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Adrian Wilding: In-gegen-und-jenseits der marktförmigen Universität!
Die Studierendenproteste in Großbritannien 2010 und 2011

Übersetzt von Ina Klötzing, Marcel Stoetzler und Lars Stubbe

Einleitung: Hintergrundinformationen zu den Protesten

2010 fanden in Großbritannien die größten und heftigsten politischen Proteste für Bildung seit Jahrzehnten statt. Diese Proteste zeichneten sich nicht nur durch die Kühnheit mit der die Studierenden den britischen Staat konfrontierten, sondern auch durch das Niveau ihres Kampfes und den radikalen Charakter der gestellten Forderungen aus. In kürzester Zeit entkräfteten diese Proteste den verbreiteten Irrglauben der Neunziger, dass Studierende nicht eigenständig handeln würden, konservativ seien und sich nur noch als reine Kunden eines Bildungsartikels sähen (eine weitverbreitete Annahme zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts). Dieser außergewöhnliche Aufstand der britischen Studierenden vermittelt Hoffnung auf die Zukunft eines Bildungssystems, das die Machthabenden Großbritanniens mit allen Mitteln zu demontieren suchen.

Um die Gründe für die Studierendenproteste in Großbritannien zu verstehen, ist ein wenig geschichtlicher Hintergrund hilfreich, insbesondere zu den Veränderungen und der „Vermarktlichung“ [Einführung von Marktstrukturen] des britischen Hochschulwesens in den letzten zehn Jahren. Die Transformation beginnt mit dem überwältigenden Sieg von „New Labour“ und der Wahl Tony Blairs zum Premierminister im Jahr 1997. „New Labour“, hatte Bildung zum Hauptthema ihres Wahlprogramms gemacht und ein berühmter Wahlslogan Tony Blairs lautete: „Education, Education, Education!“ [Bildung, Bildung, Bildung]. Für jede Labourregierung, von der traditionellerweise eine Politik links von der Mitte erwartet wurde, musste Bildung ein wichtiger Bestandteil ihres Politikkonzepts sein. Blair versprach im Wahlkampf den Zugang zu Bildung zu erweitern und zu vereinfachen, Fachhochschulen zu neuen Universitäten zu machen und deren Abschlüsse denen der alteingesessenen Universitäten gleichzustellen. Vor 1990 war das akademische Bildungssystem fast ausschließlich steuerfinanziert und mit Ausnahme der reichsten Haushalte erhielten alle Studenten Stipendien für Gebühren und eine Ausbildungsförderung zur Sicherung der Lebenshaltungskosten (kein großer Betrag, aber genug zum Überleben). Dieses Bildungssystem und seine Finanzierungsmodalität waren das Vermächtnis eines Sozialstaates und einer Bildungspolitik des „Nachkriegskonsenses“. Es gab damals eine breite Übereinstimmung im gesamten politischen Spektrum über den gesellschaftlichen Wert von Bildung und dessen Finanzierung durch eine progressive Einkommenssteuer.

Der Angriff auf dieses soziale Bildungssystem wird normalerweise mit Thatchers neoliberaler Politik während der achtziger Jahre assoziiert, aber es war faktisch Tony Blairs Politik, eine Politik einer nur dem Namen nach sozialdemokratischen Partei, die Thatchers neo-liberale Agenda erfolgreich umsetzte. Denn nachdem New Labour die Wahl 1997 gewonnen hatte, kam es in allen Politikfeldern und insbesondere im Bildungsbereich zu vermehrtem Sozialabbau und zur Einführung von Marktmechanismen, deren Ausmaß selbst Thatcher neidisch gemacht hätte. Das Bildungswesen wurde zum Kernpunkt der neoliberalen Transformationspolitik. Mit der Kürzung von Universitätsszuschüssen wurde gleichzeitig von diesen erwartet, die Fehlbeträge zunehmend durch höhere Studiengebühren auszugleichen. Zunehmend wurden Studentenkredite bereitgestellt (dem Bafög vergleichbar), mit denen die Studierenden nun die Universitätsgebühren und den Lebenserhalt (Essen, Miete usw.) zu bestreiten hatten und die nach Aufnahme einer Berufstätigkeit und Erreichung eines Mindestgehaltes wieder abbezahlt werden sollten. Die Marktwirtschaft durchdrang mehr und mehr die akademische Bildung, so wurde Bildung zu einem Produkt, dessen Kosten mehr und mehr vom Steuerzahler auf den Studierenden selbst übertragen wurden. Während das Studium mit Ausbildungsförderung vom Studierenden als Selbstzweck betrachtet werden konnte, verwandelte es sich durch das von der Marktwirtschaft durchdrungene Bildungswesen in eine Ware, die das Individuum auf Jahre (vielleicht ein Leben lang) mit hohen Schulden belasten würde. Mit dem Eindringen des Marktes in die Hochschulbildung wurde der Gebrauchswert eines Hochschulabschlusses zunehmend zu einem Tauschwert.

