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Kate Bobby:Junge WissenschafterInnen in der Grundlagenforschung
Einzigartige Chance oder systematische Ausbeutung?

Ich bin Molekularbiologin und seit 2009 an der Harvard Universität in Boston als Wissenschaftlerin tätig. Angehörige der hard sciences (Lebenswissenschaften, Physik, Mathematik und Computerwissenschaften) sind meiner Erfahrung nach traditionellerweise weniger gesellschaftspolitisch aktiv, zumindest im direkten Vergleich mit Leuten, die sich mit soft sciences (Sozialwissenschaften) beschäftigen, und neigen dazu, ein existierendes System nicht zu hinterfragen. Das mag zum großen Teil daran liegen, dass ihr Hauptbeschäftigungsfeld – für mich etwa molekularbiologisch-medizinische Fachthemen – nicht unmittelbar mit gesellschaftlicher Entwicklung oder politischer Situation zu tun hat, aber dennoch einen großen Teil der Konzentrations- und Denkfähigkeit beansprucht. Dennoch gibt es zahlreiche Missstände in der Arbeitssituation von jungen WissenschaftlerInnen der hard sciences, über die kaum kritisch reflektiert wird. Die momentane Situation könnte, meiner Einschätzung nach, gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung und das Vorankommen der hard sciences selbst haben, wodurch es umso wichtiger wird, über Änderungen und Verbesserungen nachzudenken. Dieser Artikel ist ein Versuch, die Situation für Außenstehende verständlich zu machen, Probleme aufzuzeigen und mögliche Lösungsansätze zu finden.

Die klassischen Karriereschritte in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung

Um das herrschende System vorzustellen, möchte ich meinen bisherigen Werdegang sowie den möglichen zukünftigen Werdegang darlegen, da dieser, von kleinen Variationen abgesehen, der klassischen Laufbahn einer jungen WissenschaftlerIn der hard sciences, oder zumindest der Biowissenschaften, entspricht. Nach dem Schulabschluss habe ich Biologie an der Universität Wien studiert und mich dabei auf Genetik und Molekularbiologie spezialisiert. Bereits die Diplomarbeit am Ende des Studiums umfasst 8 bis 12 Monate Arbeit in einem der molekularbiologischen/biochemischen Labors der Universität bzw. anderer Institutionen, sofern ein Betreuer an der eigenen Universität existiert. Dabei wenden sich die jungen StudentInnen direkt an die LeiterInnen der jeweiligen Forschungsgruppen (im Fachjargon spricht man vom principal investigator), die sie in ihren Labors aufnehmen, wenn gegenseitiges Interesse besteht. An diesem Punkt beginnt klassischerweise die wissenschaftliche Ausbildung einer MolekularbiologIn: Erfahrenere KollegInnen vermitteln zunächst laborbasierte Spezialtechniken, die gebraucht werden, um die gestellten wissenschaftlichen Fragestellungen hinreichend zu beantworten. Da diese Techniken für AnfängerInnen recht anspruchsvoll sein können, wird ein beträchtlicher Teil der Zeit auf ihr Erlernen verwendet, während die eigentliche wissenschaftliche Ausbildung – Wie stelle ich die richtige Frage? Wie beantworte ich meine Frage? Wie kontrolliere ich, dass meine Ergebnisse interpretierbar sind und nicht zu falschen Schlüssen führen? – mehr nebenbei abläuft. Die DiplomstudentIn verbringt dabei bereits 8 bis 10 Stunden täglich im Labor und bekommt eine geringfügige „Bezahlung“ für ihre Arbeit (etwa 300 Euro im Monat). Nach 8 bis 12 Monaten intensiver Laborarbeit wird die Diplomarbeit zusammengestellt, welche die zusammen mit der GruppenleiterIn erarbeiteten Fragestellungen erläutert und die experimentellen Ergebnisse zusammenfasst, die der Beantwortung dieser Fragestellung dienen. Bereits in diesem frühen Stadium bekommt die StudentIn vermittelt, dass ihre wissenschaftliche Karriere einzig und allein von Publikationen in guten Journalen abhängt. „Gut“ definiert sich in den hard sciences am sogenannten impact factor, einem numerischen Wert, der die Häufigkeit, mit der Artikel aus diesem Journal in anderen Artikeln zitiert werden, beschreibt. So gut wie alle Publikationen in der molekularbiologischen Forschung unterlaufen vor ihrer Veröffentlichung ein peer review, wo gleichgestellte KollegInnen (so genannte peers) ihre Fachmeinung zu einem eingereichten Artikel abgegeben und dann dessen Veröffentlichung empfehlen oder ablehnen. Häufig wird die mögliche Veröffentlichung des Artikels an gewisse Voraussetzungen geknüpft – meist weitere experimentelle Arbeit, um die eine oder andere der aufgestellten Hypothesen zu untermauern. Die junge StudentIn realisiert, dass der Großteil der Experimente im Labor sehr zeitraubend ist, und glaubt zu verstehen, dass ihre einzige Chance, etwas soweit zu bringen, dass es publiziert werden kann, darin liegt, rund um die Uhr an Experimenten zu arbeiten. Bereits DiplomstudentInnen verbringen häufig 50 bis 70 Stunden in der Woche im Labor – gegen eine Bezahlung von 300 Euro im Monat.

