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Peter Birke: Auf der
Reise durchs Immaterielle. Inmitten des Strudels, durch den die LeserInnen am Ende der Trilogie von Negri und Hardt zu rudern gezwungen sind, wird „ein Mann namens Mohammed“ vorgestellt, der in Monrovia / Liberia „über mehrere tausend Männer verfügt haben soll“, die er für „eine Vielzahl unterschiedlicher informeller Jobs beliebig einsetzen kann“: „An einem Tag schickt er die Leute in eine illegale Diamantenmine im Südosten Liberias, am nächsten Tag entsendet er Arbeiter für eine Kautschukplantage in einen anderen Teil des Landes; es ist auch kein Problem, zweitausend Männer irgendwo aufmarschieren zu lassen, damit sie als ehemalige Kämpfer für ein Entwaffnungs- und Wiedereingliederungsprogramm der Vereinten Nationen auftreten […] und natürlich stehen die Männer auch für militärische Operationen zur Verfügung“ (S. 159 f.).[1] Im Anschluss an die nachvollziehbare Feststellung, dass es sich hier um eine extrem prekarisierte Gruppe, sogar um eine population flottante handele, folgt fast im selben Atemzug die These, dass diese Geschichte exemplarisch stehe für den Widerspruch zwischen der Kontrolle, die den Produzenten die Verfügung über die Zeit nimmt, und der Maßlosigkeit und Entgrenzung der Arbeit (S. 160). Es ist unmöglich, dieser Behauptung (und ganz allgemein diesem Text) gerecht zu werden, es sei denn, man will sich auf eine Kritik an der einseitigen und problematischen Verallgemeinerung beschränken, die unter anderem die unmittelbare existenzielle Bedrohung ignoriert, die jenen Männern in Monrovia an ihren diversen Einsatzorten begegnet. Ersatzweise werde ich hier zunächst darstellen, wie Negri und Hardt das Ende ihrer groß angelegten Gegenwartsdiagnose gestaltet haben, also auf die Gestalt des Textes eingehen, um sodann einige fundamentale Zweifel an den Thesen zu notieren, mit denen Negri und Hardt ihre Hoffnung auf eine Erneuerung der globalen Kämpfe um Autonomie und Emanzipation illustrieren. Der fliegende Teppich Negri und Hardt schreiben nicht, sie weben. Die Fäden, an denen sie fortwährend ziehen und die sie laufend miteinander verflechten, bilden ein Netz, dass sich jedoch verselbstständigt, an manchen Stellen sogar in eine Art fliegenden Teppich verwandelt. Da insofern sowohl Unmögliches geschieht als auch der klare Bezug auf Raum und Zeit verloren geht, stellt sich von vornherein die Frage, wo dieser Teppich landen wird, und wie die Sache an ein Ende kommen kann, denn es handelt sich hier ja um das Ende einer Trilogie. Was sind die letzten Dinge, was sollte nach Meinung der Autoren definitiv gesagt werden? Um es gleich zu sagen: Eine Antwort scheint auf Grundlage der Textgestaltung, die auch eine inhaltliche Ordnung impliziert, unmöglich zu sein. Aber schon in formaler Hinsicht deutet sich an, dass es um alles geht, aber dass alles gar nicht (oder noch nicht) ausgesprochen werden kann. Es folgt eine rasende, wühlende Kreisbewegung durch Geschichte und Gegenwart. Der Text verselbstständigt sich und macht einen Gleitflug über die analytischen Ebenen und das Gebirge der Praxis hinweg. Das Buch, das von Atzert und Wirthensohn kongenial übersetzt wurde, enthält sechs Kapitel: über die Republik, die Moderne, das Kapital, das Empire, das Jenseits und die Revolution. Zwischen diesen Kapiteln sind vielleicht alleinstehende, vielleicht jedoch auch zusammenfassendeTexte eingeschoben. Um welche Sorte Text es sich handelt, das soll möglicherweise der Leser entscheiden, der jedoch möglicherweise damit überfordert sein wird. Die Knoten, durch die die verschiedenen Elemente des Buches miteinander verknüpft werden, sind Begriffe wie „Biomacht“, „Biopolitik“ und „biopolitische Arbeit.“ Diese Begriffe werden aus der Adaption einer oppositionellen sozialwissenschaftlich-philosophischen Geschichte kondensiert, deren Leuchttürme Spinoza und Foucault sind. Insbesondere der Begriff der „Biopolitik“ verweist jedoch zugleich auf die operaistische Tradition, namentlich auf die Rezeption der Marx’schen Grundrisse und insofern auf die dort im Grunde nur sehr kurz und fragmentarisch ausgeführte Idee der Entwicklung eines general intellect,[2] von dem die Autoren weiterhin vermuten, dass er den Konflikt zwischen Gebrauchswerten und den systematischen Prinzipien, durch die hindurch Kapital akkumuliert wird, auf die Spitze treiben wird. Die beschworene Figur verweist dabei zwar noch immer auf jenen historischen Sprung, der früher von der Arbeiterklasse erwartet wurde, die sich als „Klasse für sich“ politisch konstituiere und gerade dadurch an ihrem eigenen Verschwinden in der klassenlosen Gesellschaft arbeite. Dabei wird dieses Modell eines Umschlags von der Identitätsfindung zur Allgemeinbildung im letzten Kapitel des Textes einerseits auf die Queer-Bewegung, auf migrantische Kämpfe und letztlich auf das Universum der sozialen Kämpfe in Gänze bezogen. Aber andererseits wird vermutet, dass diese Kämpfe Ausdruck der Produktion jener „commons“ seien, die in einer Sphäre produziert würden, die bereits heute nicht mehr innerhalb des Kapitalverhältnisses zu suchen sei, sondern nur noch „parasitär“ fremdangeeignet würde.