Vielleicht weil sie erahnten, dass die Einführung von Marktmechanismen akademische Standards untergraben könnte, suchte die unter New Labour gebildete Regierung nach Wegen diese sicherzustellen. Dies geschah jedoch in der eher perversen Form von Maßnahmen zur Messung des Forschungs-Outputs von AkademikerInnen denn zur Messung der Verbesserung von studentischen Lernerfolgen. Die sogenannte Forschungsbewertung („Research Assessment Exercise“), die vorgibt, dass die DozentInnen jedes Jahr eine Mindestanzahl von im „peer-review“-Verfahren begutachteten Artikeln oder Büchern veröffentlichen, sollte die Qualität der Forschung verbessern, hatte jedoch einen gegenteiligen Effekt auf die Qualität der Lehre, da die mit Forschung verbrachte Zeit für den Studierendenkontakt fehlte. Es setzte sich ein alptraumhaftes Szenario durch, in dem Studierende ein rein instrumentelles Verhältnis zum Lernen entwickelten – dabei betrieben sie das Lernen nicht um seiner selbst willen, sondern nur mit dem Ziel einen Abschluss zu erlangen, der ihnen den Weg zu einem Job ebnen sollte, welcher es ihnen erlauben würde, die Schulden abzubezahlen, deren Aufnahme ihnen überhaupt erst den Universitätsbesuch ermöglicht hatte – während ihre DozentInnen nur wenig Zeit für die Lehre hatten, weil sie gezwungen waren, die meiste Zeit mit Schreiben und Veröffentlichen zuzubringen. Die Universitätsfakultäten wurden nun von GeschäftsführerInnen geleitet, deren einzige Aufgabe es war trotz Kosteneinsparungen bessere Ergebnisse und Forschungsbewertungen zu erzielen. Anstatt jedoch langfristig zu investieren, um bessere Ergebnisse zu erzielen, wurde versucht, Abkürzungen zu nehmen, wie etwa der Einsatz großer Teile des Budgets zur Anwerbung akademischer „Superstars“, die hochrangig bewertete Forschungen durchführten und publizierten, jedoch von den Studenten nur selten gesehen oder gehört wurden.

So wie die Universität Blairscher Prägung einen neuen Typus DozentIn einstellte, war sie in erheblichem Ausmaß auch in der Lage ihre Studierenden auszuwählen. Auch diese Wahl unterlag in zunehmendem Maß wirtschaftlichen Faktoren. Britische Universitäten führten jetzt zunehmend gestaffelte Gebühren ein, d.h. dass ausländische Studenten höhere Gebühren zahlen mussten, mit denen die Ausfälle der staatlichen Finanzierung kompensiert werden sollten. In diesem Sinne war die Öffnung Chinas für die Außenwelt ein Geschenk des Himmels, da sie in einem neuen Studierendenmarkt hohe Gebühren verlangen konnte. In dieser Zeit wurden von akademischen „Whistleblowern“, d.h. anonymen InformantInnen (manchmal auch als „NestbeschmutzerInnen“ abgewertet), zunehmend Geschichten ans Licht gebracht, aus denen hervorging, dass es zu einer so genannten „Zensureninflation“ gekommen sei, d.h. dass Studierende bessere Zensuren erhielten, als sie verdienten. So kamen Vorwürfe ans Licht, nach denen auf Akademiker Druck ausgeübt wurde, damit diese weiterhin Zensuren in einer Art „Normalverteilung“ gäben, trotz sich verschlechternder Unterrichtsqualität, verringerter Kontaktzeit zwischen Studierenden und DozentInnen und zunehmenden Plagiatsfällen. Nicht zuletzt die Guttenberg-Affäre hat ja gezeigt, welche Bedeutung diese hierzulande haben.

