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Andreas Exner: Kämpfe um Land Wer erinnert sich noch an die gute alte Zeit der hohen und sicheren wirtschaftlichen Wachstumsraten, eines beständigen Ausbaus von Sozialleistungen, des freien Hochschulzugangs? Wer hat noch die Zeit im Gedächtnis, als man sich um einen Arbeitsplatz keine Sorgen machen musste, und wenn man doch keinen hatte, so jedenfalls nicht wegen des Arbeitsamts. „Stempeln gehen“, das war nicht mehr als ein kurzer Besuch ohne Folgen. „Schon zehn Tage Glück“ Und wer erinnert sich noch an 1968, als viele eine Gesellschaft kritisierten, die genau dies bereit hielt: sichere Arbeitsplätze, Sozialleistungen, Wirtschaftswachstum – und doch so viel Unglück produzierte. Oder gerade deshalb. „Arbeitet nie“, „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ und „Verbietet das verbieten“, so lauteten die Parolen der Studierenden in Frankreich. Sie wollten eine Welt gewinnen, für sich und alle anderen, anstatt in einem Büro der Produktionsmaschinerie unter konsumistischer Narkose noch vor der Zeit zu enden. „Schon zehn Tage Glück“, schrieb jemand an die Mauer der besetzten Sorbonne. Arbeiter*innen erkannten im Funken, der 1968 an den Pariser Universitäten aufglühte, ihre eigene Leidenschaft für ein Leben, das so viel besser sein konnte. Etwa bei Renault: „Als Arbeiter sollten wir selbst danach streben, den Gang unserer Unternehmen zu kontrollieren. … Die Verwaltung der Industrie und die der Universität sollten von denen, die dort arbeiten, auf demokratischem Weg sichergestellt werden.“ Selbst eine Gruppe, die selten durch Rebellionen auffällt, proklamierte: „Wir Fußballer, Angehörige verschiedener Clubs der Pariser Region, haben beschlossen, heute den Sitz der französischen Fußballföderation zu besetzen. … Um den 600.000 französischen Fußballern und ihren Millionen Freunden das zurückzugeben, was ihnen gehört: Den Fußball, den die Bonzen ihnen abgenommen haben, um ihren eigennützigen Interessen als Profitschöpfer des Sports zu dienen…“[1] Ganz Italien war die 1970er Jahre über in Aufruhr, die USA erlebten einen Exodus ihrer Jugend: nach Indien, in die Kommunen, in Experimente mit Musik und neuen Lebensweisen. Dieser ungeheure Aufbruch, diese Bewegung in eine frische Zukunft zerbrach mit einem Schlag Ende der 1970er Jahre. Die eiserne Faust des Staates sperrte jene, die der Lebensdurst am stärksten antrieb, ins Gefängnis, anderswo, in Chile etwa, hatte sie schon früher Tod und Verderben über die Erneuerung gebracht, die am Horizont erblüht war. Als die US-amerikanische Zentralbank 1979 die Leitzinsen mit einem Schlag erhöhte, um die prekär gewordene Machtposition der USA zu sichern, schnellten auch die Arbeitslosenzahlen empor. Die Gewerkschaften scheuten sich im Verlauf der 1970er Jahre immer weniger, für die Belange der Lohnabhängigen einzutreten. Die Angriffe von Reagan und Thatcher zerbrachen sie und damit einen Damm gegen die neoliberale Flutwelle. Seither geht’s bergab, jedenfalls was den Zugang der breiten Mehrheit zu den Gütern und Diensten der Gesellschaft angeht. Die Hoffnung, die in „zehn Tagen Glück“ gewachsen war, wurde von einer Gesellschaft zermalmt, die nichts zulässt als Profit: Geldmachen um des Geldmachens, Kaufen um des Kaufens willen. Vor diesem Gebot verblasst jede menschliche Sehnsucht: nach Liebe, Freiheit, Ungezwungenheit. Unsere Gegenwart ist stattdessen von Schrecknissen beschlagnahmt. Wie ein Fluch lastet der Lauf der Dinge, die wir machen, auf uns. Wir hasten von Anpassung zu Anpassung: an den Klimawandel, die Krise der Finanz, den Arbeitsmarkt, an das stumme Bewusstsein all der Todesgefahren, denen unsere so genannte Zivilisation uns aussetzt. Und es ist nie genug. Musik und Müll Das Festival in Woodstock 1968 gerann zum Symbol für den unbändigen Drang nach Glück, nach weit mehr als lediglich zehn Tagen. Dieser Drang war