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Martin Glasenapp: Wir sind auf dem Weg
in ein neues Zeitalter Interview mit Fawwas Traboulsi. Fawwas Traboulsi gilt als eine linke Legende im Libanon und kann auf mehr als vier Jahrzehnte politischen Aktivismus zurückblicken. Er war Mitbegründer der Organisation Libanesischer Sozialisten, die 1969 den nationalen Revisionismus der traditionellen libanesischen KP kritisierte und für eine internationalistische Neuorientierung gemeinsam mit der palästinensischen Bewegung eintrat. Zusammen mit anderen studentischen Linken gründete er 1971, inspiriert durch den Pariser Mai 1968, die Organisation Kommunistische Aktion Libanon (CAOL), die bis in die Zeit des libanesischen Bürgerkriegs aktiv war. Seit 1997 ist Traboulsi Professor für Geschichte und Politik an der Lebanese American University in Beirut. Er publiziert regelmäßig zu arabischer Geschichte, Politik und sozialen Bewegungen. Seine Übersetzungen umfassen Arbeiten von Marx, Gramsci, Isaac Deutscher, Che Guevara, Etel Adnan, Sa`di Yusuf und Edward Said. Das Interview führte Martin Glasenapp (medico international) in Beirut, März 2011. Die ProjektpartnerInnen der sozialmedizinischen Hilfsorganisation medico international im Libanon, in Israel, Palästina und Ägypten engagieren sich für gleichen Zugang zu Gesundheit, für Bürgerrechte und eine demokratische Zukunft aller Menschen in Westasien (Naher Osten). Informationen unter: www.medico.de Martin Glasenapp: In einem Gespräch zwischen Tariq Ramadan und Slavoj Žižek auf Al Jazeera zitierte letzterer den alten Satz von Mao Zedong „Es herrscht ein großes Chaos unter dem Himmel, aber die Bedingungen sind exzellent“, um den Aufruhr in der arabischen Welt zu beschreiben. Sehen Sie das auch so? Fawwas Traboulsi: Mir gefiel, wie Žižek die aktuelle Entwicklung ein „säkulares Wunder“ nannte, weil gerade unvorhersehbare Dinge geschehen. Auch für uns kamen die Ereignisse in Tunesien und in Ägypten plötzlich und unerwartet. Lange Jahre herrschte im arabischen Raum eine Ideologie der Hoffnungslosigkeit, die davon ausging, dass die Demokratie allenfalls in Menschenrechtsworkshops gelehrt oder uns von den USA auferlegt wird, die doch zugleich der erste Garant unserer Oligarchien waren. Aber die wirkliche Demokratie ist eine Frage der umfassenden Veränderungen aller gesellschaftlichen Strukturen, letztlich ist es die Revolution selbst. Es gibt scheiternde Revolutionen und es gibt Revolutionen, die eine partielle Demokratie zur Folge haben. Letzteres verlangt besonders von uns Linken Konzessionen gegenüber der bürgerlichen Demokratie, wenn wir zu keiner sozialistischen Revolution in der Lage sind. In jedem Fall wird die Veränderung des aktuellen Status Quo ein komplizierter und widersprüchlicher Prozess werden. Wir leben nicht nur in einer Region mit einer anderen Kultur, sondern alle politischen und sozialen Rechte in der arabischen Welt - seien es die Mehrparteiensysteme, die Pressefreiheit, bessere Verfassungen oder Regierungen -, waren das Ergebnis von Volksaufständen. 1988 fiel die Einparteienherrschaft in Algerien, ein Ergebnis der Wut junger Menschen. Erst drei sogenannte „Brot-Aufstände“ konnten im Marokko die Macht ins Wanken bringen und eine politische Opposition ermöglichen, die immerhin erste Kompromisse gegen den marokkanische König durchsetzen konnte. Auch Jordanien brauchte drei Intifadas, um eine bessere Verfassung und eine Mindestakzeptanz politischer Parteien durch den König zu erreichen, auch wenn eine feudale Oligarchie weiterhin an der Macht ist. Auch in Ägypten war alles, was seit dem Tod von Abdel Nasser in 1970ern Jahren geschah die Folge zweier