Nach Abschluss des Diplomstudiums ist eine Doktorarbeit die Voraussetzung, um in der akademischen Forschung arbeiten zu können. Die Doktorarbeit ähnelt im Großen und Ganzen der Diplomarbeit, nur dass Umfang und Zeitrahmen um einiges wachsen. Wiederum findet die DoktorandIn einen principal investigator, der oder die bereit ist, sie im Labor aufzunehmen. Die Wahl des principal investigators wird auf Grund der Spezialisierung der Arbeitsgruppe getroffen, da diese das eigene Arbeitsthema stark beeinflusst. An diesem Punkt in der Karriere, mit fertigem akademischem Abschluss, bekommt die DoktorandIn zum ersten Mal einen Arbeitsvertrag. Das Gehalt beträgt etwa 1200 Euro netto monatlich, der Vertrag stellt sicher, dass „allfällige Überstunden zu leisten sind“. Ich persönlich habe mich einer Arbeitsgruppe an der Medizinischen Universität Wien angeschlossen, um meine Doktorarbeit zu schreiben. Manche meiner KollegInnen haben sich entschieden, ins Ausland zu gehen, um dort an ihrer Dissertation zu arbeiten – die Bedingungen sind hinsichtlich der arbeitsrechtlichen Situation ähnlich oder sogar schlechter, da DoktorandInnen in vielen Ländern keinen Arbeitsvertrag erhalten und dadurch jederzeit kündbar sind. Die von der Diplomarbeit bereits konditionierten jungen DoktorandInnen greifen erneut die experimentelle Laborarbeit auf und verbringen 50 bis 70 Stunden pro Woche im Labor. Sie müssen jetzt bereits selbständiger arbeiten, werden nicht mehr direkt betreut und gewöhnen sich daran, sich selbst neue experimentelle Techniken beizubringen. Viele Techniken, so herausfordernd sie am Anfang auch erscheinen mögen, werden schnell zu Routine, müssen aber trotzdem weiterhin ausgeführt werden und verbrauchen etwa 60% bis 70% der gesamten im Labor verbrachten Zeit. Prinzipiell könnten speziell ausgebildete technische AssistentInnen diese Aufgaben im Regelfall besser erfüllen als die DoktorandInnen.[1]. Da solche AssistentInnen aber mehr Gehaltskosten verursachen und insgesamt weniger Arbeitsstunden ableisten, ist es für jede GruppenleiterIn kostengünstiger, den DoktorandInnen diese Arbeit zu überlassen. Geld ist – wie überall in der Grundlagenforschung – knapp und bei Stellen von technischen Assistenten wird als erstes gespart. Hier existiert es eine seit Jahren stetig wachsende Gruppe an DissertantInnen der hard sciences, die für ein vergleichsweise geringfügiges Gehalt 50 bis 70 Stunden in der Woche arbeiten, die Mehrheit ihrer Zeit mit Routinearbeit verbringen und von deren Einsatz und Ergebnissen der Erfolg und das Weiterkommen der Arbeitsgruppe und damit ihrer LeiterInnen, der principal investigators, abhängen. Die DissertantInnen konkurrieren dabei um eine geringere Anzahl sogenannter Postdoc-Stellen, die der nächsten Stufe der wissenschaftlichen Karriereleiter entsprechen. Nach Abschluss der Dissertation bewirbt sich die junge WissenschaftlerIn um eine solche Stelle als postdoctoral research fellow. Diese Stellen sind knapp; häufig