[3] Für Negri und Hardt sind wir angesichts der dominanten Bedeutung dieser produktiven „Biomacht“, die nicht mehr allein die Arbeit, sondern das gesamte Leben umfasst, in diesem Beruf des Verschwindens heute einen großen Schritt weiter gekommen. Als Ausdruck davon habe sich die Sehnsucht nach dem Gemeinsamen, den commons, mittlerweile verallgemeinert. Auch dies soll im Begriff der „Biopolitik“ angezeigt werden. Dabei erlaube die produktive Dynamik einer „immateriellen Arbeit“ vielfältige Übertragungen zwischen den oben erwähnten Männern von Monrovia und, zum Beispiel, den Modedesignern von Milano. Denn diese habe die Grenzen verschoben, in denen Staat und Politik, Leben und Liebe gedacht und auch gemacht werden könnten, zumal die „Produktion von Subjektivität“ ihr „eigentlicher Kern“ sei. Auf dieser Grundlage „muss sich der Horizont der Ethik neu orientieren, von der Identität zum Werden“ (S. 12). Dabei wird das Gemeinsame nicht nur angeeignet, sondern im Kontext der dominanten Figur der „immateriellen Arbeit“ auch als Kommunikation, Wissen, Sorge um den Anderen produziert: Es ist, schreiben die Autoren mit Hinweis auf Foucault, „eine andere, alternative Produktion von Subjektivität […], die der Macht nicht nur Widerstand leistet, sondern ihr gegenüber zugleich Autonomie sucht“ (S. 70). In einem interessanten Exkurs über die „Metropole“ wird schließlich ausgeführt, dass die Ablösung des Industriekapitals durch das Finanzkapital als neuem zentralem Faktor der Wertschöpfung ein Ausdruck der aktuell immer vordringlicher werdenden Bedeutung der „Externalitäten“ sei, unter denen sodann eben jenes Gemeinsame verstanden wird, das insbesondere im urbanen und urbanisierten Raum als Produkt der „biopolitischen Arbeit“ entstehe: „Die Metropole ist […] das, was für die industrielle Arbeiterklasse die Fabrik war“ (S. 270). Denn vor allem hier „wird das Kapital zu einem Hindernis für die Produktion von Reichtum“, „zu etwas dem Produktionsprozess Äußerlichen“ (S. 271). Bei Negri und Hardt fungiert der Begriffs-Ort „Metropole“ als Metapher für den Umstand, dass die „Gesellschaft als Ganze“ nunmehr „Hauptschauplatz produktiver Tätigkeit [die dort sogar im Singular stehen darf]“ sei (S. 302). Diese Metapher wird neuerdings in anderen Texten im Zusammenhang mit einer Kritik der Immobilienwirtschaft konkretisiert.[4] Die zeitlose Revolte Endgültig hat hingegen, meinen die Autoren zum Beispiel auf Seite 304, „das Kapital seine produktive Funktion“ verloren. Nicht zum ersten Male wird hier der Niedergang der „Fabrikgesellschaft“ beschrieben, das Verschwinden jenes halb geschlossenen, diskreten Raums, der Disziplin der „Normalzeit“ und der abstrakten Herrschaft der Bürokratie. Negri und Hardt beschreiben, wie es auf der Grundlage der Revolten gegen die Fabrikgesellschaft in der „signal crisis“ der 1970er Jahre zu jener aktuellen „final crisis“ gekommen sei, in der der spezifische, historische Ort der Revolte verallgemeinert werde, und sogar jenes Gemeinsame selbst sei. Sie beschreiben eine Klasse von Maulwürfen, die, dem Untergrund entkommen, nunmehr in die Position von Singularitäten versetzt sei und als solche zunehmend Potential einer Gesellschaft werde, die einerseits immanent als der Ort der Produktion und der Produktivität fungiere, andererseits dem Kapital äußerlich werde, so dass sie nur noch diese bereits sterbende Umhüllung abwerfen müsse, um ein Zusammenleben ohne Herrschaft und Unterdrückung zu etablieren. Soviel zu den Thesen. Wie werden sie illustriert, belegt, gegenüber möglicher (und längst formulierter) Kritik behauptet? Wichtig scheint den beiden Autoren zu sein, immer wieder zu jenem Bruchpunkt zurückkehren, an dem sich eine „neue Subjektivierung / Subjektivität“ zeigt. Ich habe den Eindruck, dass sich hier – wenngleich nicht explizit – die dreifache historische Erfahrung insbesondere Negris manifestiert: der Protest gegen die Politik der Kommunistischen Partei in den frühen 1960er Jahren, die Erfahrung der Arbeiterrevolten um 1969 sowie die der neuen sozialen Kämpfe um 1977. Aber es ist keine Zeit zum Verweilen: Denn tatsächlich sei der Bruchpunkt, in dem sich die „neue Subjektivität“ zeige, überall (in der Vergangenheit, seit 2.000 Jahren bereits, sogar vor der Revolution). Aber damit ist er eben auch nirgends (er ist eben „noch nicht“, etwas, das erwartet wird, gespürt, aber eben noch nicht auf die Welt gekommen ist). Das hat Folgen, auch für die Orte von 1960, 1969 und 1977, und für die konkreten historischen Erfahrungen, die wir dort finden könnten.