großer Aufstände, die schließlich das Einparteiensystem stürzten. Alles war immer eine Frage des Drucks der Revolte. Das zeigte sich auch in Bahrain, wo auf die Demonstrationen von 1991 immerhin eine erste Verfassung folgte. Ein ähnliches Muster findet sich im Jemen, in dem ein Mehrparteiensystem erst durch die erzwungene Einheit zwischen der sozialistischen Partei und den sehr konservativ-rechten Stammesstrukturen etabliert werden konnte. Diese Entwicklungen verlaufen nicht aus Gründen einer vermeintlichen „arabischen Identität“ sehr ähnlich, sondern weil die Menschen vielfach die gleichen Wünsche haben und unter ähnlichen Formen autoritärer Herrschaft leben. Martin Glasenapp: Inwiefern? Fawwas Traboulsi: Wir haben bei uns zwei Varianten von Regimes, entweder es sind Diktaturen ohne jede Legitimation - oder es handelt sich zunächst vom Volk anerkannte Autoritäten, die sich dann aber in repressive Herrschaftssysteme verwandelten, die allein auf Korruption und Ausbeutung basierten. Die landläufige neoliberale Vorstellung von Korruption ist dabei völlig bedeutlungslos, denn hier werden allenfalls kleine Funktionäre verfolgt, die 1000 Dollar mitgehen lassen. Ein moderner Pharao wie Mubarak verfügte dagegen über ein Privatvermögen von 40 bis 70 Milliarden Dollar, das sämtlich aus Staatseinahmen stammt. So sehen die Business Effects des globalen Neoliberalismus in den arabischen Gesellschaften aus. Unsere Ökonomien sind heute vorrangig Wirtschaftssysteme, deren Produktivsektoren aufgespaltet und völlig zerrieben wurden; sie sind zu konsumorientierten Märkten und Rentenökonomien verkommen, in denen eine unkontrollierte Privatisierung den Reichtum in die Hände einer kleinen mafiösen Gruppe spült. Deren besonderer Status ergibt sich aus der engen Verbindung zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht. Hinzu kommt, dass unsere Gesellschaften einen Anteil von bis zu 30–40% jungen Menschen unter 30 Jahren haben, die zumeist gut gebildet, aber arbeitslos sind. Diese Generation nutzt nicht nur Informations- und Kommunikationsmittel wie das Internet und Facebook, sondern sie ist auch mit den neuen transnationalen Satellitensendern wie Al Jazeera aufgewachsen, deren unmittelbare Berichterstattung neue Formen eines militanten und identitären Zusammengehörigkeitsgefühls in der Region geschaffen hat. Die vergangenen Monate lehrten uns aber noch etwas anderes. Die Massenmobilisierungen mit friedlichen und defensiven Mittel waren dort erfolgreich, wo in zwei stabilen Staaten, wie in Tunesien und Ägypten, das politische System nicht mit dem Staat identisch ist. Die Problematik ist weitaus sensibler, wenn das bestehende System oder der Diktator, wie im Falle Libyen, selbst das System ist. Oder wenn das herrschende Regime auf einzelne Sektoren des Staates setzt wie etwa im Jemen und in Bahrain, wo Stammesstrukturen oder religiöse Gruppierungen dominieren. Hinzu kommen Länder wie Jordanien, in denen immer auch die ungelöste Palästinafrage virulent ist. Es ist ein Prozess zweier Geschwindigkeiten, der im Fall von Libyen eine sehr gewalttätige Entwicklung annehmen wird, während es auf der anderen Seite langsamer und verfassungsmäßiger verlaufen wird. Offensichtlich ist aber, dass wir auf dem Weg in ein neues Zeitalter sind. Kein einziges arabisches Land wird unberührt bleiben, wobei Algerien mit seiner traumatischen Erfahrung eines Guerillakriegs mit über 100.000 Toten aus dieser Einschätzung etwas herausfällt. Aber nicht nur im Maghreb, auch im Irak beginnen sich die politischen Auseinandersetzungen zu verschieben. Der Fokus liegt nicht mehr nur auf der Anwesenheit der US-amerikanischen Truppen, sondern man