Die Wahl im Jahr 2010, das Sparprogramm und der „Browne Report“

Allgemeine öffentliche Unzufriedenheit mit New Labour im Vorfeld der Wahl 2010 (einschließlich deren Bildungs- und Hochschulpolitik) führte zu unerwartetem Zulauf für eine dritte Partei, den Liberal Democrats. (Nicht zu verwechseln mit den deutschen Liberal Demokraten – die Politik der britischen Liberal Democrats war etwas weiter links von New Labour angesiedelt). Der Umschwung zu den Liberal Democrats lag teilweise an ihren löblichen Versprechen in Bezug auf Bildung, insbesondere die Abschaffung der Studiengebühren und die Rückkehr zur steuerfinanzierten Hochschule, was Bildung wieder zu einem gesellschaftlichen Gut gemacht hätte.

Die Wahlergebnisse aus dem Jahr 2010 sind wohlbekannt: Zum ersten Mal seit 1945 erlangte keine Partei im britischen Parlament eine absolute Mehrheit. Dies lag zum großen Teil am unerwartet hohen Wahlerfolg für die Liberal Democrats. Die Ereignisse nach der Wahl ähneln deutschen Verhältnissen: es kam zu einer Koalition zwischen den Konservativen und den Liberal Democrats. Für das Regierungsprogramm wurden verschiedene Kompromisse ausgehandelt, um die vielfältigen Wahlversprechen der beiden Parteien umzusetzen. Was diese Kompromisse allerdings in Wirklichkeit bedeuteten, konnten sich nur wenige Wähler und Wählerinnen der Liberal Democrats vorstellen. Nick Clegg, jetzt stellvertretender Premierminister, sollte im Bereich der Hochschulbildung die Ergebnisse des „Browne Reports“ umsetzen, dessen Empfehlungen jedoch nicht die Abschaffung der Gebühren vorsahen, mithin also den Wahlversprechen der Liberal Democrats widersprach. Die Gebühren würden nun von derzeit 2.000 Pfund pro Jahr (≈ 2,300 Euro) auf 6.000 bis 9.000 Pfund pro Jahr (≈ 6,800 bis 10,000 Euro) angehoben, eine überraschende Wende und ein Verrat durch diese erst seit kurzem beliebte Partei. Nur ein paar Monate nach der allgemeinen Wahl stimmte das Parlament mit einer knappen – aber ausreichenden - Mehrheit für die Einführung dieser Pläne. Gleichzeitig protestierten Studierende zornig und gewalttätig vor den Mauern des Parlaments.

Die Hochschulpolitik der Koalition bedeutete effektiv eine 80%ige Kürzung der staatlichen Finanzierung von Hochschulen. Dieser Verlust an Geldern sollte zum einen durch Kosteneinsparungen (also Entlassung von Lehrpersonal und Schließung von sogenannten „unwirtschaftlichen Fachgebieten“, wie z.B. moderne Sprachen) gedeckt werden. Zum größten Teil aber sollten diese 80% direkt auf die individuellen StudentInnen in Form höherer Gebühren umgelegt werden. Um diesen Schlag für die Studierenden etwas abzumildern, sollten mehr Kredite zur Verfügung gestellt werden, die dann im Laufe des Lebens zurückzuzahlen sind, womit das von New Labour eingeführte System ausgeweitet werden sollte. Gleichzeitig machte die Regierung die Auflage, dass nur die Universitäten, die sich um ein breites soziales Spektrum von Studierenden bemühten, die höchste Gebührenrate von 9.000 Pfund pro Jahr verlangen dürfen. Tatsächlich erhoben jedoch fast alle den vollen Betrag und versprachen den Zugang auf breitere Bevölkerungsgruppen auszudehnen, denn keine wollte als Universität zweiter Wahl angesehen werden.