[5] Die Autoren besuchen diese Orte, aber sie berühren sie nicht. Das kann vorteilhaft sein, aber da es nicht reflektiert und auch methodisch nicht transparent gemacht wird, bleibt es bis zum Ende dabei, dass es keine Fragen gibt in diesem Buch, nur Antworten. Der Text kommt nicht zum Punkt. Immer wieder wird angekündigt, dass der Dialog mit den Lesenden über die existenziellen Probleme, um die es hier geht, angefangen werden soll. Aber irgendwie haben die Beiden immer gerade etwas anderes vor, und es kommt niemals zu einer Verabredung. Für meinen Eindruck einer in dieser Weise entrinnenden Schreibweise spricht auch das Durcheinander, das in Bezug auf die raum-zeitliche Verortung der Hauptdarstellerin, der sich selbst biopolitisch schaffenden Multitude, produziert wird. Von dieser Multitude heißt es, dass ihre Idee sich nicht allein in einer auf Spinoza zurückgehenden Denktradition, sondern dass sie sich auch – hier wird unter anderem Linebaughs und Redikers Vielköpfige Hydra wohlwollend rezipiert – in der Praxis der englischen und amerikanischen vorindustriellen Revolutionen des 16. bis 18. Jahrhunderts gezeigt habe.[6] Es sei also eine Figur, die eine Geschichte erzählt.[7] Andererseits sei es eine Figur, die, als Trägerin der räumlich und zeitlich entgrenzten Produktion, selbst ist. Und schließlich sei es eine Figur, die noch nicht ist, sondern die – als reine Potentialität – zunehmend wird. In diesem Zirkel bewegt sich der Text: Es geht um etwas, das war, ist, nicht war, nicht ist, noch wird und so weiter. Es ist ein Strudel, aber man wird nicht hineingezogen, obwohl die Autoren nach jedem Kapitel ankündigen, dass sie, nennen wir es ruhig offen so, eine Art Rezeptur präsentieren werden: „Welche Waffen […] gewinnen den Kampf?“, fragen sie sich und die Lesenden auf Seite 374, aber am Ende, auf Seite 390, bleibt nur das Zitat eines Graffitis, das schon in den 1970er Jahren beliebt war und in dem es heißt, dass „sie [wer auch immer hier gemeint war, ist oder sein wird] durch unser Gelächter begraben werden.“ Die Katze im Dunklen In der Gegenwart sei Multitude die Vorstellung von Klasse als einer Vielheit, die keinen zentralen Ort definiert, aber Verbindungen zwischen den Kontinenten herzustellen vermag und an deren Horizont die Grenzen zwischen den diversen Formen der Arbeit, dem schöpferischen Tun und dem politischen Handeln verfließen. Ähnliche Metaphern sind in den letzten Jahren nicht nur von Negri und Hardt, sondern von einem breiten Spektrum postoperaistischer und linksradikaler Autor_innen evoziert worden, mal mehr, mal weniger poetisch, zwischen „Multitude“ und „Cyborg“. Es gibt allerdings verwandte Begriffe wie „dezentrierte Arbeiterklasse“ oder „Multiversum“,[8] die vielleicht weniger plastisch sind, aber den unschätzbaren Vorteil haben, dass sie die Sache, um die es gehen soll, weniger als zusammengesetztes, virtuell handlungsfähiges Subjekt denn als Konstellation zu begreifen versuchen, die, als solche, auf einen historischen Ort bezogen werden kann. Wie auch immer, die Arbeit an diesen Begriffen ist wichtig, zumal in ihr Widersprüche und Hierarchisierungen zur Sprache gebracht werden, die sich unter der Oberfläche der „Klasseneinheit“ verbergen.[9] Aber gerade anhand des vorliegenden Buches stellt sich die Frage, ob diese Begriffsarbeit zunehmend spekulativen oder sogar spirituellen Charakter annimmt oder ob zumindest einige zögerliche Schritte in Richtung einer forschenden Praxis unternommen werden, die die Erfahrungen und Kämpfe, um die es sich handelt, nicht nur metaphorisch besingt, sondern sich von ihnen auch überraschen und verändern lässt. Zwar verbeugen sich Negri und Hardt auch in Common Wealth immer wieder vor der Tradition des Arbeiterfragebogens und der militanten Untersuchung. Doch nirgends wird klar, wie das Training am Begriff, in dem wir uns gemeinsam mit dem intellektuellen Generalstab befinden, sich auf militant forschende Ansätze konkret beziehen ließe, zumal sämtliche vorkommenden Alltagssituationen, aber auch alle offen artikulierten sozialen Kämpfe, von den Auseinandersetzungen um den Zugang zu Wasser in La Paz, Bolivien, bis hin zu den Kämpfen in den französischen Banlieues, lediglich summarisch abgehandelt werden.[10] Dies ist, meine ich, auch ein Defizit des Begriffes selbst: Als Multitude ist „Klasse“ in letzter Instanz ein Subjekt, eben etwas anderes als eine Konstellation, obwohl es doch vernünftigerweise relational bestimmt bleiben sollte, hört es nicht auf zu zappeln, ist voller Mucken und Spitzfindigkeiten, verschwindet aus der Fabrik, treibt sich überall herum, macht was es will, und macht sich im Zweifel auch dort aus dem Staub. Für Negri und Hardt ist, kurz gesagt, die „Klasse“ der Multitude nicht durch ein Verhältnis definiert, sie entsteht nicht in einer Bezugnahme, sondern sie ist nicht-relational, verdinglicht, und sie kommt sogar als Ding zur Welt. Paolo Virno weist hingegen in seiner Grammatik der Multitude recht dringlich darauf hin, dass die Auseinandersetzung um einen festen Wohnsitz für das Monster nicht zuletzt deshalb unabdingbar ist, weil es sich durchaus nicht nur und nicht immer um einen sympathischen Zeitgenossen handeln könnte.