einem kapitalistischen Arbeitsdispositiv umfassend und herrschaftlich zu reorganisieren, im System der „toten Arbeit“. Die „tote Arbeit“, als relativ autonomes System gegenüber der lebendigen Arbeit, tritt auch aufgrund der zeitlichen Dimension, von der Lebensspanne des einzelnen Individuums unabhängiges Verhältnis, als objektive Realität auf. „Es tritt hinzu, dass die Masse der toten Arbeit sich in Klassengesellschaften in der Verfügungsmacht der Unterdrückerklasse befindet. … Das gilt im Grundsatz.“ (N/K, 99) N/K fügen hinzu, dass dieser Grundsatz in der Realität allerdings vielschichtiger ist. Innerhalb des Systems der „toten Arbeit“ existieren natürlich gegensätzliche Positionen, die um die anteilige Kontrolle des Systems kämpfen (z.B.: gewerkschaftliche Lohnkämpfe), sie sind notwendige, systemimmanente Kämpfe, denn ansonsten würde die Dynamik kapitalistischer Entwicklung abbrechen und es zu einer Erstarrung kommen.

Die vermeintliche Objektivität des Systems wirkt allerdings nicht nur auf die öffentlich ausgetragenen Kämpfe, wie Lohnkämpfe, sondern wirkt bis in die subjektinternen Widerspruchskonstellationen. Es bildet ein gesellschaftliches Gerüst, auf dessen Basis sich jeweils historisch konkret ein orientierendes Gravitationsfeld von Normen, Praxen, institutionalisierten Verhaltensweisen usw. entwickelt, welches das Begehren von Subjekten auf sich zieht und an sich bindet. So gesehen kann festgehalten werden, dass durch politische Institutionen und Rituale etc. Begehren kanalisiert wird. Durch die Verheißungen des Geldes und der daran gekoppelten Konsummöglichkeit wird z.B. das Begehren nach einem besseren Leben in konsumtive Bahnen gelenkt. Diese Normen und gesellschaftlichen Verhältnisse bieten ein Set von Gesetzen und gesellschaftlich anerkannten Konfliktbearbeitungsstrategien, die vermeintlich eine neutrale Instanz darstellen. Das System toter Arbeit erzeugt also eine gesellschaftliche Gravitationskraft, die orientierend auf die inneren Konflikte der Subjekte und auch auf gesellschaftliche Kämpfe wirkt. Dieses Gravitationsfeld bewirkt, dass sich Menschen oft und trotz ihrer inneren Widersprüche, öffentlich angepasst verhalten. Alle anderen Motive, die abweichend sind, werden in einer Öffentlichkeit, deren Grundstruktur aus toter Arbeit besteht, nicht repräsentiert, sondern negiert, unterdrückt, umgelenkt auf die Fluchtpunkte, die das System zur Verfügung stellt oder im Wortsinn Foucaults therapiert.

Und jetzt … !?

Ist somit Revolte, Revolution, Devianz, Dissidenz oder Subversion vergebene Liebesmüh, wenn das Resultat von Kämpfen anscheinend dazu tendiert, von „toter Arbeit“ eingefangen zu werden? Mitnichten. „Im Resultat geht nie der Prozeß auf. Das Resultat selbst ist ein stillgestellter Ausschnitt des Prozesses, deshalb ist vom Resultat aus der Gesamtprozeß nicht zu rekonstruieren, aus dem Prozeß auch nicht zwingend das Resultat.“ (N/K,  104) Pfuhh, dieses Plädoyer für eine interpretativ offene Geschichtsschreibung und für eine grundsätzlich offene zukünftige Geschichte lässt aufatmen. In diesem Plädoyer für die Offenheit steckt allerdings ein wichtiger methodischer Hinweis. „Militant research“ muss sich in erster Linie der widersprüchlichen Prozeßhaftigkeit der geschichtlichen Zusammensetzungsprozesse öffnen. Nicht das Resultat der Kapitalakkumulation, sondern der Prozess der widersprüchlichen Herstellung der Bedingung der Möglichkeit des Akkumulationsprozesses und die permanent notwendige Entfremdung von Assoziationsvermögen und insbesondere dessen Gegenteil, die unterhalb der bürgerlichen Öffentlichkeit liegenden Prozesse der Herstellung der Selbstregulation im assoziativen Zusammenhang, also die „Ökonomie der Assoziation“ (N/K, 111) sind die Ansatzprozesse für Emanzipation und das Zentrum der Untersuchung. Dieser „Eigensinn“ enthält das über die bestehenden Verhältnisse hinausweisende Potential. „Unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation lautet die Frage: In welchem Zusammenhang hätten diese Kräfte von sich aus die Tendenz, ihre historische Vereinigungsfähigkeit zu übertreiben und zusammenzufinden. Der Akzent liegt auf den Worten: von sich aus. Die Perspektive der Untersuchung muß sich also auf das selbsttätige Moment dieser Arbeitsvermögen richten. Nicht auf die Stelle, an der es sich vereinigen sollte, kommt es an, sondern auf die Stelle, an der sie dies tatsächlich tun.“ (N/K, 111)