erwartet die LeiterIn der nun ausgewählten Arbeitsgruppe, dass die postdocs sich ihr Gehalt selbst bezahlen, indem sie sich für eines der wenigen postdoctoral fellowships, also Stipendien speziell für Postdocs, bewerben. Um diese Stipendien gibt es eine scharfe Konkurrenz; ohne Publikation in einem der Top-Journale sind sie schwer zu bekommen. Während solche Stipendien in Österreich hauptsächlich vom Staat vergeben werden, gibt es in den USA auch zahlreiche private Stiftungen, die postdocs finanzieren, allerdings sind dabei die Forschungsgebiete auf das Interessensgebiet der Stiftung beschränkt (wie etwa Brustkrebs oder Leukämie). Mein Partner, ebenfalls ein Wissenschaftler, und ich haben uns an diesem Punkt unserer Karriere entschieden, ins Ausland zu gehen. Der Grund war, dass zum einen Postdoc-Stellen in Österreich rar sind, aber auch, dass von uns als WissenschaftlerInnen erwartet wird, Auslandserfahrungen zu sammeln und uns an den Topuniversitäten im Ausland weiter ausbilden zu lassen. Während es gewiss eine einzigartige Chance darstellt, ohne großen Aufwand einige Jahre in einem anderen Land zu verbringen – die Arbeitssprache der Wissenschaft ist Englisch, Visa werden als Bildungsvisa vergeben, die ohne viel Aufwand zu bekommen sind –, beinhaltet es auch große Probleme, für deren Bewältigung die jungen WissenschaftlerInnen keinerlei Unterstützung erhalten: die Kosten eines Umzugs; die Herausforderung, für den Partner eine Arbeitsstelle am gleichen Ort zu finden, Schul- oder Kindergartenplätze für Kinder zu sichern, etc. Nichtsdestotrotz sehe ich es als ein Privileg und als Chance, ein paar Jahre an einer Universität wie Harvard forschen zu dürfen. Dieses Gefühl des Privilegiertseins und des Dankbarseinmüssens trägt aber noch zusätzlich zu dem Druck bei, der auf den jungen ForscherInnen lastet: Mensch sollte schließlich alles tun, um diesem Privileg oder dieser Chance gerecht zu werden. Als postdoc wird das gewohnte System weiter angewandt: Arbeit von mehr als 50 Stunden pro Woche im Labor. Mittlerweile sind die postdocs um die 30 Jahre alt, verdienen etwa 1800 Euro im Monat netto und verbringen nach wie vor 60% bis 70% ihrer Zeit mit Routinearbeiten. Mitunter bekommen sie eine technischen AssistentIn zur Seite gestellt, die ihnen einen Teil der Routinearbeit abnimmt; dies ist, vor allem für junge postdocs, jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Ohne einen festen Arbeitsvertrag sind sie selbst dafür verantwortlich, Geld über Stipendien heranzuschaffen, um ihr Gehalt abzudecken. Wie bereits zuvor wird wie verrückt gearbeitet, um den nächsten Karriereschritt zu schaffen: selbst ein prinicipal investigator zu werden, um eine eigene Arbeitsgruppe zu leiten. Wiederum existiert eine geringere Anzahl an GruppenleiterInnen-Stellen für postdocs, wiederum können nur die Besten weiterkommen und wiederum hängt der Erfolg der GruppenleiterIn, die die postdocs beschäftigt, von der Produktivität letzterer ab.