Die 180-Grad-Wende der Liberal Democrats in punkto Studiengebühren führte dazu, dass viele Wähler sich vehement über den Verrat beklagten und zu einem steilen Absturz der Partei in den Umfragen. Tatsächlich bewirkten die ersten Monate der Koalition eine weitgehende Desillusionierung mit der Parlamentspolitik überhaupt. Letztere wurde nun als Kuhhandel, schmutziges Tauschgeschäfte und leichtfertiger Verrat gesehen. Nach über 50 Jahren Herrschaft von Einparteienregierungen war Großbritanniens erste Erfahrung mit einer Koalitionsregierung für viele eine riesige Enttäuschung. So wie das Parlament in der Verhinderung der Beteiligung am Irak Krieg versagte, schien es, als könne eine Koalitionsregierung den Willen des Volkes ebenso einfach ignorieren wie eine Einparteienregierung.

Die Proteste

Während die Regierungskoalition ihre Verhandlungen aufnahm, begannen sich erste GegnerInnen gegen die Erhöhung der Gebühren zu formieren. Vor allem den Liberalen nahestehende Studierende radikalisierten sich, demonstrierten in großen Zahlen und besetzten Hochschulgelände, hauptsächlich an Londoner Universitäten aber auch an vielen anderen Universitäten überall im Land. Die Proteste weiteten sich schnell aus und bald waren tausende Studierende und SchülerInnen, d.h. zukünftige Studierende beteiligt. Die ersten von mehreren Aktionstagen wurden organisiert.

Tag Nummer 1: Der 19. November 2010 war nicht nur für viele Studierende und junge Leute auf den Straßen Londons bedeutend, sondern auch für die Medien, die über diese Demonstrationen mit hoher Präsenz berichteten. Dieser Tag hat zweifellos seine Kultmomente, insbesondere die Erstürmung des Millbank Tower, der Parteizentrale der Konservativen Partei, wo die Zahl der DemonstrantInnen die der Polizei übertraf. Ebenso bedeutsam war die Demonstration rund um den Cenotaph, Londons berühmtes Denkmal zur Erinnerung an die Gefallenen beider Weltkriege. Beide Ereignisse sollten am nächsten Tag von der konservativen Presse dazu genutzt werden, die DemonstrantInnen als „VandalInnen ohne Respekt für Besitz und Tradition“ zu beschimpfen.

Am Donnerstag, dem 9. Dezember 2010, auch „Tag X“ benannt, wurde im Parlament über die Dreifachgebühren abgestimmt und Studierende, deren Eltern und DozentInnen protestierten gemeinsam. Der Erfindungsreichtum der demonstrierenden jungen Leute zeigte sich an den neuen und medienaffinen Methoden, um ihre Botschaft bezüglich der Kosten der von der Regierung beschlossenen Gebührenanhebungen zu vermitteln. Der sogenannte „Book Bloc“ wurde dabei als bemerkenswertes und kluges Element des Protestes genutzt. Während der Demonstrationen trugen die StudentInnen riesige Büchermodelle und zeigten so mit Scharfsinn, Humor und Ironie was Bildungsabbau in der Praxis bedeutet. Zum Einsatz kamen Titel wie Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“, in Anspielung auf den Status der neuen „marktwirtschaftlich handelnden“ Studierenden, Josef Hellers „Catch 22“, ein Verweis auf die schwierigen oder gar unmöglichen Entscheidungen vor denen die Studierenden von heute stehen, und Becketts „Endspiel“, das für die düstere Zukunft verschuldeter Studierenden steht.

Während die Studierenden versuchten, die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, verfolgte die Polizei am „Tag X“ andere Ziele. Ihre Bereitschaft zur gewalttätigen Niederschlagung der Proteste zeigte sich an zwei Vorfällen: so wurde der Aktivist und Rollstuhlfahrer Jody McIntyre aus seinem Rollstuhl gezerrt. Er wurde später von einem Polizisten beschuldigt, bedrohliches Verhalten gezeigt zu haben. Ebenso macht der Fall des Philosophiestudenten Alfie Meadows die Aggressivität und Gleichgültigkeit der Staatsorgane deutlich. Zuerst wurde er von einem Polizisten niedergeknüppelt, wobei er einen heftigen Schlag auf den Kopf erhielt, dann wurde ihm ein Krankenwagen verweigert, das Krankenhaus wies ihn ab, da es „nur für PolizistInnen reserviert war“, und schließlich fiel er in ein Koma. Die Öffentlichkeit wurde über diese Vorfälle von Polizeibrutalität kaum informiert, da sich die überwiegend konservative Presse auf einen anderen einprägsamen Moment konzentrierte, als nämlich Prinz Charles und seine Frau Camilla mit dem Auto mitten im Protest festsitzen und das Paar „von einem wütenden Mob bedroht wurde“.