hat das Gefühl wieder bei den Irakern und den sozialen Problemen anzukommen. Neue soziale Kräfte treten auf, die weder Verbindungen zu al-Qaida oder der schiitischen Madhi-Miliz[1], dem sog. „Widerstand“ - nennen wir sie besser bewaffnete Insurgenten - haben, noch mit der Regierung alliiert sind. Es ist eine junge Bewegung, die sich aus Sunniten, Schiiten und Kurden zusammensetzt und die Regierung für die mangelnde öffentliche Infrastruktur und die fehlenden staatlichen Dienste kritisiert. Martin Glasenapp: Was halten sie von der Position, die Linke in Europa vertreten, dass der Sturz von Saddam Hussein und der Irakkrieg Bedingungen dafür waren, dass es zu den aktuellen Eruptionen der arabischen Gesellschaften überhaupt kommen konnte? Fawwas Traboulsi: Ich meine, das Gegenteil ist der Fall. Die aktuelle Dynamik lässt sich nicht aus dem Irakkrieg schöpfen. Zuerst einmal hat die Besetzung des Irak kein neues Regime geschaffen, sondern einen Staat zerstört. Saddam Hussein und der Staat waren nicht identisch. Es war nicht notwendig, den Großteil der Verwaltung zu zerstören, die Armee abzuschaffen und eine Million Mitglieder der alten Baath-Partei aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Jeder wusste, dass die allermeisten irakischen Offiziere mit den ausländischen Kräften kollaboriert hätten. Aber all das sind alte Geschichten, die nur bedingt in die Gegenwart wirken. Die offensichtliche Lektion, die wir lernen mussten, ist vielmehr, dass alle kleinen und größeren Aufstände, die zuvor aus einem Mix von sozialen und politischen Forderungen bestanden, von den Regimes mit politischen Konzessionen beantwortet wurden. Die reichen aber nicht mehr aus, auch wenn überall der Ausnahmezustand aufgehoben, Mehrparteiensysteme und Pressefreiheiten eingeführt werden müssen, weil es heute um wirklich sehr tiefgreifende soziale Probleme geht. Martin Glasenapp: In Tunesien und in Ägypten stand Europa bis zur letzten Minute hinter Ben Ali beziehungsweise Mubarak. Wird der Revolutionssturm in Arabien nicht auch zu einem veränderten Verhältnis zwischen einer bald emanzipierteren, selbstbewussteren arabischen Welt und einem verstörten Westen führen? Fawwas Traboulsi: Die in Arabien durch die USA und Europa von außen legitimierte Stabilität war in Wahrheit auch ein verdeckter Bürgerkrieg nach innen. Nach dem 11. September 2001 wurden die autoritären Regierungen zusätzlich als westliche Bollwerke gegen den sogenannten „Terrorismus“ und den islamischen Fundamentalismus gefördert. Es ging um wirtschaftliche Interessen, aber auch um die Verlängerung des Status Quo zwischen Israel und Palästina. Hosni Mubarak lieferte ägyptisches Erdgas weit unter dem internationalen Preis nach Israel und das zu einem auf 20 Jahre festgelegten Tarif. Die Funktion vieler Regime der Region ist nun einmal an das Vorhandensein fossiler Brennstoffe gekoppelt. Die Milliarden arabischer Petrodollars in den USA und in Europa bilden ein bedeutendes Fundament des globalen Marktes. Die Saudis beispielsweise sind in der unangenehmen Situation den jeweiligen US-amerikanischen Präsidenten fragen zu müssen, ob sie ihre Schatzanweisungen veräußern dürfen. Die saudische Armee kann moderne US-Flugabwehrsysteme nachweislich nicht bedienen, kauft aber F-16 Kampfflugzeuge für 60 Milliarden Dollar, so wie eine reiche Person ein Handy oder einen Computer kauft. Das ist der Hintergrund in der Region, von dem alles andere abhängig ist. Jetzt aber geht es erstmals nicht mehr nur um politische Ziele, sondern um wirklichen sozialen Wandel. Daraus begründet sich auch das enorme Gewaltpotential, das zukünftig noch zu großen Zusammenstössen führen kann. Ägyptens