[11] Es scheint nämlich keineswegs ausgemacht, dass das Überschießende und Unkontrollierbare, das Negri und Hardt an der Multitude so schätzen, lediglich als Stimme aus einer emanzipierten Zukunft wirken wird – zum Beispiel könnte es ja auch ein Geräusch aus einer schrecklichen Vergangenheit sein. Denn sind Pogrome nicht auch Akte, die von einer Multitude veranstaltet werden können? Kommt es nicht mehr darauf an, worum gekämpft wird, sondern nur noch darauf, dass das Klassen-Ding eine Form behält, dass das Ding als solches existiert? Dass die „Multitude kein spontanes politisches Projekt ist“, sondern „eines der Organisierung“, wie auf Seite 183 bemerkt wird, ist keine Antwort auf diese zugegeben rhetorische Frage, auch deshalb nicht, weil Negri und Hardt auf keiner der fast vierhundert Seiten des Buches einen praktischen Bezug auf die Frage der Organisation entwickeln. Aber wenn wir uns schon unbedingt auf das Revoltieren als Motor der Geschichte beziehen möchten, sollten wir doch mindestens auf jeder vierhundertsten Seite daran denken, dass non-normative actions, also Revolten, die die vielen individuell eingeschliffenen Alltagsroutinen ebenso neu definieren wie die institutionellen Grenzen der Politik, eine historische Ausnahme darstellen.[12] Sie markieren die Dynamik einer Situation, in die wir, ob als Generalstab oder als Fußvolk, nur situativ eingreifen können. Ein Eingreifen im engeren, technischen Sinne, ein organisatorisches oder organisierendes Eingreifen verstetigt hingegen die Revolten und legt sie zugleich still. Wie sich diese Ambivalenz jeweils konstituiert, ist eine Frage der Untersuchung, hingegen kann der Aufstand so oder so keinesfalls evoziert werden. Deshalb muss das Problem der Ambivalenz, der verschiedenen Register, die die Revolten ziehen und bedienen müssen, müssen ihre Vielsprachigkeit, Uneindeutigkeit, Mißverständlichkeit und ihr umkämpfter Charakter selbst dort berücksichtigt werden, wo es um Aktionen geht, mit denen wir zutiefst sympathisieren und deren Verallgemeinerung und Ausdehnung wir erträumen. Beispielsweise hat die Revolte in Griechenland noch im Frühsommer des laufenden Jahres in der Linken eine heftige Debatte über die Frage der Militanz provoziert. Und in Athen gab es nicht nur drei tote Bankangestellte, die Opfer einer verselbstständigten, sorglosen und ritualisierten Demonstrationsgewalt waren, sondern auch eine, wenngleich verhältnismäßig schwache, rechtsextreme Präsenz in den Protesten gegen die Austeritätspolitik. All das änderte nichts daran, dass wir diesen Aufstand für die Ouvertüre zu einer kommenden, europäischen Situation hielten (die sich vielleicht in der Wirklichkeit aktuell im Maghreb findet, mit all ihren großen Hoffnungen und blutigen Ambivalenzen). Und möglicherweise meinten wir sogar, wir hörten – in dem Protest gegen die Polizeigewalt von 2009, den Aufständen gegen das Zerschlagen sozialer Ansprüche von 2010, dem oft erfolgreichen Versuch, Freiräume inmitten der kapitalistischen Gesellschaft zu konstituieren – tatsächlich eine Stimme aus der Zukunft. Aber dennoch wird von dem, was die Geschichte auch dieser Revolte sein wird, nichts Substanzielles bleiben, sondern lediglich die Erinnerung an eine Artikulation, an eine spezifische historische Situation, in der die sozialen Verhältnisse und Konflikte zum Ausdruck gebracht worden sind und damit offen lagen. Die Bezugnahme, die auf dieser Grundlage in den kommenden Kämpfen möglich ist, ist eine, die die Potentiale der Befreiung sichtbar macht, die dort ausgesprochen worden sind, eingebettet in ein Kräftefeld, in dem gleichwohl auch ernsthaft von Gefahren und Katastrophen zu sprechen ist, von der Präsenz der Konterrevolution. Für Negri und Hardt sind die Revolten dagegen wie Katzen im Dunkeln, sie sind alle grau, und es scheint Aufgabe der Analytiker zu sein, sie bunt anzumalen. Überall dort, wo es im Text um historische und aktuelle soziale Konflikte geht, fehlen empirische Merkmale, konkretes Handeln, jegliche spezifische Position, die Revolten haben in der Tat keinerlei Verbindung miteinander, sind nur „potentiell“, und sie stehen ganz allein auf der großen Bühne dieser „anderen“ Weltgeschichte. Es sind leere Subjekte, ohne Eigenschaften. Die laufenden Beschwörungen sind in Bezug auf die wirkliche Bewegung wirklich unpassend, während sie dem monströsen Charakter des Textes angemessen zu sein scheinen: Es geht um die Anrufung eines Geistes. Ähnlich verhält es sich mit der Auseinandersetzung um die Veränderungen innerhalb der Produktion. Der immaterielle Soldat Die These von der wachsenden Dominanz der „Immaterialität“ innerhalb des Arbeits- und Verwertungsprozesses ist häufig hinterfragt worden. Deshalb beschränke ich mich hier auf das zu Beginn gegebene Beispiel jenes Arbeiter-Schwarms, den jener Mann in Monrovia „beliebig“, wie es heißt, in die Diamantenminen oder den Krieg ziehen lassen kann. Auf derselben Seite, auf der diese hässliche Geschichte einer absoluten Unterwerfung und potentiellen Vernichtung der Soldaten-Arbeitenden geschrieben wird, erklären Negri und Hardt, was die wesentlichen Inhalte der heutigen Produktivität (und ihrer systemfeindlichen Potentialität) seien: „Gedanken und Bilder verfertigen, Affekte hervorbringen“ (S. 161). Es wird dabei nicht näher erörtert, was die armen jungen Männer von Monrovia auf ihrer Reise in die Mine verfertigen und welche Affekte sie an der Front produzieren. Sicher scheint mir allerdings, dass ihr Beispiel von der obschon verbesserungswürdigen Idylle, die die Tätigkeit eines Grafikers im Hamburger Schanzenviertel (oder eines Redakteurs einer akademischen Zeitschrift) umgibt, sehr weit entfernt liegt. Letztlich trägt die These die Schwäche in sich, dass sie ebenso unspezifisch argumentiert wie jene ungeheure Multitude zu kämpfen scheint.