Die Methoden mit denen der Staat, insbesondere die Polizei, gegen die Protestierenden vorging, zeigen die andere Seite der Geschichte von 2010. Die Studierenden mussten sich auf den Einsatz der durch die Polizei seit späten Neunzigern angewendeten „außergewöhnlichen Maßnahmen“ einstellen, wie z.B. das Filmen der DemonstrantInnen durch die Polizei, die Abnahme von Fingerabdrücken und DNS-Proben. Die Regierung hat auch neue Gesetze angewendet, die als Antiterrorgesetze nach dem 11. September verabschiedet wurden und die auf den sogenannten „Binnenextremismus“ (Protestierende aus der linken und grünen Gruppen) zielen. Sie ermöglichen die Inhaftierung von Verdächtigen über lange Zeiträume und sehen lange Haftstrafen für relativ geringe Verbrechen vor. Das Gesetz wird dazu eingesetzt, jeden zu kriminalisieren, der einen starken Dissens mit der Regierungspolitik zeigt.

Hier sie besonders auf die von der Polizei zum Einsatz gebrachte Technik Einkesselns verwiesen, wobei die Polizei die Demonstrierenden umzingelt und sie sich nicht fortbewegen können, gleich einem Kessel mit heißem Wasser. Die Cameron-Regierung bezeichnet dies in Orwellschem Neusprech als „Verwahrung in der öffentlichen Sicherheit“, was in der Praxis bedeutet, dass Menschen umringt und festgehalten werden und stundenlang, während der jüngsten Proteste oft bis spät in die Nacht, keinerlei Zugang zu Toiletten, Wasser oder Nahrung haben.

Dennoch ist diese Taktik nicht unangefochten geblieben. ProtestlerInnen vom G8 Gipfel 2009 klagten gegen die London Metropolitan Police vor dem obersten Gerichtshof Großbritanniens, dem High Court, der das Einkesseln als ungesetzlich verurteilte. Andere Studierendengruppen klagen derzeitig am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ihre Klage lautet, dass das Einkesseln eine „kollektive Bestrafung“ oder einen de facto –„Freiheitsentzug ohne Verurteilung“ bedeutet, was gegen die Genfer Konvention verstößt. Jedenfalls scheint das Einkesseln zum Eigentor der Polizei werden, denn anstatt die jungen DemonstrantInnen zu verängstigen, hat es sie stärker radikalisiert.

Besetzung, Flugblätter, Neue Organisationen, Neue Alternativen

Während der Demonstrationen wurden auch mehr und mehr Universitätsgebäude besetzt. Mithilfe der Sozialen Netzwerkmedien und der Veröffentlichung mehrerer Online-Magazine und –manifeste stellten die besetzenden Studenten Verbindungen zur weltweiten Öffentlichkeit her. Viele dieser Flugschriften waren durchdrungen von einer kraftvollen Rhetorik und gaben aufschlußreiche Analysen, die sich nicht nur auf frühere Klassenkämpfe stützten, wie etwa die Ereignisse von 1968, sondern auch auf jüngere Darlegungen Bezug nahmen, wie etwa das französische Buch „L’Insurrection qui vient“ (Der kommende Aufstand).[1]

Eine Gruppe der BesetzerInnen und ProtestlerInnen schrieb eine wortgewandte Verteidigung des Einsatzes von Gewalt gegen Sachen während der Proteste: „Gebrochen und sprachlos durch die Zahnräder der Gesellschaftmaschinerie, zerstören wir Dinge um teilzuhaben: die Regeln, das Gesetz, Fenster, Eigentumsrechte, Normen, die vom Staat bestimmte Nutzung öffentlichen Raumes“.[2] Diese interessante Idee von einer „Zerstörung als Teilhabe an der Gesellschaft“ ging über die normalerweise genutzte Verteidigung von Protesten hinaus und zeigte, dass es legitime Formen politischer Aktion gibt, die die Grenzen liberaler, verfassungsgebundener Politik überschreiten.