Armee blieb tolerant gegenüber den politischen Forderungen des Tahrir-Aufstands, aber als die Gewerkschaften ihre Rechte einklagten, warnten die Generäle vor sozialen Unruhen. Die großen und insbesondere die unabhängigen Gewerkschaften brachten dennoch ihre Forderungen in die politische Agenda ein. Ein Bestandteil dieses „Wunders“, von dem Žižek sprach, war der Umstand, dass ein Slogan gefunden wurde, der alles beinhaltet und in dem sich alle, ob nun Studierende, Arbeitslose, oder Angehörige der Mittelklasse, die Angst vor der Zukunft und ihre Jobs haben, wiederfinden konnten. Ähnlich wie der Aufbruch 1968 kam die direkte Forderung nach einer grundlegenden Veränderung ins Spiel, bei der niemand im Vorfeld schon genau wissen konnte, wo jene Kräfte sind, die sie umsetzen können. Martin Glasenapp: An welchem Punkt kamen die Bewegungen zusammen? Fawwas Traboulsi: Ganz einfach: „Die Herrscher müssen gehen, dass Regime muss fallen“. Wenn in unserer Region ein politischer Akteur die Herrschaft stürzen will, spricht er klassischerweise über die Option der Gewalt oder vereint eine starke Allianz hinter sich. Hier aber fanden sich junge Menschen im Internet zusammen, sie suchten Verbündete und starteten mit Hunderttausenden eine Kampagne. Bis vor wenigen Monaten waren noch alle überzeugt, dass aus dieser ägyptischen Nation nichts mehr entspringt. Aber auf einmal gelang den Menschen in Tunesien der Umsturz, der Hunderttausende mobilisierte, nach Ägypten überschwappte und dort erneut Millionen bewegte. Diese Freiheit verbreitet sich überall weiter; wobei damit nicht gesagt ist, dass es überall radikale Brüche geben wird oder sich ähnliche Massen mobilisieren werden. Die Menschen in dieser Region wurden seit zwei Generationen von ihren Regimes zutiefst gedemütigt, die zu Anfang zwar eine panarabische Ideologie und einen sozialen Aufstieg versprachen, heute aber nur repressiv die innere Ordnung aufrechterhalten. Diese Regime sind ziellos geworden, sie sind weder für noch gegen Amerika und bis auf einige Ausnahmen sind sie dem Palästinenserproblem gegenüber politisch indifferent. Die Antworten auf all das wurde im Netz formuliert, jetzt liegen sie auf der Straße: „Wir wollen alles ändern“. Martin Glasenapp: Wie sehen Sie die Rolle der Linken? Auf dem Weltsozialforum in Dakar sagte der tunesische Schriftsteller Jelloul Azouna, als in Tunesien die Bewegung schon die Straße eroberte, da dachte die Linke noch klandestin. Fawwas Traboulsi: Es ist nicht fair mit Tunesien zu beginnen. Ich möchte auf die Frage allgemeiner antworten: Ja, die Linke ist in den meisten arabischen Staaten seit langem marginalisiert und unterdrückt. Daraus resultiert auch ihre mangelnde Dynamik und minoritäre Präsenz in den aktuellen Kämpfen. Bekanntlich wurden die großen kommunistischen Parteien im Irak und im Sudan schon vor Jahrzehnten abgeschlachtet. Später raubten die rechten Militärregime vielen Linken ihre Energie, sodass sie seit den neunziger Jahren keine nennenswerte Rolle mehr spielten. Bis in die jüngste Zeit war das der Status Quo. Trotzdem gab es in Tunesien eine gute, illegal organisierte, kommunistische Arbeiterpartei, die vor allem aus jungen Menschen bestand. Auch in Ägypten spielten kleine linke Gruppierungen und Parteien ihre Rolle, aber die Millionen verabredeten sich im Internet. Ein anderer Punkt ist die vermeintliche Angst vor den IslamistInnen. In dem Moment, wo in Ägypten 10 Millionen auf die Straße sind, nimmt die Muslimbruderschaft, die etwa 20-25 Prozent der Bevölkerung repräsentiert, natürlich ihren Platz ein. Ähnliches passiert in Tunesien, im Jemen, im Marokko und natürlich auch in Algerien. In Bahrain gibt es