[13] Zwar lassen sich solidarische Beziehungen lediglich in Bezug auf das Gemeinsame herstellen, aber nur insofern es nicht allein als Begriff fungiert. Mit der Kritik an der mangelnden historischen Verortung jener „Immaterialität“ möchte ich nicht suggerieren, dass eine andere Dominante im der Welt der bezahlten und unbezahlten Arbeit näher liegt als jene, die Negri und Hardt evozieren. Doch die wesentlichen Merkmale, mit der „Immaterialität“ assoziiert wird, sind nicht einmal für den kleinen Ausschnitt der aktuellen Arbeits- und Lebensverhältnisse hinreichend oder charakteristisch. Karl Reitter konstatiert in diesem Zusammenhang zurecht, dass „dort, wo Arbeitsverhältnisse tatsächlich exakt analysiert werden, (…), alle jene mit Euphorie vorgestellten Kategorien seltsam absent“ sind.[14] Die politische Konstituierung der Weltarbeiterinnenklasse verläuft nicht linear, gehorcht keinem Stufenmodell, sondern ist Resultat der verstreuten und ungleichzeitigen Artikulation der Revolten, die sich mit der widersprüchlichen Gestaltung der weltweiten Arbeitsteilung verbinden. Das bedeutet, dass Konflikte nicht erst im Verlauf der Revolte entstehen. Allerdings werden sie in derselben, wie erwähnt, artikuliert. Es mag zum Beispiel sein, dass die Massenkämpfe in Frankreich und Italien Ende der 1960er Jahre, diese Eruptionen mit ihren vielen Millionen Beteiligten, dem Fordismus in Westeuropa die Totenglocken geläutet haben. Aber die Fabrik – und da würden Negri und Hardt sicher zustimmen – war immer eine durch vielfältige soziale Antagonismen geprägte Einrichtung, und Ford’sche wie Taylor’sche Strategien waren seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Versuch, eine migrantisch geprägte Schicht von Massenarbeiter_innen zu disziplinieren – also eine Reaktion auf eine, mitunter latente, mitunter offene Alltags-Opposition. Auch in der Bundesrepublik begann die Revolte gegen das Fließband nicht am 20. August 1973, als ein türkischer Arbeiter in den Fordwerken in Köln-Niehl „Schluss jetzt!“ rief (was in den paar Wochen darauf die Presse und seitdem die Forschung in Atem hielt), sondern zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre vorher, als ein ganz anderer, namentlich nicht bekannter Arbeiter einen Schraubenschlüssel in das Band warf, um sich eine Zigarettenpause zu gönnen. Das bedeutet aber auch, dass die chinesischen Bauern-Arbeiter_innen, die in einem aktuellen Buch von Pun Ngai und anderen zum Sprechen gebracht werden,[15] einen ähnlichen Kampf um die Autonomie der Migration und gegen die Ordnung der Fabrik führen, während dieser Kampf aber zugleich etwas gänzlich Neues darstellt. Im Bild einer Verallgemeinerung immaterieller Produktivität verschwindet diese Spannung zwischen Analogie (als Aktualisierung anderer historischer Erfahrungen) und Konstitution (als Bestimmung des je spezifischen Konflikts), der die sozialen Kämpfe meines Erachtens stets strukturiert. Negri und Hardt richten den Blick auf die Veränderung der Arbeitsprozesse sowie die Bewegungsformen der Arbeitenden. Das ist sehr wichtig. Doch eine konkrete Bezugnahme zwischen diesen entsteht nicht wesentlich auf der Grundlage einer neuen Stufe der Produktivität, die sich wie ein Automat verselbstständigt und dem Kapital über den Kopf wächst. Wie Negri und Hardt selbst immer wieder betonen, ist das jeweils Neue mit einem Traum von persönlicher und kollektiver Autonomie verbunden, und es steht in einem gegensätzlichen Verhältnis zu einer Gesellschaft, die durch die Inwertsetzung des Lebens, der Arbeit und dessen, was Negri und Hardt als das Gemeinsame bezeichnen, geprägt ist. Veränderungen werden jedoch auf der Grundlage biographischer Erfahrungen, durch antagonistisches soziales Handeln angestoßen, zu dem auch und noch immer das Anhalten und Aufhalten der kapitalistischen Maschinerie gehört. In diesem Handeln geht es eher um den Protest gegen persönliche Versehrtheit und für menschliche Solidarität und Würde als um einen undurchdringbaren Produktivismus, gleichgültig, ob dieser nun als emanzipatorisch gedacht wird oder nicht. Es handelt sich also nicht um eine bloße Technik, die erlernt werden kann, nicht einmal um eine soziale Technik, es geht um keine bestimmte Form der Assoziation, um kein Potential und kein Produkt, sondern um eine