In den Monaten seit den ersten Protesten wurden verschiedene Organisationen gegründet um die Ziele der Bewegung weiter voranzubringen. Die London Student Assembly, das Education Activists Network und Netroots wurden von Studenten ins Leben gerufen um die Vorgehensweise und Zusammmenarbeit für die Zukunft auszuarbeiten. Eine Gruppe, genannt UK Uncut, ist einflussreich und mobilisiert gegen Studiengebühren und das Sparprogramm. UK Uncut argumentiert überzeugend, dass es beim Sparprogramm der Regierung nicht wirklich darum geht, dass alle am gleichen Strang ziehen um die Staatsverschuldung zu reduzieren, sondern dass das Regierungsprogramm nur eine ideologische Waffe der Reichen und ihrer politischen Vertreter gegen die öffentlichen Dienstleistungsanbieter ist. UK Uncut nutzt neuartige, legale und medienaffine Mittel um auf die Abschreibungstaktiken großer Firmen, wie z.B. die Bekleidungsfirma „Top Man“ oder das Mobilfunkunternehmen Vodafone hinzuweisen. Die Gruppe versucht so aufzuzeigen, dass das Sparprogramm unnötig wäre, wenn Körperschaftssteuerzahlungen an den Staat richtig ausgeschöpft würden, Steueroasen verboten wären und die Einführung einer Steuer für größere Banktransaktionen eingeführt würden.

Teile der Studierendenbewegung nahmen Kontakt mit den Gewerkschaften auf, um mehr Unterstützung zu erhalten. Und einige der Gewerkschaften erwiderten das, namentlich „Unite“, Großbritanniens größte Gewerkschaft, deren Vorsitzender seine und andere Gewerkschaften aufforderte, mit der „großartigen Studierendenbewegung“ zusammenzuarbeiten. Unite half bei der Organisation des „March for the Alternative“ am 26. März 2011. Am Protest gegen das Sparpaket nahm eine geschätzte halbe Million Menschen auf den Straßen Londons teil, es war die größte Demonstration in Großbritannien seit dem Protest gegen den Krieg im Irak.

Interessanterweise bestand der Widerstand der Studierenden gegen den Bildungsabbau nicht nur aus rein negativer Gegenwehr, sondern es wurden auch positive Alternativen zu den aktuellen Bildungsformen erprobt und geschaffen. Beispiele dafür sind neue Formen der Akademie, die alternative Modelle zu den neoliberalen, in Analogie zum Markt gestalteten Universitäten bieten. Auf ehrenamtlicher Basis organisieren AkademikerInnen an der „Really Free School“, der „Really Open University“[3] freie Vorlesungen und Seminare. In ähnlicher Weise folgt die „University of Strategic Optimism“ [Universität für strategischen Optimismus] der ehrwürdigen dadaistischen Tradition und gibt Vorlesungen in Banken und Einkaufshäusern, mit dem Versprechen „die Märkte zu bilden, wenn die Bildung vermarktet wird“. Ein anderes Modell ist das des „Social Science Centre“ an der Universität von Lincoln. Hier bestimmen die Studierenden die Gebührenhöhe selbst und bezahlen nur das, was sie sich leisten können, außerdem sind sie gleichberechtigt an der Organisation des Zentrums beteiligt. Durch solche Gruppen versuchen Studenten und gleichgesinnte DozentInnen eine Art „vorwegnehmender Politik“ zu schaffen, in der eine antihierarchische und nicht marktorientierte Organisationsform bewusst den Charakter einer noch-nicht-existierenden befreiten Gesellschaft antizipiert.

Neben der Kreation neuer Formen direkter Aktion, neuen Koalitionen und vorwegnehmender Politik, suchten und entwickelten die Studierenden neue Wege um ihren Protest effektiver zu gestalten. In Zusammenarbeit mit SoftwareingenieurInnen wurde eine neue Technologie entwickelt, „Sukey“ genannt.[4] Diese nutzt die neuen Social Media um Protestler zu warnen, sodass sie dem Einkesseln durch die Polizei entgehen können. Geschickt entmachtet sie so auf legalem Weg eine wichtige Waffe der Polizei gegen die DemonstrantInnen. Daran zeigt sich, dass die Internettechnologie und Social Media als Mittel des Klassenkampfes verstanden werden müssen. Eben jene Technologie, die im Leben junger Menschen immer wichtiger wird, wird somit auch mehr und mehr zum Teil ihres Kampfes.