kraftvoll, euphorisch, wie der Einbruch der Sonne in die Dunkelheit eines Verließes. Und doch trug dieser Drang seinen eigenen Hemmschuh in sich. Das dreitägige Fest der Musik war eines der ersten, das hätte Profit ziehen sollen aus der überreichen Kultur der Hippies, die Geld häufig für eine ziemlich verrückte Idee und freies Wohnen, Essen und Genießen für selbstverständlich hielten. Woodstock, von drei jungen Leuten organisiert, die eigentlich Bares sehen wollten, wurde von der Menge, die nicht akzeptierte, für „ihr Fest“ plötzlich zahlen zu sollen, gestürmt und daher wider Willen gratis. Doch auch das Leben der Hippies selbst war von einem Widerspruch durchzogen. Am Ende der drei Tage Love and Happiness stand nämlich die Tristesse eines ungeheuren Müllplatzes. Zu den Klängen eines Gitarristen, der einen unsagbar traurigen Blues intonierte, waren Berge von Decken, Kleidung, Hausrat und Verpackungen zu sehen, zurückgelassen von den Konzertbesucher*innen, die eben noch nackt und im Schlamm, in Zelten im Wald und beim Liebemachen auf der Wiese wie ein neuer Stamm von Kindern Gottes angemutet hatten. Doch waren sie mit Autos angereist, die Erdöl brauchten, lebten von den Produkten und Freiräumen einer Gesellschaft, die auf fossile Ressourcen angewiesen war. Eine innovative Wirtschaftsweise, die wirklich neue Wege aufgezeigt hätte, scheiterte schon am ersten Winter in den Landkommunen des US-amerikanischen Westens und an den Schlagstöcken der Polizei. Oberirdische Verwerfung, unterirdische Erschöpfung 1971, drei Jahre nach dem Aufbruch des Pariser Mai, vier Jahre nach dem „Summer of Love“ an der West Coast, war ein bedeutsames Jahr. Häufig erkennen Zeitgenoss*innen nicht sofort die Tragweite eines Ereignisses. Manchmal sogar erst Jahrzehnte später. Die Bewegung, die 1968 ihren Anfang nahm und die nur der Neoliberalismus einfangen und bremsen konnte, ist weit bedeutsamer als gemeinhin angenommen. Fast zeitgleich zu den Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge der Hierarchien und Normen ereignete sich jedoch auch unterirdisch eine Veränderung, die weniger bekannt ist: Die USA erreichten Peak Oil, den Höhepunkt der Ölförderung auf ihrem Territorium. Sie sind seither zu wachsender militärischer Intervention gezwungen um ihre wichtigste Ressource, Erdöl, zu sichern. Damit setzte auch der Verfall ihres Status als Supermacht ein, den die zunehmenden weltwirtschaftlichen Probleme, die bereits 1973 in die Auflösung der bis dahin geltenden relativ stabilen Weltwirtschaftsordnung mündeten, nur verstärkten, ebenso wie der Krieg gegen Vietnam. Der globale Peak Oil wurde höchstwahrscheinlich 2008 erreicht. Anders als die USA Anfang der 1970er Jahre hat die Wachstumswirtschaft nun keinen neuen Riesenquellhahn mehr parat. Während die Lebensqualität seit dieser Zeit, wie alternative Wohlstandsindikatoren illustrieren, selbst im globalen Norden nicht mehr gestiegen, teilweise sogar gesunken ist, wuchs der Warenkonsum ungeheuer. Die kapitalistische Wirtschaftsweise, deren Profitjagd, von der Konkurrenz erzwungen, letztlich alles bestimmt, was in der Gesellschaft geschieht oder nicht geschieht, kann damit nicht umgehen. Seit den 1980er Jahren wurden Sozialleistungen abgebaut, die Reallöhne gedrückt und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, weil eine Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise, wie die 68er*innen sie angezielt hatten, für immer ausgelöscht werden sollte. Deshalb erinnern wir uns der guten alten Zeit wie an einen längst vergangenen Traum. Und noch stärker verschüttet ist die Erinnerung an die 68er*innen selbst, die etwas anderes wollten als einen sicheren Job, nämlich ihr Leben gemeinsam selbst in die Hand nehmen. Unfassbar. Seit 2008 werden Sozialleistungen abgebaut, Reallöhne gedrückt und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, weil eine Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise unumgänglich geworden ist. Sie soll verhindert werden oder in eine Fortführung der Herrschaft von Menschen über Menschen unter anderen Vorzeichen umgebogen, und das um buchstäblich jeden Preis. Denn das Kapital braucht Erdöl, Erdgas, Kohle – oder Atomkraft – mit den erneuerbaren Energien hat es seine Schwierigkeiten: ihr Aufkommen schwankt, sie sind nicht leicht zu speichern und zudem teuer. Daher kommt der Zwang zum Wachstum, der den Kapitalismus auszeichnet, erst voll zur Geltung, sofern es billige Energieträger gibt, die in ständig erweitertem Ausmaß nachgeliefert werden. Nach Peak Oil wird Energie teurer und schließlich knapp: es ist nicht genug für alle Konsumansprüche da. Vor allem nicht für den Konsumanspruch des Kapitals, das für weiteres Wachstum auch mehr Energie benötigt. Woodstock in Ägypten Nachdem der „unterirdische Wald“ des Erdöls, das ja über lange Zeiträume eingefangenes Sonnenlicht darstellt, von dem wir eine historisch extrem kurze Zeit lang zehren, indem wir es verbrennen, quasi zur Hälfte abgeholzt worden ist, kommt nun der „oberirdische Wald“ an die Reihe, und zwar wortwörtlich. Die Landfläche wird erneut entscheidend. Man braucht wieder Biomasse, jetzt allerdings nicht vorrangig um Häuser zu beheizen, sondern um Millionen und Abermillionen von Autotanks zu befüllen, die das Leben in den wachsenden Städten dieser Erde zum tödlichen Parcours, zumindest aber zu einem lärmenden Stressinferno machen und ganze Landschaften mit ziellosen Asphaltgeraden zerstückeln. Eine auch nur annähernd vollständige Deckung des Bedarfs dieser Flotte mit biogenen Kraftstoffen ist unmöglich. Allerdings hält das die Staaten und Wirtschaftslobbyisten des globalen Nordens nicht davon ab, Mais, Zuckerrohr, Palmöl oder Soja für den Tank der reichen Konsument*innen statt für den Teller der wachsenden Zahl an Hungernden vorzusehen. Kämpfe um Land setzen ein, wenn sich die Grenzen der systematischen Maßlosigkeit kapitalistischer Wirtschaftsweise hart bemerkbar machen. So hart, dass die Luxusansprüche der einen, mit gutem Gewissen weiter Auto zu fahren, den Klimawandel zu bremsen und dennoch zu prosperieren, sich ökologisch zu präsentieren und gleichzeitig Profite zu machen, die Überlebensansprüche der anderen durchstreichen. Sie bekommen von einem Tag auf den nächsten nichts Essbares mehr in den Magen. Dabei ist „Land“ im Doppelsinn zu verstehen: einerseits als handgreifliche Fläche, andererseits als die Früchte, die ihr entsprießen und die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung vom Markt oder vom Staat verteilt werden. Denn um die Früchte und deren Verteilung geht es. Sie ist in einer Klassengesellschaft umkämpft. Menschen, die lange hungern, wehren sich kaum noch. Menschen, die wenigstens einigermaßen ausreichende Nahrung gewohnt sind jedoch revoltieren, wenn der Preis ihrer Existenz, also das, was sie für Nahrungsmittel zahlen müssen, mit einem Mal in den Himmel ungeahnter Vermögenszuwächse schießt, während sie sich dem Abgrund des Hungers gegenübersehen. Die Unruhen in der arabischen Welt sind nicht zuletzt dem Anstieg der Lebenshaltungskosten in den letzten Jahren geschuldet. Steigende Energiepreise brachten nicht nur das Kapital und sein Wachstum in Bedrängnis, sondern schlugen sich auch auf die Kosten der modernen Landwirtschaft, die Energie fossiler Herkunft in großem Maß verschlingt. Schon seit Längerem war in Ägypten der Widerstand gegen die Ausbeutung in den Betrieben und die Repression des Staates angewachsen, allerdings brachten die steigenden Nahrungsmittelpreise das Fass zum Überlaufen. Die Revolte kondensierte am Tahrir-Platz. Die Kommentator*innen waren ratlos. Man sprach von Machtvakuum. Man zeigte sich erstaunt über die Fähigkeit der Ägypter*innen, sich selbst zu organisieren. Eine Journalistin auf Al Jazeera rotierte um die Führer, die es nicht mehr gab und die Führer, die westliche