N/K verstehen Revolutionen als einen autonomen gesellschaftlichen Produktionsprozess von Zusammenhängen, in dem unterschiedliche Momente des Eigensinns zusammenfinden, und sich „übertreiben“. „Dann ist Revolution aber kein bloßer Prozeß der Machtergreifung (Macht arbeitet nicht selber). Revolution ist ein Produktionsprozeß, der alle verschiedenen Eigensinnigkeiten der Selbstregulierung in einen assoziativen Zusammenhang setzt; die Arbeit dafür leisten die Selbstregulierungen selber. Der revolutionäre Prozeß – wenn er emanzipatorisch ist – arbeitet an den dafür erforderlichen Räumen und Zeiten, er bildet Schutzkreise, das revolutionäre Resultat stellt er nicht her.“ (N/K, 71)  Militante Untersuchung kann als produktiver Eingriff, der sich „auf Bahnung und die Produktion von Zusammenhängen“ konzentriert, verstanden werden. „Diese Formseite entsteht nicht selbsttätig. … Bloße Theorie leistet diese Arbeit nicht, bloße Praxis auch nicht. Man muß sich den Eingriff, d.h. die organisierende Orientierung in der Haltung verankert vorstellen (also nicht nur in den Gefühlen, nicht nur im Verstand und nicht nur in den äußeren Handlungsketten). Als Haltung bezeichnen wir die Momente, in denen Potentiale und aktuelle Vergegenständlichung auf einen Augenblick zusammentreten.“ (N/K, 84)

Resonanzräume öffnen

Aus dem gesagten lässt sich klar erkennen, militante Untersuchung ist eingreifende Forschung. Nicht nur ein Verstehen, sondern auch ein Handeln im Sinne der Selbstinvolviertheit. Militante Untersuchung bietet so unsere These, die Möglichkeit widerständige Organisierung entlang der sich wandelnden Subjektivität zu konstituieren, ohne dabei auf ewige „Wahrheiten“  zurückzugreifen. Es ist eine Möglichkeit der Organisierungpraxis, die Subjekte der Veränderung nicht paternalistisch über die Ziele oder den Weg hin zu gesellschaftlicher Veränderung belehrt, sondern im Zentrum die Selbsttätigkeit des Eigensinns hat. Die Untersuchung kann weiterführende Verbindungslinien ziehen und Vorschläge zur Herstellung von Zusammenhängen machen. Vorschläge sind es, die Resonanzen erzeugen können, keine dogmatischen Stehsätze. Vorschläge sind Türöffner für Debattenräume. Und damit kommen wir zum Schluss. Theorie und Wissenschaft im Sinne militanter Untersuchung erzeugt kein Wahrheitswissen oder objektivierte Theoriegebäude, sondern versucht in und als Bewegung die Wege der Emanzipation auf Basis historisch und räumlich konkreter Bedingungen zu erkunden und im besten Fall zu antizipieren.  

E-Mail: mario.becksteiner@univie.ac.at

Literatur:

Thekla Nr. 6

Andrea Gabler (2009): Antizipierte Autonomie. Zur Theorie und Praxis der Gruppe »Socialisme ou Barbarie« (1949 – 1967), Hannover

Stevphen Shukaitis/ David Graeber/ Erika Biddle (2007) (Hg.): Constituent Imagination. Militant Investigations; Collective Theorization, Oakland/ Edinburugh

Oskar Negt und Alexander Kluge (1981): Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M.

Plattform Massenuni (Hg.): Jenseits von Humboldt. Von der Kritik der Universität zur globalen Solidarischen Ökonomie des Wissens, Wien

Peter Bescherer/ Karen Schierhorn (Hrg.) (2009): Hello Marx. Zwischen „Arbeiterfrage“ und sozialer Bewegung heute, Hamburg

phpMyVisites : Ein Open Source-Website-Statistikprogramm in PHP/MySQL veröffentlicht unter der GNU/GPL. Statistics

 
ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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