Ein sich selbst erhaltendes System der Ausbeutung?

Durch die detaillierte Beschreibung der Karriereschritte einer jungen WissenschaftlerIn der hard sciences kann bereits erkannt werden, wie das System funktioniert, wie es sich selbst erhält und wie es nahezu dafür geschaffen wurde, junge Leute ohne Rücksicht auszubeuten. Es ist ein Pyramidensystem: viele StudentInnen der Naturwissenschaften, wenige Dissertationsplätze. Viele DissertantInnen, wenige Postdoc-Stellen. Zu viel postdocs, noch weniger GruppenleiterInnenstellen, ganz zu schweigen von Stellen mit sogenanntem tenure, also der Festanstellung einer WissenschaftlerIn an ihrer Institution. Auf Grund dieser Pyramide mit einer stetig breiter werdenden Basis besteht ständiger Druck: Druck zum Erfolg, Druck zu publizieren, und Druck, die Beste zu sein. Der Druck wird von den GruppenleiterInnen auf ihre postdocs und DissertantInnen weitergegeben. Arbeiten diese nicht ohnehin schon freiwillig mehr als 50 Stunden in der Woche (sie unterliegen schließlich dem gleichen Druck), wird der Einsatz mehr oder weniger subtil eingefordert (siehe dazu jenen Brief, den ein junger Gruppenleiter der Caltech Universität im Jahre 1996 in Kalifornien an einen seiner Dissertanten verschickt hat und der im Internet traurige Berühmtheit erlangt hat: http://www.lettersofnote.com/2011/03/i-expect-you-to-correct-your-work-ethic.html). Mir sind unzählige Geschichten bekannt, wo gegen jegliches Arbeitsrecht Dienste eingefordert wurden: Anwesenheit im Labor an Wochenenden und in Nächten, keine Urlaubserlaubnis, etc. Die Jungen gehorchen, immer in der Hoffnung und Furcht, dass ihre Karriere und ihr Leben einzig und allein von ihrem Arbeitseinsatz abhängen, auch wenn er ein unmenschlicher ist. Man kann sich vorstellen, wie wenig ein solches System jene Aspekte fördert, die für Wissenschaft eigentlich essentiell sind: Zusammenarbeit, Austausch, Diskussion, Kreativität. Eine der essenziellsten Grundlagen wissenschaftlichen Fortschritts bleibt auf der Strecke: das Denken. Ein überarbeiteter, müder junger Mensch, der ständigem Stress unterliegt, kann unmöglich klare Gedanken fassen, geschweige denn die komplexen und vernetzten Ideen entwickeln bzw. überdenken, die notwendig wären, um tatsächlich gute Wissenschaft zu betreiben. Die GruppenleiterIn, selbst ständig überarbeitet, bringt ebenso weder Zeit noch Energie auf, diese Missstände zu beheben, oder trägt – wie vorher erwähnt – sogar noch zu deren Manifestierung bei. Obwohl jede GruppenleiterIn selbst einst in der Situation ihrer postdocs oder DissertantInnen war und möglicherweise darunter gelitten hat, wird das System weitergetragen. Das vorherrschende Gefühl ist, dass man das ja auch selbst durchgestanden hat, also werden es die eigenen Leute wohl ebenso schaffen. Zudem ist der Erfolgsdruck groß: Wenn man den eigenen Leuten das Recht auf menschliche Arbeitsbedingungen zugestehen geben würde, schädigt das die eigene Karriere (so ist man überzeugt).

Das System erhält sich also selbst aufrecht und wird kaum hinterfragt. Jahr für Jahr bringt es zahlreiche Publikationen in Top-Journalen hervor – ein viel zu großer Teil davon erweist sich im Nachhinein als falsch oder kann nicht reproduziert werden. Auch das ist ein Ergebnis des riesigen Drucks, der auf den WissenschaftlerInnen lastet – es werden Dinge nicht ausreichend getestet, überinterpretiert und vorschnell publiziert. Das System spuckt Jahr für Jahr Leute aus, die keinen Platz mehr darin finden oder keinen mehr finden wollen. Durch ihre gute Ausbildung bleiben diese Leute glücklicherweise nicht auf der Strecke – dennoch sind Depressionen oder gesundheitliche Probleme nach Jahren der Überarbeitung keine Seltenheit. Das System selektiert zudem automatisch jene, die wenig Wert auf soziale Bindungen legen, keinerlei Interessen außerhalb der Arbeit hegen und oft rücksichtlose Ellenbogenmenschen sind. In Kombination mit ein wenig Glück und natürlich auch wissenschaftlichem Talent sind es mehrheitlich solche Leute, die im System bleiben und selbst ForschungsgruppenleiterInnen werden. Es stellt sich die Frage, ob das die Leute sind, denen man das wissenschaftliche Weiterkommen der Menschheit, zumindest aber der hard sciences überlassen will?

Die Zukunft sieht nicht gerade rosig aus: Mit der Weltwirtschaftskrise wird Geld knapper, Wissenschaft wird als gesellschaftlicher Luxus betrachtet, den man sich in harten Zeiten nicht leisten kann und will. Forschungsgelder werden Jahr für Jahr gekürzt, selbst in traditionell forschungsorientierten Ländern wie den USA wird das Geld knapp. Wissenschaft wird zum harten Business: Nur die „Besten“ kommen an Geld, nur die „Besten“ überleben. Die Publikationen in Top-Journalen werden wichtiger denn je, einer größer werdenden Kette von riesigen Verlagshäusern, welche die Top-Journale besitzen, kommt eine nahezu allmächtige Stellung zu. Ist es das, was wir, die Menschheit, wir, die WissenschaftlerInnen für die Zukunft wollen?