nur eine kleine linke Strömung, die eine konfessionsübergreifende Brücke zwischen Sunniten und Schiiten schlägt, aber sie ist keine entscheidende Kraft. Die Frage wird jetzt sein, wie die Linke auf jene Millionen von Menschen reagiert, die handelten, aber nicht in Parteien organisiert sind. Auf alle Fälle kann sie sich neu formieren. Man darf nicht vergessen, dass alle unsere Parteien letztlich stalinistisch waren und in der Vergangenheit entweder einen nationalistischen oder westlich liberalen Kurs einschlugen. Insofern wird es keine leichte Aufgabe sein, die Linke neu rekonstruieren, selbst wenn man den Marxismus als eine umfassende Vision begreift und beginnt, ihn wieder analytisch einzusetzen. Ich denke dennoch, dass die Linke instinktiv weiß, wo sie steht und begriffen hat, dass die Demokratie eine große Errungenschaft ist und wir in der Phase einer demokratischen Revolution sind. Martin Glasenapp: Sprechen wir über den Libanon. Wird der arabische Frühling hier seine Resonanz erfahren? Viele Linke sagen mir, dass es nur kleine Erschütterungen geben wird und ein junger Palästinenser meinte lakonisch: „Wir haben keinen Tahrir Platz, hier hat jede Konfession ihren eigenen Park“. Fawwas Traboulsi: Der Libanon ist eine gespaltene Gesellschaft und im Gegensatz zu allen arabischen Staaten ist auch das Regime gespalten. Die Allianzen des 14. März[2] und des 8. März[3] einschließlich der Hisbollah sind Teil des Regimes, stabilisieren die konfessionellen Blöcke und akzeptieren letztendlich das wirtschaftliche System. Auch wenn im Zusammenhang mit der Allianz 8. März immer von der Ablehnung des UN-Sondertribunals gesprochen wird,[4] so kritisiert dieser Block in erster Linie die allgegenwärtige Korruption. Im Libanon ist die lokale Oligarchie sehr eng mit dem internationalen Kapital verflochten. Die Staatsverschuldung besteht in erster Linie aus einer Verschuldung des libanesischen Staates gegenüber den einheimischen Banken. Das Defizit wird dann durch einen besonders hohen Zinssatz umverteilt. Wir begannen mit 42 Prozent, jetzt sind wir bei 87 oder 88 Prozent und haben damit eines der höchsten Zinsniveaus der Welt. Dabei ist der Libanon kein wirklich reiches Land. Die wirtschaftliche Zahlungsbilanz ist nur stabil, weil jährlich acht Milliarden Dollar durch AuslandslibanesInnen zurückfließen. In nahezu jeder Familie arbeitet ein Verwandter im Ausland, 40 Prozent aller LibanesInnen leben außerhalb des Landes. Die Masse der Gesellschaft existiert von jenen Geldern, die ihre Verwandten überweisen, da es im Land kaum eine lokale Produktion gibt. Das konfessionelle System garantiert und reproduziert diese Klassenstruktur. Weil aber das Regime in zwei Blöcke gespalten ist, kämpft eine dritte Kraft im Libanon, wie etwa die Bewegung für die Säkularität, mit besonderen politischen Schwierigkeiten. Aber auch bei uns wird es zukünftig einen Wunsch nach Veränderung geben. Die Frage ist nur, wie sich eine Stimme entwickelt, die auch zu hören ist. Ein weiterer Faktor ist, dass der Libanon noch immer unter syrischem Mandat steht. Jeder Aufruhr bedeutet eine enorme Herausforderung für das syrische Regime, wie umgekehrt jeder nennenswerte Massenprotest in Syrien Einfluss auf die Innenpolitik des Libanons haben wird. Kurzfristig bin ich eher skeptisch, aber die Bewegungen der Region sind jung und auch die Jugend in Beirut hat begonnen zu demonstrieren. Das Problem liegt nicht darin zu beginnen, sondern einen Ausdruck zu finden, in dem sich viele wiederfinden. Martin Glasenapp: In den siebziger Jahren gab es einen Slogan der palästinensischen Linken, der in etwa lautete: Die Befreiung Palästinas findet über die Befreiung