Führer gerne hätten. Ja, wo waren sie, die Führer? Neben Machtvakuum war Woodstock das zweite Wort, das auf Al Jazeera die Runde machte. Jemand twitterte: die Leute am Tahrir-Platz helfen einander, jemand bringt Brot und verteilt es, eine unglaubliche Atmosphäre der Verbundenheit, es ist Woodstock in Ägypten. Westliche Medien waren rasch bei der Hand mit einer Deutung: es gehe um Demokratie. Davon war freilich in den Aussagen der Revoltierenden selbst nichts zu hören. Sie wollten vom Staat in Ruhe gelassen werden, keine Gebühren mehr für Bildung zahlen, endlich ein gutes Gesundheitswesen. Demokratie? Darum ging es, in dem Sinn jedenfalls, dass Menschen ihre Stimme bei einer Wahl abgeben, sicher nicht. Es war der Drang nach Freiheit, der sich äußerte. Auch das ägyptische Woodstock freilich ist von einem Widerspruch geprägt. Wie schon die 68er*innen vor ihnen orientieren sie sich an den trügerischen Verheißungen des fossilen Zeitalters. Auch eine demokratische Regierung wird Ölquellen nicht mehr zum Sprudeln bringen. Ägypten, welch Zufall, erreichte seinen Peak Oil 1995. Noch in den 1960er Jahren Selbstversorger bei Nahrungsmitteln, muss es inzwischen nicht nur Öl, sondern auch Nahrung importieren. Die Armut wuchs und ebenso der Schuldenstand. Wie kommt man nach Woodstock ohne Auto? Die Unruhe in Ägypten, selbst durch den Umsturz in Tunesien angefacht, hat weitere Revolten in anderen arabischen Ländern ausgelöst. Zwar ist der Ausgang der jüngsten Welle der Rebellion noch ungewiss. Eines jedoch ist klar: Wenn Erdöl knapp wird, Energie und Nahrungsmittel sich verteuern, kommen die Regime im Mittleren Osten in Bedrängnis. Was wenigen klar ist: dies gilt auch für allfällige demokratische Nachfolgeregierungen. Damit müssen früher oder später auch die USA und die EU erneut durch die Macht des Faktischen erkennen: sie befinden sich in einer Sackgasse fossiler Außenabhängigkeit. Der Ruf nach Befreiung ertönt wieder lauter. Er muss erst noch die ihm entsprechenden Instrumente, Melodien finden um sich orchestrierend auszudehnen. Der undifferenzierte Schrei der Vielen, der Zorn gegen ein Leben, das unterdrückt und in Angst und Sorge gestürzt wird, das so viele Potenziale unrealisiert verkommen lässt und der sich in den Revolten ausdrückt, öffnet erst einmal einen Raum für etwas Neues. Dieses Neue entsteht schon dort, wo die Vielen sich versammeln, am Tahrir-Platz etwa, der wie ein großes Gemeingut wirkte, ein Raum wechselseitiger Unterstützung, aufgebaut in Solidarität gegen die Herrschenden. Ebenso in den vielen feinen Kanälen des alltäglichen Lebens und der Lösung seiner Probleme in einer Situation, wo die Ordnung der Herrschaft in Unordnung gerät und sich daher eine andere Ordnung der Solidarität herausbilden kann. Die Kämpfe um Land werden nicht nur in Ägypten, sondern ebenso im Widerstand gegen die globale Landnahme fühlbar, die 2008 eingesetzt hat um Nahrung und Bio-Energie für den Norden und die Schwellenländer, aber auch den Mittleren Osten, zu sichern. Auch dort geht es um Gemeingüter an Land, die etwa in Afrika noch große Flächen einnehmen und in Gemeinschaft verteidigt werden. Und auch dort entstehen vorderhand einmal Fragen, die erst Antworten finden müssen. – Stell Dir vor, es gibt Woodstock und keine Autos fahren dorthin. E-Mail: andreas.exner@aon.at *) Dieser Text ist ein Auszug aus der Einleitung von „Kämpfe um Land. Gutes Leben im post-fossilen Zeitalter“ (hg. von A. Exner, P. Fleissner, L. Kranzl und W. Zittel). Der Band wird im Herbst 2011 in der Edition kritik & utopie beim Wiener mandelbaum verlag erscheinen. Er basiert auf einem Forschungsprojekt des Österreichischen Klima- und Energiefonds (KLIEN), dessen Berichte auf www.umweltbuero- klagenfurt.at/sos einsehbar sind. [1] Beide Zitate mit Quellenangaben in http://de.wikipedia.org/wiki/Mai_1968 (3.5.2011) |
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