Theoretische Reflexionen und Erkenntnisse für die Zukunft

Aus einer theoretischen Perspektive heraus können die gegenwärtigen Studentenproteste von verschiedenen Blickrichtungen untersucht werden, wobei ich mich hier auf zwei beschränken werde. Zunächst können uns die Ideen des italienischen Theoretikers Giorgio Agamben nützlich sein, um die Handlungen, mit denen der Staat auf die Proteste reagierte, zu verstehen. Agamben schreibt, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft der Ausnahmezustand zur Norm wird.[5] Diese Vorstellung kann uns dabei helfen, die „außergewöhnlichen Maßnahmen“ zu erklären, mit denen der britische Staat Opposition durch Kriminalisierung zu unterdrücken sucht, zum Beispiel unter Rückgriff auf die Terrorismusgesetzgebung. Die Klassifizierung des Protests als tatsächlich oder potentiell terroristisch erlaubte der Polizei – sofern sie überhaupt irgendwelcher Ermutigung bedurft hätte – die politische Opposition der studentischen Unruhen mit gewaltsamer Niederschlagung, Einkesselung und Bespitzelung zu beantworten.

Ergänzend zu der Konzentration der Perspektive auf die Macht des Staates, das Gesetz zur Niederwerfung der Opposition zu benutzen, muss jedoch eine von der gesellschaftlichen Basis ausgehende Blickrichtung eingenommen werden. Dadurch kommt die bemerkenswerte Macht der Opposition und die beachtliche Stärke und Entschlossenheit der Handlungen der jugendlichen Protestierenden ins Visier, auf die der Staat lediglich reagiert und vor der er sich ganz offensichtlich fürchtet. Eine nützliche Perspektive, die die Stärke sowohl der Protestierenden wie auch des Staates, und auch den Erfindungsreichtum, mit dem jede Seite auf die Handlungen der jeweils anderen reagiert, in Rechnung stellt, scheint mir der aus dem autonom-marxistischen Diskurs stammende Begriff der „Kampfzyklen“ zu bieten, in denen die kämpfenden Parteien abwechselnd die Oberhand gewinnen.

Die Frage nach dem Inhalt dieser Zyklen, lässt sich sinnvoll mit Ansätzen „libertärer KommunistInnen“ wie etwa John Holloway erklären, die das Wesen gegenwärtiger gesellschaftlicher Konflikte im Kampf um die Reduzierung des Lebens auf Kapitalakkumulation und -verwertung sehen. Dem gegenüber steht der Versuch, neue Formen gesellschaftlicher Verhältnisse und der „Selbst-Inwertsetzung“ heute zu entwickeln.[6] Die Studierendenproteste können als Teil eines umfassenden Kampfes zur Schaffung von Gesellschaftsverhältnissen verstanden werden, die sich auf Freiheit, Demokratie und Selbstorganisierung und nicht auf der bloßen Reproduktion von Kapital und traditionellen Gesellschaftshierarchien gründen. Wir können insofern sagen, dass die Studierendenaktionen „in-gegen-und-über-das-Kapital-hinaus“ stattfinden, um einen Ausdruck Holloways zu benutzen. Es sind nicht nur einfach Proteste innerhalb des Kapitalverhältnisses, die leicht einzudämmen wären, sondern auch Kämpfe gegen das Kapitalverhältnis und sie drängen zu einem gewissen Grade auch „darüber hinaus“, indem sie eine befreite, nicht-hierarchische und nicht-geldförmige Gesellschaftsform vorwegnehmen. In dem während der gegenwärtigen Proteste oft gesehenen Slogan „streiken, besetzen, umgestalten“ kommt dieses Ziel zum Ausdruck. Es geht nicht nur darum, zu protestieren, sondern etwas Neues aufzubauen, zum Beispiel Bildungsformen, die Bildungseinrichtungen ohne Profit oder Schulden vorwegnehmen.