der arabischen Hauptstädte statt. Damals bildete die palästinensische Bewegung so etwas wie die Avantgarde im arabischen Raum, heute verharren die Palästinenser ohne jede Hoffnung auf der Westbank und in Gaza. Glauben Sie, dass die arabischen Aufstände Einfluss auf die palästinensische Frage haben? Fawwas Traboulsi: Zuerst einmal, denke ich, ist bewiesen, dass der Slogan in seinem analytischen Sinn noch immer richtig, aber heute kaum noch geläufig ist. Die Allianz zwischen den USA und Israel, wie sie seit Jahrzehnten besteht, zielte anfangs nicht darauf, die Palästinenser zu brechen, sondern den Einfluss der damaligen Sowjetunion in der Region zurückzudrängen. Darüber hinaus ging es um die Kontrolle der Ölvorkommen, die wirtschaftliche Sicherheit der protegierten Sicherheitsregimes, schlussendlich um die bilateralen israelisch-palästinensischen Verhandlungen. Daraus resultierte die Vorstellung der PalästinenserInnen, es sei möglich, Palästina unabhängig von den politischen und sozialen Bedingungen in den angrenzenden arabischen Ländern zu befreien. Die palästinensische Führung machte dann ihren schwersten Fehler, als sie es zuließ, dass durch die Oslo-Verträge die politische Verbindung zu den angrenzenden arabischen Ländern gekappt wurde. Ein anderer Punkt ist eher praktischer Natur: Der Niedergang der autoritären Regime ist ein Verlust für die israelische Politik. Das zeigt sich in der Reaktion auf das Verschwinden Mubaraks, aber auch in der Anspannung angesichts der Proteste in Jordanien gegen den König Abdullah. Beide Länder sind Garanten der israelischen Regionalpolitik – um so mehr steht jetzt die strategische Orientierung des gesamten Raums in Frage. Ich ahne, dass sich deshalb der Kurs von Netanjahu, also seine rechte Likud-Politik, behaupten wird. Schließlich besteht die größte Herausforderung für die palästinensische Befreiungsbewegung, die alte Frage neu denken: Was heißt heute überhaupt palästinensische Befreiung? Die Debatte war verschwunden, weil unter palästinensischen Politikern die Auffassung herrschte, es könnte sich für Palästina separat etwas ändern, unabhängig davon, was in der Region passiert. Wer so denkt, betreibt bestenfalls intellektuelle Gymnastik ohne jede Verbindung zur Realität. [1] Die Mahdi-Miliz, oder Jaish al-Mahdi (JAM) ist eine schiitische paramilitärische Einheit, die im Juni 2003 von dem Geistlichen Muqtada as-Sadr begründet wurde. [2] Die Allianz 14. März ist eine prowestliche Koalition, die aus der sog. „Zedernrevolution“ hervorging, die 2005 zum Abzug der Syrer aus dem Libanon führte. Führende Gruppierungen sind das „Future Movement“ der Familie Hariri, dazu mehrere christlich-maronitische Parteien (Samir Geagea), Sozialdemokraten und kleinere konfessionelle Gruppen. [3] Die Allianz 8. März umfasst mehrere politische Parteien, die im Allgemeinen als „pro-syrisch“ gelten. Darunter u. a. die schiitische Hisbollah und Amal, Teile des christlichen Lagers (Free Patriotic Movement), dazu panarabische, pro-syrische und linke Gruppierungen. [4] Das Sondertribunal für den Libanon ist der Ad-hoc-Strafgerichtshof der Vereinten Nationen zur Aufklärung des Attentates auf den ehemaligen prowestlichen Ministerpräsident Rafiq al-Hariri am 14. Februar 2005, bei dem dieser und 22 weitere Personen getötet wurden. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse des Tribunals verorten die möglichen Täter im Umfeld der Hisbollah und des syrischen Geheimdienstes. Die Hisbollah lehnt die Legitimität des Tribunals ab und bezeichnet die Ermittlungen als ausländische und von Israel gesteuerte Einflussnahme auf den Libanon. |
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