Was wir anders machen könnten

Es gibt nicht wenige Stimmen, in der Wissenschaft und anderswo, die meinen, dass Konkurrenz für Fortschritt und schnelles Weiterkommen essenziell ist. Nur Druck erzeugt Leistung, nur der Wettbewerb bringt die Wissenschaft in dem Tempo voran, das es braucht, um die Menschheit voran zu bringen. Ich möchte dem energisch widersprechen: science is not business! Mir ist klar, dass jeder Beruf oder auch jede Berufung, als welche die Wissenschaft oft betrachtet wird, einen gewissen Leistungsdruck mit sich bringt, und es ist weltfremd, diesen völlig von sich zu weisen. Zudem kann eine gewisse Menge an Wettbewerb in der Wissenschaft stimulierend wirken. Doch wir brauchen Maß – die herrschende Situation ist unerträglich für ihre ProponentInnen und nicht zielführend für die wissenschaftliche Weiterentwicklung.

Was sind mögliche Lösungsansätze? Eine neue und (noch) sehr kleine Bewegung in Deutschland hat erste Ideen zur Lösung unserer Probleme vorgeschlagen. Sie nennen sich die Vertreter der slow science (siehe dazu das „Slow Science Manifesto“: http://slow-science.org/). Ihr Grundsatz: „science needs time to think...“ (Wissenschaft braucht Zeit zum Nachdenken.) Wissenschaft funktioniert nicht nach einem Zeit- oder Geschäftsplan. Wir brauchen Zeit, um zu denken, zu lesen, zu experimentieren und uns zu irren. Wir dürfen nicht gezwungen werden, Dingen eine Bedeutung beizumessen, bevor wir uns ihrer sicher sind. Wir können uns nicht selbst in Zwangsjacken stecken.

Wie also könnte eine solche Änderung zu Stande kommen? Der Kern liegt bei den WissenschaftlerInnen selbst. Wenn wir uns entschließen, die Dinge zu ändern, dann können sie sich ändern, zumindest in dem kleinen Rahmen, der unser eigenes Umfeld ausmacht. Wir erhalten dieses System aufrecht, wir legen uns gegenseitig Fesseln an, es liegt an uns, diese Fesseln zu entfernen. Wir müssen uns besinnen, was uns zu WissenschaftlerInnen macht, wie wir mit dieser Berufung umgehen wollen und wie wir sie gestalten wollen. Wir müssen zur Freiheit zurückfinden, uns Zeit zu nehmen und überlegt zu handeln. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Arbeit die Qualität hat, die es braucht, um die Wissenschaft und die Menschheit voranzubringen.

Natürlich gibt es externe Faktoren, die eine Rolle spielen, die jedoch weniger unserem Einfluss unterliegen und schwieriger zu ändern sind. Gesellschaftlich gesehen bräuchte die Wissenschaft mehr staatliche Gelder. Gelder sollten nicht immer zwingend an eine Anwendbarkeit der Projekte geknüpft werden (wie etwa der Behandlung einer bestimmten Krebsform) – Grundlagenforschung muss frei sein, wir dürfen nicht gezwungen werden, Anwendbarkeit herbeizureden, die es möglicherweise nicht gibt oder die einfach nicht vorhergesehen werden kann. ForschungsgruppenleiterInnen sollten genügend Mittel bekommen, um einen Teil der experimentellen Arbeit von technischen AssistentInnen durchführen zu lassen, so dass die WissenschaftlerInnen ein wenig Zeit gewinnen können. Durch bessere Arbeitsteilung könnte der herrschende Druck ein wenig nachlassen. Die Beziehung von technischen AssistentInnen und WissenschaftlerInnen ist dabei automatisch von geben und nehmen geprägt, da beide Berufsgruppen einander in ihren jeweiligen Spezialisierungen unterweisen und helfen können. Forschungsgelder sind meist an Publikationen geknüpft: Die Zeitrahmen sollten dahingehend geändert werden, dass die Wissenschaftler nicht gezwungen sind, Publikationen mit Daten zu veröffentlichen, von deren Richtigkeit sie nicht überzeugt sind.