Ich denke, dass der „(post-)autonomistische“ oder „libertär-kommunistische“ Ansatz uns auch über die eher beschränkte und einschränkende Ansicht hinausführen kann, nach der diese Proteste nur Wirkung zeitigen können, wenn sie an ein linkes Parteiprojekt angebunden sind. Obwohl nur wenige der Protestierenden Bündnisse mit linken Parteien ganz ausschließen würden, scheinen die meisten unter ihnen sich doch der Stärke, Spontaneität und des zutiefst demokratischen Charakters ihrer Aktionen bewusst zu sein. Sie sind sich im Klaren darüber, dass ihre demokratischen, horizontalen Strukturen und die Spontaneität und Energie die sie gemeinschaftlich ausstrahlen weit über das hinausgeht, was sich gewöhnlich in politischen Parteien findet. Zwar stimmt es, dass Bündnisse mit Parteien und Gewerkschaften unumgänglich sein werden, um den Protesten unmittelbare Wirkungskraft zu verleihen, doch wir sollten den Protestierenden darin folgen, dass sie darauf beharren, Bündnisvereinbarungen auf der Grundlage der Vorstellungen der Aktiven, derjenigen, im Handgemenge solch bemerkenswerte Spontaneität und solchen Mut gezeigt haben, selbst zu treffen und nicht etwa den Bedingungen der politischen Parteien zu folgen, die insbesondere in Großbritannien, historisch immer versucht haben, radikales Handeln zu kooptieren und ihren dogmatischen Schemata unterzuordnen.

Abschließend ich es wichtig zu sagen, dass das Ergebnis der Proteste immer noch nicht klar ersichtlich ist. Wir wissen noch nicht, ob die Ziele erreicht wurden. Der Kampf wird nicht nur gegen den Bildungsabbau geführt, sondern gegen den Neoliberalismus, die Finanzkrise und die Kürzungspolitik. Zwischen den StudentInnen, ArbeiterInnen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen wurden Verbindungen geschaffen, aber wie stark und dauerhaft diese sein werden, ist ungewiss. Auch ist ungewiss, ob die Studierenden die Medien und die breite Öffentlichkeit für sich gewinnen können, da beide, die Studierenden und ihre konservativen GegnerInnen, versuchen, den Kontext der Proteste in ihren Sinn zu beeinflussen. Die Nutzung von Gewalt bleibt weiterhin umstritten. Einerseits nutzt die konservative Presse diese als rhetorische Waffe um die Proteste zu verunglimpfen, andererseits würde die Presse, so scheint es, ohne „kriminelle“ Zerstörung die Forderungen der Studierenden einfach ignorieren. Erfolg oder Niederlage beruhen teilweise auf den internationalen Verbindungen der Protestbewegungen und ob die Studierenden Europa- und weltweit gemeinsam gegen den Bildungsabbau vorgehen können. International erleben wir, dass Bildungsabbau als „Bildungsreformen“ verkauft werden.[7] Fakt ist, dass die Bildung privatisiert, die Lehrtätigkeit abgewertet und die StudentIn zur bloßen KundIn eines Produkts wird, für das er /sie wahrscheinlich ein Leben lang Schulden abbezahlen muss und das keine feste und gut bezahlte Anstellung mehr garantiert. Wenn wir etwas von den britischen Protesten gelernt haben, dann dieses, dass zwischen den Bewegungen in Großbritannien, Deutschland, Spanien, Griechenland, Italien, Amerika usw. Übersetzungs-, Verständigungs- und Verbindungsarbeit geleistet werden muss. Nur gemeinsam lässt sich die Politik des Sozialabbaus beenden und eine Alternative finden.


[1] Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand (Nautilus, 2010)

[2] Escalate Collective, “This is Actually Happening”.

[3] Es gibt in Großbritannien eine aus Steuergeldern finanzierte “Open University”, Anm. L:S.

[4] Nach einem alten Kinderlied: “Polly put the kettle [Kessel] on / Sukey take it off again”.

[5] Giorgio Agamben, Ausnahmezustand: Homo Sacer I,I Frankfurt, Suhrkamp, 2004

[6] John Holloway, Kapitalismus Aufbrechen. Münster, Dampfboot Verlag, 2010.

[7] Richard Münch, Akademischer Kapitalismus - Über die politische Ökonomie der Hochschulreform (Suhrkamp. 2011)

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