Möglichkeit, die plötzlich aufscheint und den Blick auf den Horizont öffnet: Das „Glück“, von dem Negri und Hardt auf S. 383 f. sprechen, ist immer zum Greifen nahe, aber es ist auch immer etwas Neues, wenngleich es sich an einigen Punkten der Geschichte verdichtet, an denen die Gelegenheit besteht, sie ausgehend von den sozialen Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerungen zu erzählen. Die Aufzeichnung beispielsweise der Geschichte von Xin, die Pun Ngai und Lu Huilin in Heft 4 (2010) von Sozial.Geschichte beigetragen haben,[16] und die Vermittlung von ähnlichen Erfahrungen gehören zu den Voraussetzungen dessen. Die Konstellationen, in denen solche Geschichten multipliziert werden, können jedoch nicht artifiziell produziert, sondern lediglich analysiert werden. Die „Produktivität der Multitude“ erscheint bei Negri und Hardt hingegen als etwas, das den Prozess der Produktion in eine politische Praxis verwandelt, insofern Letztere produktives Wissen, Analyse und Konstitution miteinander kurzschließt. Selbst das Schreiben wird als unmittelbarer Teil einer Praxis der Revolte verstanden. Es ist durchaus zu befürchten, dass jener Lenin, der sich im Laufe des Textes auffällig häufig verabschiedet (S. 98, 102, 128, 189, 253, 306, 310),[17] vermittels der Vorstellung einer solchen Unmittelbarkeit durch die Hintertür wieder den Raum betreten wird. Zumindest könnte sich in diesem Raum eine selbst ernannte Avantgarde frei bewegen, weil sie sich nicht mehr um die banalen Probleme der Vermittlung und der Repräsentation scheren muss. Aktivierung und Erlösung Der Produktivismus, ein alter Hut der Arbeiterbewegung, den lange kaum jemand aufsetzen mochte, verwandelt schließlich auch die Sicht auf die Eigenschaften, die sich die immateriell und entgrenzt Arbeitenden aneignen: Selbstorganisation, Selbstregierung und Selbstherrschaft erscheinen in Common Wealth einerseits (vom Standpunkt der Produktivität aus betrachtet) als „Externalitäten“, andererseits (vom Standpunkt der Multitude) als das „Gemeinsame“: „Zur für die biopolitische Produktion erforderlichen Freiheit gehört auch das Vermögen, soziale Beziehungen aufzubauen und autonome gesellschaftliche Institutionen zu schaffen. Eine mögliche Reform, um solche Fähigkeiten zu entwickeln, ist die Einführung von Mechanismen partizipatorischer Demokratie auf allen Regierungsebenen, damit die Multitude gesellschaftliche Kooperation und Selbstregierung lernen kann“ (S. 318). An dieser Stelle des Textes verwandelt sich das ungeheure, monströse, exzessive, vielarmige Wesen, das an unzähligen anderen Stellen des Textes in einer faszinierenden Sprache skizziert wird, für einen Moment in den Teilnehmer einer Bildungsmaßnahme, eines Trainings oder einer Therapie. Den Satz, dass „Demokratie etwas ist, das man nur by doing lernen kann“ (ebd.), würde auch die Grüne Jugend oder die Junge Union unterschreiben. So fungiert ja die Inwertsetzung sozialer Beziehungen und territorialer Positionen heute in der Metropole nicht zuletzt vermittels einer solchen, instrumentell angelegten Partizipation. Zwar ist es richtig, die (übrigens nicht mehr ganz so neuen) Techniken der Selbstregulierung als „Nadelöhr“ zu betrachten, in dem und denen gegenüber Kollektivität sich erst herstellen muss. Aber gerade aus dieser Sicht erscheint es notwendig, eine Kritik der Partizipation in ihren konkreten Ausprägungen zu formulieren, eine Kritik, die diese Ausprägungen auch als Formen der Fremdaneignung und Herrschaft zu begreifen vermag – und nicht lediglich als Produktivkraft, die es zu „trainieren“ gilt. Und vielleicht sollte auch nicht darauf gehofft werden, dass systemimmanente Formen der Selbstermächtigung letztlich dazu beitragen werden, dass sich das System als solches als „unsinnig erweist und in sich zusammenfällt“ (S. 316). Es passt zwar zum Programm des Campus-Verlags, der ansonsten mittlerweile sehr viel betriebswirtschaftlichen Unfug veröffentlicht, allerlei „Hemmnisse der Autonomie der Arbeit“ bekämpfen zu wollen (S. 318). Dennoch muss gesagt werden, dass partizipatorische Regimes, unabhängig davon, ob sie gegenüber SGB-II-Empfänger_innen oder Automobilarbeitenden in Anschlag gebracht werden, einerseits vielfach zur Eindämmung der Artikulationsmöglichkeiten der Betroffenen beitragen, andererseits nicht erst aktuell werden, wenn „die Akkumulation von Macht und Fähigkeiten die Schwelle überschreitet“ (S. 320). Die Verdrängung von Oppositions- und Widerstandspotentialen, die die aktuelle Krise in der Bundesrepublik bislang kennzeichnet, hat meines Erachtens nicht nur, aber auch damit zu tun, dass das Selbstregieren in der Entwicklung der Städte ebenso wie auf dem Arbeitsmarkt im Norden Europas weiter entwickelt ist als in anderen Weltregionen. So nutzt der Hinweis darauf, dass die Multitude sich im Jubeljahr „selbst regieren wird“ (ebd.), denen nicht viel, die heute dazu verdammt werden, in den endlosen Schleifen der „aktivierenden“ Bürokratie an solchem „Totengraben“ teilzuhaben. Negri und Hardt unterscheiden systematisch zwischen „Opposition“ und „Subversion“, wobei sie offenbar „nicht oppositionellen und subversiven [= an die Immanenz des dezentrierten Regierens anknüpfenden, P. B.] Reaktionen“ den Vorzug geben (S. 379). Das mag richtig sein, es ist eine Geschmacksfrage, und auch die mit dieser Setzung einhergehende Abgrenzung gegenüber einer „Gegenmacht, die den bestehenden staatlichen Strukturen entspricht“ (S. 378) wird ja ganz zu recht von vielen Autorinnen geteilt, die das Schicksal der traditionellen, verstaatlichten Arbeiterbewegung kennen. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Hoffnung, dass mit der „Subversion“ kein Staat gemacht werden kann, vor dem Hintergrund der eben angedeuteten Erfahrungen mit dem „aktivierenden“ Staat berechtigt ist. Alles in allem treibt Negri und Hardt nach wie vor das Bedürfnis um, neu anzufangen. Das ist nachvollziehbar, ebenso wie die Forderung nach einer sozialen Bewegung, die durch einen kritischen Umgang mit identitären Kämpfen um Arbeit, Geschlechterverhältnisse und Migration gekennzeichnet ist. Die von den Autoren erhobene Forderung nach „Intersektionalität“ kann vielleicht ein Ausgangspunkt für eine Suche nach einer solchen nicht-identitären Bewegung sein. Doch allzu dringlich bestehen die Autoren auf dem Positiven, das einen solchen Neuanfang zu prägen hätte: „Natürlich sind den Menschen die voll ausgebildeten Fähigkeiten, sich selbst zu regieren, Konflikte zu lösen, dauerhafte, beglückende Beziehungen einzugehen, nicht angeboren, aber in uns allen steckt ein Potential zu all dem“ (S. 384). Wieder und wieder wird erklärt, wie dieses Potential entwickelt, eingeübt, trainiert werden müsse: „Es handelt sich um die Erkenntnis, dass Menschen erziehbar sind“ (ebd.). Unermüdlich wird davor gewarnt, dass es sich um einen schwierigen Wandlungsprozess handle. Ungebrochen bleibt die Hoffnung, dass es jetzt, endlich, um nichts weniger gehe als um die „Abschaffung der Familie und der Nation“. Und nichts hält die Autoren davon ab, weiterhin zu verkünden, dass jetzt, endlich, die „Revolution auf der Tagesordnung“ stehe, ein Prozess, in dem „wir schrecklich zu leiden haben, aber […] gleichwohl vor Freude lachen [werden]“ (S. 390). Am Ende der Trilogie gibt es zu viele Engel und Teufel, zu viel Inferno und Paradies, zu viel Erlösung und Verdammnis, Ungeheuer und Wolken, Rauch und Rauschen – zu viel Beschwörung, und zu wenig Ironie. E-Mail: Pbirke@stiftung-sozialgeschichte.de [1] Michael Hardt / Antonio Negri, Common Wealth. Das Ende des Eigentums. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Campus: Frankfurt am Main u. a. 2010; in Klammern gesetzte Seitenzahlen verweisen im Folgenden auf diesen Text. Der vorliegende Text ist eine leicht überarbeitete Fassung einer Rezension, die in Heft 4 (2010) der Zeitschrift Sozial.Geschichte Online erschienen ist: vgl. [http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=23701] (alle Downloads im Folgenden: 20.2.2011). [2] Hier heißt es, dass die Entwicklung des fixen Kapitals anzeigt, „bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen […] zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen worden sind“, Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin/DDR 1974, S. 594. Während Marx im Maschinenfragment der 1850er Jahre schrieb, dass „Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc.“ sowie der „gesellschaftliche Lebensprozess“ als solcher Ausdruck eines „allgemeinen gesellschaftlichen Wissens“ seien (und insofern durch das Kapitalverhältnis und die durch ihn hindurch sprechenden Herrschaftsverhältnisse vermittelt), gehen Negri und Hardt in den 2010er Jahren davon aus, dass sich dieses Wissen (die „sozialen“ commons wie Wissen, Sprache, Codes, Informationen, Affekte) ebendiesem Kapitalverhältnis in der Realität des Postfordismus bereits entwunden haben. Marx‘ Fragment ist hier allerdings ebenso vielseitig zu interpretieren wie andere Heilige Schriften. Die dem zugrunde liegende Genealogie betont Karl Reitter in grundrisse 35, indem er darstellt, wie der Bezug auf Spinoza in Common Wealth unter anderem die Funktion hat, die „Formproblematik bei Marx zur Seite zu schieben“: Karl Reitter, Produktivität als Autonomie. Zum Abschluss der Trilogie Empire, Multitude, Common Wealth von Antonio Negri und Michael Hardt, in: grundrisse 35 Seite 35-43. [3] Vgl. hierzu die Kritik am Begriff der „immateriellen Arbeit“ (und den Hinweis auf das „Recyclen“ operaistischer Entwürfe) in der Rezension von Christian Frings, Common Wealth – Glaube, Liebe, Hoffnung, in: analyse und kritik 549 (2010), S. 25. [4] Vgl. hierzu: Sandro Mezzadra / Andrea Fumagalli (Hg.), Die Krise denken. Finanzmärkte, soziale Kämpfe und neue politische Szenarien, Münster 2010, wo die „Externalitäten“ als Dreh- und Angelpunkte gesehen werden, aus denen heraus die Finanz- und Wirtschaftskrise sowohl theoretisch begriffen als auch als Ausgangspunkt einer politisch-organisatorischen Alternative gedacht werden kann. Wie