Die Publikationen und Top-Journale sind ein weiterer wichtiger Punkt, den es zu überdenken gilt. Es ist unbestreitbar wichtig, getane Arbeit zu publizieren, damit die Welt, und vor allem die wissenschaftliche Welt, von der eigenen Arbeit erfährt und auf diese aufbauend weitere Hypothesen entwickeln kann. Wir müssen jedoch die Diktatur der Top-Journale durchbrechen. Nicht nur bezahlt die Wissenschaft große Summen, um ihre Arbeit in diesen Journalen zu publizieren, sie tritt gleichzeitig auch alle Rechte an die Journale ab, welche dann, wiederum für große Summen, die Rechte, diese Daten einzusehen, an die Wissenschaft zurückverkauft. Wissenschaft gehört den WissenschaftlerInnen bzw. der ganzen Menschheit, wir sollten unsere Daten nicht an Journale verschenken, nur um sie ihnen dann wieder abzukaufen. Sogenannte open access journals (d. h. frei zugängliche Zeitschriften) sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Anstatt unsere eigenen Daten wieder an uns zu verkaufen, sind diese Journale frei zugänglich, das Publizieren von Artikeln in diesen Journalen ist allerdings ein wenig teurer. Jedes Journal braucht eine Basisfinanzierung – diese könnte durch solche Gelder abgedeckt werden, möglicherweise könnten auch staatliche Gelder helfen. 99% der Artikel heutzutage werden online abgerufen, Journale müssten nicht mehr in Druck gehen. Das Review-System basiert bereits jetzt nicht auf dem Journal selbst, sondern wird von peers (gleichgestellten Kollegen; siehe oben) übernommen, die kaum Bezahlung erhalten. Ein von WissenschaftlerInnen für WissenschaftlerInnen geführtes System von Journalen – unterstützt von staatlichen Geldern – könnte möglicherweise so funktionieren.

Ich glaube, dass man durch solche und weitere Änderungen eine langfristige Verbesserung der Arbeitssituation junger WissenschaftlerInnen, aber auch der Qualität wissenschaftlicher Arbeit erreichen könnte. Jeder Mensch funktioniert auf andere Art und Weise und so auch jede WissenschaftlerIn. Alle müssen ihr eigenes Tempo und ihre eigene Art der Kreativität und Produktivität finden, doch wir müssen den Druck lockern, der uns unflexibel und starr macht – ein Zustand, der jeglicher Idee wissenschaftlicher Freiheit zuwiderläuft.

Natürlich sind die oben geschilderten Probleme in den Naturwissenschaften in einem gesamt-gesellschaftlichen Kontext entstanden und nur schwer davon zu trennen. Die globalisierte Wirtschaft des 21. Jahrhunderts ist leistungs- und wettbewerbsorientiert sowie an der Maximierung des Profits ausgerichtet. Sie lässt der Wissenschaft, nicht überraschend, keinen geschützten Raum, um anders vorzugehen oder nach anderen Regeln zu spielen. Dennoch müssen Änderungen an irgendeinem Punkt ansetzen und ich glaube, dass wir als wissenschaftliche Gemeinschaft eine gewisse Macht haben, solche Änderungen in Gang zu setzen. Wenn wir uns besser organisieren, mehr hinterfragen und aktiver die Zukunft der Wissenschaft in der Art und Weise gestalten, wie wir uns das vorstellen, können wir erreichen, dass Wissenschaft wieder zu dem wird, was es einmal war: ein Entdecken, Erkunden, Verirren, Erkennen und schließlich Vorankommen. Ein übermäßig romantisiertes Ideal? Vielleicht, oder aber auch nicht.


[1] Technische AssistentInnen stellen einen wichtigen Teil der wissenschaftlichen Labors und Arbeit dar. Im Gegensatz zu den WissenschaftlerInnen erfahren sie eine Ausbildung, die mehr auf Labortechniken und -praktiken fokussiert ist und weniger auf wissenschaftliche Fragestellungen. In der Regel sind sie schneller und geschickter bei der Durchführung der laborbasierten Standardtechniken, vor allem im Vergleich mit jüngeren, technisch unerfahrenen WissenschaftlerInnen, und können dadurch einen großen Teil zum Vorankommen der wissenschaftlichen Arbeit leisten. Oft werden solche Stellen auch von jungen Leuten besetzt, die nur für einige Jahre bleiben, um dann selbst ein Studium oder eine Dissertation zu beginnen. Die arbeitsrechtliche Situation ist für TechnikerInnen ein wenig besser als für WissenschaftlerInnen: Sie erhalten häufig fixe Arbeitsverträge und ihnen werden – da sie nicht notwendigerweise davon abhängig sind, in der akademischen Forschung Karriere zu machen – in der Regel normale Arbeits- und Urlaubszeiten zugestanden.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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