bei Negri und Hardt werden die sozialen Kämpfe dort als „metropolitan“ gekennzeichnet, allerdings wird der empirische Gehalt dieser Setzung hier wie dort (zumindest noch) kaum ausgeführt. Vgl. auch die Rezension von Bart van der Steen in der kommenden Ausgabe von Sozial.Geschichte Online, d.i. Heft 5 (2011), erscheint im Mai (wie Anm. 1). [5] Karl Reitter kritisiert an dieser Stelle auch die mittlerweile weit verbreitete These eines bruchlosen Übergangs von den Revolten der 1968er Jahre vermittels der Aufnahme der „Künstlerkritik“ als aktuelle Dominante der urbanen kapitalistischen Verwertung: „Im Grunde vertreten Negri und Hardt die These von Boltanski und Chiapello, die von der Verwirklichung der Bedürfnisse der 68er Revolte im Postfordismus ausgehen.“ Es sei, dieser Kritik zustimmend, darauf hingewiesen, dass Boltanski und Chiapello die Reformen des Arbeitsprozesses insoweit untersuchen, als dass sie sich in der Managementliteratur auffinden lassen. Diese allerdings war bereits vor 1968 durchaus (im sozial-technischen Sinne) fortschrittlich eingestellt und repräsentierte zudem stets eine Art kapitalistische Utopie (auch im Taylorismus). Dass sich das dieser Utopie zugrunde liegende Menschenbild gewandelt hat, ist sicherlich auch der Revolte geschuldet, allerdings spricht diese, wie Negri und Hardt selbst noch im Motto des Anfangs des ersten Bandes ihrer Trilogie zum Ausdruck brachten, unter einem anderen Namen: Antonio Negri / Michael Hardt, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main u.a. 2002, S. 9. [6] Peter Linebaugh / Marcus Rediker, Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Berlin / Hamburg 2008. In englischer Sprache: dies., The Many-Headed Hydra. Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History of the Revolutionary Atlantic, Boston 2000. Vgl. auch die Diskussion des Buches in Sozial.Geschichte Online, Heft 2 (2010): [http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-24054/08_birke_henninger.pdf], sowie in Heft 3 (2010): [http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=22626]. [7] Frings kritisiert aus meiner Sicht zurecht, dass gerade der Bezug auf die „Hydra“ verdeutliche, wie Negri und Hardt letztlich darauf verzichten, einen rebellischen Diskurs „von unten her“ (d.h. auf der Grundlage der Arbeit an der Geschichte der Klassenkämpfe) „zu rekonstruieren“. Common Wealth, so Frings „(beschwört) seitenweise die intellektuelle Kreativität der Multitude“, bezieht „seine eigenen Ideen aber durchgängig aus der Interpretation von und in Zwiesprache mit den bürgerlichen Helden der Philosophie.“ Frings, Common Wealth, (wie Anm. 3). [8] Vgl. zum Beispiel: Karl Heinz Roth, Die globale Krise: Bisheriger Verlauf – Entwicklungstendenzen – Wahrnehmungen und Handlungsmöglichkeiten von unten, in: Sozial.Geschichte Online, Heft 2 (2010), [http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-24053/07_roth_krise.pdf]. [9] Dies betonte 2005 etwa Max Henninger, Befreiung der Körper. Zu Antonio Negris Neubestimmung des Revolutionären Subjekts, in: Arranca 33: [http://arranca.org/ausgabe/33]. Zahlreiche weitere Texte, die denselben Ausgangspunkt haben, sind in der Vergangenheit auch in den grundrissen erschienen. [10] Reitter kritisiert in den grundrissen 33 den Mangel an (zumindest) systematischen Verweisen auf eine Empirie, der für das Buch charakteristisch sei, vgl. Reitter, Produktivität, (wie Anm. 2). [11] Dabei teilt Virno durchaus die grundlegenden begrifflichen Setzungen. Aber er kündigt folgendes an: „Furcht und Sicherheit: Hier zeigt sich ein in philosophischer und soziologischer Hinsicht relevantes Raster, ein Lackmustest, an dem sich erkennen lässt, dass in der Gestalt der Multitude nicht nur eitel Sonnenschein herrscht, und mit dem herauszufinden ist, welche Gifte in ihr wirken. Die Multitude ist eine Seinsweise, die heute vorherrschende Seinsweise. Doch wie jede Seinsweise ist sie ambivalent.“ Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, Berlin 2005, S. 14. [12] Wir können hier noch immer sehr viel von folgendem Text lernen: Frances Fox Piven / Richard A. Cloward, Poor People’s Movements. Why they Succeed, How they Fail, New York 1979 (2. Auflage), S. 6ff. [13] Auch hier stimme ich Karl Reitters Kritik zu, der konstatiert, dass hier lediglich eine Hegemonialstellung analog zum historisch-operaistischen Bild des Massenarbeiters konstruiert wird: Reitter, Produktivität, (wie Anm. 2). [14] Ebd. [15] Pun Ngai / Ching Kwan Lee u.a., Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China, Hamburg 2011. [16] Pun Ngai / Lu Huilin, Unvollendete Proletarisierung – Das Selbst, die Wut und die Klassenaktionen der zweiten Generation von BauernarbeiterInnen im heutigen China, in: Sozial.Geschichte Online, Heft 4 (2010), [http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-26032/05_Pun_Lu_China.pdf]. [17] Dies ist auch anderswo bemerkt worden, vgl. Frings, Common Wealth (wie Anm. 3). |
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